Geballte Ohnmacht

Die einen sagen: In China werden die Arbeiter ausgebeutet. Lebensbedrohliche Produktionsbedingungen, menschenunwürdige Unterkünfte, soziale Härte, Hungerlöhne, Kinderarbeit.
Die anderen: Das chinesische Wirtschaftswunder gibt Millionen von Menschen Arbeit. Es ernährt, wo bis gestern Hunger herrschte, es qualifiziert, wo es bislang keine Perspektive gab. Das Land entwickelt sich. Rasant. Ausbeutung oder Fortschritt?
Beobachtungen aus zwei Welten.




Die Geschichte beginnt im Kinderzimmer. Johannes’ batteriebetriebener roter Geländewagen: made in China. Anna-Sophies Puppe mit dem runden Babygesicht und den blauen Augen, die sie Felix getauft hat: made in China. Ebenso der große braune Plüschhund, die Plastik-Modelleisenbahn für den Garten, die Playstation, sämtliche Autos aus Plastik oder Metallspritzguss, ob Mercedes-Benz, BMW, Ford oder Volkswagen, und die Carrera-Bahn. Sogar die Kinderbibel wurde im Reich der Mitte gedruckt. China hat das deutsche Kinderzimmer erobert.

Und mehr. Wir tragen T-Shirts, Pullover und Turnschuhe aus China. Wir leben in Möbeln, die chinesische Arbeiter zusammengebaut haben. Wir kalkulieren mit chinesischen Taschenrechnern, schauen auf chinesische Flachbildschirme, besitzen massenweise Geräte, die Platinen oder Chips enthalten, die in chinesischen Fabriken verlötet wurden. Das Land im Osten ist der weltweit größte Produzent von Mikrowellengeräten und Mountainbikes, stellt mehr als die Hälfte aller weltweit verkauften Kameras her, ein Viertel aller Kühlschränke, gut zwei Drittel aller Feuerzeuge.

China erobert die Welt. Mit Heerscharen von willigen, billigen Arbeitskräften. Mit Produktionsbedingungen, die hier zu Lande unvorstellbar wären. Mit Löhnen, die den Namen aus Sicht deutscher Gewerkschaften nicht verdienen. Mit Raubbau an der Umwelt und an Leib und Leben der Menschen. Oder etwa nicht?

Beispiel Spielzeugindustrie. China ist der größte Spielwarenhersteller der Welt. Rund 10.000 Fabriken haben sich inzwischen auf das Geschäft konzentriert, allein in der südchinesischen Provinz Guangdong verdienen hunderttausende von Wanderarbeitern ihren Lebensunterhalt in mehr als 8000 Produktionsstätten.

Uwe Kleinert von der „Werkstatt Ökonomie“, in Deutschland einer der Hauptkritiker der chinesischen Spielzeugindustrie, war noch nie in China, dafür kennt der Geograf das Leid der Teppichknüpfer in Indien und Nepal. Dort hat er Kinder arbeiten sehen. Kleinert arbeitet für die Aktion „fair spielt“ und versucht, mehr Menschlichkeit in den globalen Handel mit Spielzeug zu bringen. Und dazu muss er nicht groß verreisen. „Die Zustände in chinesischen Fabrikhallen sind gut dokumentiert“, sagt er. Am heimischen Schreibtisch lassen sich zahlreiche Studien über die Arbeit im fernen Osten auf den Bildschirm laden, etwa von der in mehr als hundert armen Ländern tätigen Hilfsorganisation Oxfam International oder dem in Hongkong ansässigen regierungskritischen China Labour Bulletin. Viele Geschichten gingen um die Welt. Etwa die des Großbrands, der mitten in der Vorweihnachtsproduktion in einer Spielzeugfabrik in Shenzhen ausbrach. Die Fenster der Halle waren vergittert, die Türen verriegelt, knapp 89 Arbeiter starben, mehr als 40 wurden verletzt. Das Unglück geschah im November 1993, aber es könnte sich jederzeit wiederholen, meinen Menschenrechtsexperten in aller Welt.

Es sind Bilder wie diese, die Uwe Kleinert aufregen: In einem winzigen Raum sitzen zehn Frauen beieinander. Toilette und Kochstelle starren vor Schmutz. Müde Gesichter. „Die Arbeiterinnen in Spielzeugfabriken müssen bis zu 16 Stunden am Tag schuften, sieben Tage die Woche“, sagt Kleinert. Doch die Menschen arbeiten nicht nur in diesem Loch, sie wohnen auch hier. Die Baracke gehört zu einer der rund 1600 Spielzeugfabriken in Shenzhen im Süden Chinas und produziert billige Plastikfiguren. Auch für deutsche Kinder.

Ma Sanying und ihr Mann werden sich bald trennen. Die amerikanische Bekleidungsfirma J.C. Penney will es so. Sie besteht in den Arbeiterwohnheimen ihrer chinesischen Zulieferer auf strikte Geschlechtertrennung auch für verheiratete Paare. Pengda Textile, Mas Arbeitgeber, baut deshalb gerade ein graues zweistöckiges Wohngebäude für ihre 190 männlichen Arbeiter aufs Firmengelände. Mit Mann und Kind ins Nachbardorf umziehen will die 21-jährige Ma nicht. „Das Geld spare ich lieber. Wir schicken das meiste unseren Familien“, sagt sie. Neben ihr rattern Nähmaschinen, Berge halb fertiger hellblauer Hemden für die schwedische Modekette Hennes & Mauritz (H&M) türmen sich auf, H&M ist der Hauptkunde der Fabrik. Mas Arbeitsplatz ist laut und zehn Grad kühler als der feuchtheiße Pekinger Sommer draußen. „Wir haben ein zentrales Klimaanlagensystem mit amerikanischer Technik“, sagt Geschäftsführer Peng Leijian stolz. Es gebe 24 Stunden heißes Wasser und alle zwei Wochen frische karierte Bettwäsche. Pengda Textile ist kein Sweatshop und war es wohl auch nie. Die Firma wurde erst vor ein paar Jahren zwischen die Baumschulen des winzigen Pekinger Vororts Yangfang gestellt. Da gab es schon die Audits und Auflagen westlicher Firmen, die, getrieben von Kampagnen heimischer Nicht-Regierungsorganisationen (NGOs), nun bei ihren Lieferanten nach dem Rechten sehen. Deren Arbeit treibt bisweilen seltsame Blüten, wie die Zensur der in China völlig selbstverständlichen gemischten Wohnheime für Männer und Frauen. Die für Sozialfragen zuständige Managerin He Man findet das reichlich schräg. „Wir haben doch Wachleute auf jedem Stockwerk, was soll da passieren?“ Zurzeit brütet He über dem Fragebogen der Außenhandelsvereinigung des Deutschen Einzelhandels (AVE). Viele Unternehmen, darunter Otto, KarstadtQuelle, C&A, Steilmann, Metro und Peek & Cloppenburg, haben sich unter AVE-Federführung zusammengetan, um die Einhaltung sozialer Mindeststandards bei ihren Lieferanten in 15 Ländern zu prüfen. Gemeinsam, statt wie früher getrennt. Also: Bekommen die Angestellten schriftliche Gehaltsabrechnungen? Werden gefährliche Chemikalien gekennzeichnet? Sind alle Beschäftigten mindestens 15 Jahre alt? Dürfen sie das Fabrikgelände verlassen? Auf wie viele Arbeiter kommt eine Toilette? Managerin He hat sich an die Audits und Fragen gewöhnt. Besonders detailversessen sei H&M, berichtet sie trocken und zeigt auf zwei Feuerlöscher neben dem Eingang zur Fabrikhalle. „Zwei an jeder Tür, aufgehängt auf einer Höhe von 1,50 Meter.“ Drum herum haben Arbeiter eckige gelbe Linien gepinselt – der Sicherheitsabstand.

Weltweit gibt es eine Reihe von Initiativen, die sich um das Wohlergehen und die Rechte chinesischer Arbeiter bemühen – allen voran Oxfam International oder kirchliche Einrichtungen wie das Hongkong Christian Industrial Committee oder Catholic Agency for Overseas Development (Cafod). In Deutschland sind es eher kleine, wenig bekannte Gruppen, die sich für die chinesischen Arbeiter interessieren. Die Globalisierungsgegner von Attac winken mit der Begründung ab, man befasse sich mit globalen Fragen. Venro, der freiwillige Zusammenschluss von rund 100 deutschen NGOs, faxt eine Liste von Initiativen, die sich um China bemühen. Bei der sonst umtriebigen Organisation Weed verweist man auf Uwe Kleinert und Kollegen.

Zu den Organisationen, die eine Menge Fachwissen angesammelt haben, gehört Südwind – Institut für Ökonomie und Ökumene in Siegburg. Ingeborg Wick ist im Haus die Expertin für weltweiten Textilhandel. Sie kann detailliert über die Verhältnisse im Textilsektor referieren und nennt, für jeden verständlich, das Kind beim Namen: „Wenn Überstunden erzwungen sind, ist das nach internationalem Verständnis Zwangsarbeit.“ Klaus Piepel, der für das katholische Hilfswerk Misereor bei „fair spielt“ im Boot sitzt, weiß von der verbreiteten Praxis, bei der Akkordarbeit die geforderte Stückzahl so hoch zu setzen, dass die Arbeiterinnen den gesetzlichen Mindestlohn nicht erreichen. Zudem werden Überstundenzuschläge oft nicht gezahlt und die Lohnabrechnungen so undurchsichtig gestaltet, dass die Arbeiter vom Betrug nicht einmal etwas merken.

Die Liste der Leiden ist lang, da sind sich alle internationalen Menschenrechtsorganisationen einig: Pässe werden einbehalten, damit Wanderarbeiter ihr Glück nicht in der nächsten Fabrik suchen können. Die Beschäftigten, vor allem in der Textil- und Spielzeugindustrie, sind giftigen Gasen ausgesetzt und hausen in Schlafsälen, für die sie horrende Gebühren zahlen. Ausbildung und Sicherheitsstandards sind mies, Arbeitsunfälle an der Tagesordnung. Eine Versicherung können sich die meisten chinesischen Arbeiter nicht leisten.

Beijing Garments beschäftigt 3200 Arbeiter, gut die Hälfte kommt aus der nordwestlichen Armutsprovinz Gansu. Ausländern fehle oft das Gefühl für die Lage in China, meint Guan Yu, Europamanager der staatlichen Textilfirma, und nennt ein Beispiel aus dem deutschen AVE-Forderungskatalog. Demnach darf Beijing Garments keine Arbeiterinnen ohne Ausweis einstellen. In Gansu, sagt Guan, kostet die Erstellung eines Ausweises umgerechnet einen Euro – Geld, das die meisten armen Familien sparen. Stattdessen reisen die jungen Frauen ohne Papiere zur Jobsuche ins mehr als tausend Kilometer entfernte Peking. Dort müsste Beijing Garments sie abweisen. Aber was dann? China hat strenge Wohnsitzregelungen: In Peking können die Frauen keinen Ausweis beantragen, sie müssten zurück in die Heimat. Aber die meisten haben nicht einmal das Geld für eine Fahrkarte. „Ich halte das nicht für sinnvoll“, sagt Guan Yu. Doch auch die Deutschen haben sich bei ihrer Regel etwas gedacht. Die Ausweispflicht soll vor allem sicherstellen, dass Arbeiterinnen mindestens 15 Jahre alt sind. Kinderarbeit ist verboten.

„Wenn für den europäischen Markt produziert wird, muss den Lieferanten in China klar sein, dass das zu Bedingungen zu geschehen hat, die man hier den Kunden erklären kann“, fordert Professor Klaus Leisinger. Der Entwicklungssoziologe, der sich mit Menschenrechtsfragen in aller Welt beschäftigt, leitet die Novartis Stiftung für Nachhaltige Entwicklung und lehrt an der Universität Basel. Daneben berät er die Weltbank, die Vereinten Nationen, den schweizerischen Bundesrat und ist einer der Köpfe des Zentrums für Wirtschaftsethik in Deutschland. Leisinger ist ein Aktivist im Anzug – und hat schon jedes Extrem gesehen. Chinesischen Vorzeigefirmen, auf die westliche Konzerne gern verweisen, traut er nicht über den Weg: „Sage mir, ob du einen groben Verstoß gegen das Sittengesetz oder eine unternehmerische Glanztat aufzeigen willst, und ich liefere dir die entsprechende Fallstudie.“

Als Faustregel für China scheint heute zu gelten: je mehr Hightech, umso besser die Arbeitsbedingungen. Je kleiner die Firma und je simpler das Produkt, desto schlechter geht es den Beschäftigten. Berüchtigt sind die Fabriken, in denen 200 Millionen ungelernte chinesische Wanderarbeiter einen Job suchen: die Sweatshops der Textil- und Spielzeugindustrie. Die Arbeitsbedingungen seien oft mies – und sie würden nicht selten durch die Anforderungen westlicher, auch deutscher Unternehmer verschlimmert, heißt es in einem aktuellen Cafod-Bericht.

Aus Angst, einen Trend zu verpassen oder bestellte Ware nicht schnell genug absetzen zu können, bestellen die Einkaufsleiter großer europäischer und amerikanischer Konzerne immer kurzfristiger. Puppen und Plüschtiere, Autos und Elektrospielzeug, die unter dem Weihnachtsbaum landen sollen, werden häufig erst im Spätsommer geordert. Die Folge: Arbeiterinnen in China müssen Überstunden bis zum Umfallen schieben. Der Tod durch Überarbeitung hat eine eigene Bezeichnung: Guolaosi.

Hinzu kommt ein gnadenloser Wettbewerb. Mehrere tausend Hersteller sind von den Aufträgen von weniger als 50 Unternehmen abhängig, die den weltweiten Spielzeugmarkt dominieren. „Die großen internationalen Firmen haben praktisch ein Monopol“, sagt Mai Qingzhao von der Vereinigung der Spielzeugfabrikanten in Shenzhen. Als sich chinesische Zulieferer in den neunziger Jahren darum rissen, den Fastfood-Konzern McDonald’s mit Miniaturfiguren beliefern zu dürfen, sanken die Preise innerhalb von drei Jahren um 15 Prozent.

Multinationale Konzerne seien die Vorhut in Sachen Sozialstandards, meint Liu Kaiming, Direktor des unabhängigen Institute of Contemporary Observation (ICO) in der südchinesischen Boom-Metropole Shenzhen im Perlflussdelta. Lius Institut – das erste regierungsunabhängige seiner Art landesweit – erforscht die Arbeitswelt des Deltas. Eine Region, deren Wirtschaft explodiert: rund 17 Prozent Zuwachs jährlich in den vergangenen zehn Jahren. Von dort stammt ein großer Teil der chinesischen Exporte – und ein großer Teil der Berichte über eingesperrte Arbeiterinnen und 16-Stunden-Tage in schmutzigen Kleinfabriken. Das Delta im tiefen Süden Chinas, weit weg von der Regierungskapitale, gilt als Dorado für Manchester-Kapitalisten. Hier wurde vor 25 Jahren die erste Sonderwirtschaftszone eingerichtet, nachdem Deng Xiaoping die Bereicherung zum erstrebenswerten Ziel erklärt hatte. Die Zonen sollten ein Fenster zum Kapitalismus sein, in denen Firmen und Unternehmer reich werden konnten. Kapital, Technik und Material kamen aus dem Ausland, China trug billige Arbeitskräfte bei, vor allem Frauen aus den ländlichen Regionen. In vielen Sektoren der Leichtindustrie ist das auch heute noch so. Westliche Markenartikelhersteller fertigen in der Regel nicht selbst, sondern ordern ihre Waren bei Zulieferern aus Taiwan oder Hongkong, die ihrerseits in China produzieren lassen. Bei Schnellorders für den Wühltisch schwärmen die Lieferanten der Multis nicht selten aufs Land aus und suchen sich Mini-Firmen oder Frauen, die zu Hause mit eigener Maschine nähen. In diesen Nischen finden nach Ansicht Lius die gröbsten Verletzungen der Arbeiterrechte statt. Forciert durch die Großen – aber nicht sichtbar: „Die multinationalen Konzerne sitzen oben in der Kette und können gar nicht kontrollieren, was auf der untersten Ebene geschieht, die aus tausenden Subkontraktoren besteht.“ „Es gibt zwei Arten von Investoren in China“, sagt Stephen Frost. „Die eine Gruppe setzt auf billige Arbeitskräfte, die andere will China als Markt erobern. In der zweiten Gruppe sind die Arbeitsbedingungen tendenziell besser.“ Der Australier beschäftigt sich seit 20 Jahren mit dem Thema – zurzeit als Forscher an der City University of Hong Kong – und weiß, dass die Situation ziemlich komplex ist: „Viele chinesische Unternehmer sagen: Einerseits fordern die Kunden bessere Belüftung, Klimaanlagen, besseres Essen und bessere Schlafräume. Andererseits bekomme ich für meine Produkte immer weniger Geld. Wie soll ich das machen?“ Auch mit der Forderung nach humaneren Arbeitszeiten kommen viele chinesische Unternehmer immer weniger zurecht. Das geltende Gesetz erlaubt maximal 36 Überstunden pro Monat. „Aber das schafft in der Hauptsaison keine Firma“, sagt Frost. Mehr als 60 Arbeitsstunden pro Woche sind die Regel, die Beamten drücken vor allem in Südchina gern ein Auge zu. Häufig nicht mal gegen den Willen der Arbeiter, denn die werden nach Stückzahlen entlohnt. In Dongguan im Perlflussdelta legten die Arbeiter einer Firma für zwei Tage die gesamte Produktion lahm und setzten Firmenautos in Brand. Der Grund: Sie wollten mehr arbeiten und protestierten gegen eine kürzlich erlassene Überstundendeckelung.

Wie es den Arbeitern geht, hängt auch davon ab, woher das Kapital kommt und wie finanzkräftig der Investor ist. „In Joint Ventures von Bayer oder BASF gibt es nichts zu beklagen“, weiß Erwin Schweisshelm von der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung. Die schlimmsten Bedingungen herrschten in Firmen, deren Kapital aus Hongkong oder Taiwan stammt.

„Eine Firma wie Novartis mit ihren Ressourcen muss mehr leisten als ein kleines Unternehmen“, findet Professor Klaus Leisinger. Doch er kennt auch Unternehmer kleiner Firmen in Europa, die in China Geschäfte machen und dabei durchaus Großes leisten.

Unternehmen von Novartis bis Otto haben in Verhaltenskodizes festgeschrieben, was sie für richtig halten: Verbände erarbeiten Sozialstandards, die sich zumeist an den Vorgaben der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) der Vereinten Nationen anlehnen. Zu den Kernforderungen aller sozial engagierter Organisationen zählen die Einhaltung gesetzlich vorgeschriebener Arbeitszeiten, die Bezahlung von Überstunden und das Verbot von Kinder- und Zwangsarbeit. Hinzu kommen das Recht auf Arbeitnehmervertretung, Maßnahmen zur Sicherheit am Arbeitsplatz, Gesundheitsschutz und eine angemessene Unterbringung.

Leisinger schlägt vor, dass Unternehmer sich an örtliche Gesetze halten, zugleich aber zusichern, darüber hinaus den eigenen Standards zu folgen, sollten die Gesetze zu lax sein. Der Versandhauskonzern Otto hat das beispielsweise so in seinen Regeln festgeschrieben.

„Globale Unternehmen können es sich nicht mehr leisten, in Entwicklungsländern soziale Mindeststandards außer Acht zu lassen“, sagt Jörg Wuttke, China-Chefrepräsentant von BASF in Peking. Der Chemiekonzern hält sich an lokale Gesetze, zudem an eigene Unternehmensrichtlinien, wie sie auch in Ludwigshafen gelten. Gezahlt wird „deutlich über Mindestlohn“, aus Sozialverstand – und mit Kalkül: Das Unternehmen kann sich die besten Arbeiter aussuchen. „Zwischen lokalen Staatsfirmen und auslandsfinanzierten Chemiewerken liegen Welten“, weiß Wuttke. „Die einen sind nicht selten Zeitbomben, die anderen sind Hightech.“ In den Staatskolossen fließen Chemikalien durch schlecht gewartete Rohre. In Joint Ventures dagegen werden oft sogar einfahrende Chemielaster auf ihr Reifenprofil und die Fahrer auf ihre Qualifikation hin geprüft. Am Standort eines geplanten Polyurethanwerks in Nanjing am Yangtze, in das BAS F Milliarden investiert, wurden alle 50.000 Arbeiter geschult, die irgendwann einmal die Baustelle betreten werden – dringend nötig, findet Wuttke, denn in China fehlt vielfach jegliches Sicherheitsbewusstsein. Mehr als 63.000 Chinesen starben in den ersten sechs Monaten dieses Jahres durch einen Arbeitsunfall, das sind monatlich mehr Todesfälle als in Deutschland in einem ganzen Jahr. Rund 600.000 Menschen seien durch ihre Arbeit chronisch erkrankt, meldete Chinas staatliche Behörde für Arbeitssicherheit kürzlich. In Nordchinas Schwerindustrie atmen Arbeiter Staub und Mineralpartikel ein, in Südchinas Leichtindustrie-Sweatshops hantieren sie mit giftigen Substanzen, zum Beispiel Schuhkleber mit toxischen Lösungsmitteln. Alp Altun, Geschäftsführer des deutschen Malerbedarf-Herstellers Cristin, lässt in der Produktion keine toxischen Kleber verwenden. In der luftigen Halle werkeln Arbeiterinnen in blauen Overalls. Draußen donnern auf der brandneuen sechsten Ringstraße um Peking Lastwagen vorbei. Cristin exportiert Farbroller, Pinsel und Spachtel in 45 Länder und beschäftigt rund 350 Menschen – mehr als zwei Drittel kommen direkt aus dem Nachbardorf. Weil die Deutschen für Arbeit sorgen, zeigte sich der Dorfvorstand im Gegenzug flexibel bei den Modalitäten der Ansiedlung. Für das Dorf ist das Investment angesichts zerfallender Strukturen in der Landwirtschaft eine Überlebenschance. Chinas Gesetze sind so streng wie die Auflagen der Weltarbeitsorganisation ILO. Es gelten Mindestlöhne, die 40-Stunden-Woche und die Pflicht, Überstunden zu bezahlen. Doch es hapert an Kontrollen – bei lokalen Firmen mehr als bei Joint Ventures, im Süden mehr als im Norden. Die Arbeitsbehörde hat nicht das Personal, von Peking aus die Einhaltung der Gesetze zu überwachen. Altun organisiert die Arbeit freiwillig nach „gesundem Menschenverstand“. Achtstundentag, Pausen, Vierbettzimmer und vier Monate bezahlter Mutterschutz. „Unsere lokalen Konkurrenten kennen keine Minimallöhne, zahlen keine Überstunden und oft monatelang gar keinen Lohn“, sagt er. „Damit können sie uns preislich natürlich unterbieten.“

Seit NGOs, Handel und Politik zusammen Druck machen, kommt Bewegung in die Diskussion um Arbeitsbedingungen und Chinageschäfte. „Fair spielt“ stellte eine Liste von Firmen ins Internet, die in China Geld verdienen – und schrieb dazu, wer sich in Sachen Sozialstandards in die Karten schauen lässt. Zur Spielwarenmesse in Nürnberg und zur Weihnachtszeit macht „fair spielt“ jedes Jahr mobil, besetzt Runde Tische und lässt „König Kunde“ demonstrieren.

Die zentrale Forderung des Aktionsbündnisses: Spielwarenhersteller sollen sich an den Code of Business Practices ihres Weltverbandes International Council of Toy Industries (ICTI) halten. 18 Unternehmen wollten bis Mitte 2004 jeweils zwei ihrer wichtigsten Lieferanten nach dem ICTI-Standard durchleuchten lassen.

Die Vertreter von AVE haben sich entschlossen, ihre Erfahrungen zusammenzuführen und gemeinsam für bessere Arbeits- und Sozialbedingungen zu sorgen. Ihr Sektorenmodell, das sich auf die besonders in der Kritik stehenden Branchen Spielzeug und Textilwirtschaft konzentriert, verfolgt zwei Ansätze: Zum einen sollen die Gesetze, die die Arbeitsbedingungen regeln, zur Anwendung angemahnt werden. Daneben geht es den AVE-Vertretern darum, die Partner in China zu sensibilisieren und Wege zu finden, die den Betrieben helfen, die internationalen Standards zu erreichen. AVE-Sprecher Lorenz Berzau: „Es geht uns nicht um Sozialimperialismus, wie es in den Lieferländern manchmal heißt. Wir dringen nur auf die Einhaltung lokaler Gesetze und die Konvention der ILO.“

In China stoßen Code-of-Conduct-Programme wie das AVE-Projekt auf Skepsis, berichtet Axel Dörken, Direktor der Deutschen Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ) in Peking. „Es gibt Befürchtungen, dass damit neue nichttarifäre Hemmnisse aufgebaut werden“, sagt er. Gemeint ist: Ende 2004 läuft das internationale Textilquotensystem aus, das chinesische Exporte in westliche Länder deckelt. Peking argwöhnt – zu Unrecht?, – dass Europa und die USA nun andere Wege suchen, die Einfuhren chinesischer Kleidung zu begrenzen. Die GTZ, die das AVE- Projekt unterstützt, hat deshalb zunächst das bescheidene Ziel ausgerufen, das Bewusstsein der Stakeholder zu wecken: Ministerien, Verbände und Gewerkschaften. Sie sollen im Herbst zum zweiten Mal an einem runden Tisch zusammenkommen. Bewusstsein wecken wollen auch einzelne Markenartikelhersteller vor Ort, beispielsweise Adidas, weil Audits allein nicht helfen. Die Prüfer verdienten Geld, egal, ob sie etwas aufdecken oder nicht, weiß Liu Kaiming. Der Direktor des unabhängigen Instituts ICO verfolgte die Prüfungen mehrerer Marken-Zulieferer. Die Auditoren, so hat er festgestellt, seien in der Regel angekündigt und würden ausnehmend gut behandelt, die Arbeiter vorher gebrieft. „Es gibt einen Trend zum Betrug“, sagt Liu. Alp Altun, der Vertreter des deutschen Malerbedarf-Herstellers, kennt Firmen, die in der sauberen Kernfabrik nur eine Showproduktion für Auditoren unterhalten, das meiste aber drei Dörfer weiter billig fertigen lassen. „Das Problem: Die Leute, die bisher Sozialstandards durchsetzen sollen, besitzen in der Betriebshierarchie keine Autorität“, meint William Anderson, Asienchef für soziale und Umweltfragen bei Adidas-Salomon in Hongkong. Sein Team geht direkt in die Firmen und versucht, eigene Systeme für Sicherheit und Soziales mitsamt einer Managerposition zu etablieren. Daneben hilft die Mannschaft, Betriebsärzte fortzubilden und verteilt zusammen mit dem ICO Flugblätter an Arbeiter, die ihnen ihre Rechte erklären. So wehrlos, wie sie sich fühlen, sind die chinesischen Arbeiter nämlich nicht: Landet ein Streit mit dem Arbeitgeber vor einem Schiedsgericht, „fallen 80 Prozent der Urteile zu Gunsten der Arbeiter aus. Das weiß nur kaum jemand“, sagt Liu. Adidas setzt zudem auf langfristige Geschäftsbeziehungen und Konsolidierung der Zulieferer. Die Zahl der Partner in Asien wurde in den vergangenen Jahren von 1000 auf 700 reduziert. „Dadurch nimmt unser Anteil am Produktionsvolumen der Lieferanten zu – und unser Einfluss steigt.“

Am Ende hat der Verbraucher die Macht. Es müsse sexy sein, ein Produkt zu kaufen, das unter moralisch einwandfreien Bedingungen hergestellt wurde, meint der Entwicklungssoziologe Klaus Leisinger. „Moralisch einwandfrei ist leider kein Kaufargument“, hält Dietlind Freiberg, Pressesprecherin bei Otto dagegen. Das Versandhaus muss seine Öko-Baumwollprodukte bis heute subventionieren, um sie an den Verbraucher zu bringen. „Wir konzentrieren uns darauf, unser Know-how bei Prozessabläufen und Produkten der Hersteller einzubringen.“

Uwe Kleinert von der Werkstatt Ökonomie verweist resigniert auf Erfahrungen bei fair gehandelten landwirtschaftlichen Produkten wie Kaffee. Bei Befragungen hätten elf Prozent der Kunden angegeben, die Ware zu kaufen, weitere 49 Prozent zeigten Sympathie. Aber weniger als zwei Prozent der Verbraucher legen die teurere Ware tatsächlich in ihre Einkaufskörbe. Für Leisinger sind das keine Argumente. Weitermachen, heißt seine Devise. Warum? „Weil es richtig ist.“

Die Fortschritte sind dort am größten, wo der Öffentlichkeitsdruck am stärksten ist, beobachtet Stephen Frost und verweist auf Schuh-, Spielzeug- und Bekleidungsfirmen. Guan Yu von Beijing Garments sagt: Die Firma habe die Löhne in den vergangenen Jahren um 20 Prozent erhöht. Für ein amerikanisches Audit musste das Unternehmen rund 100.000 Euro investieren – für Klimaanlagen und neue Schlafräume, in denen heute sechs bis acht statt wie früher zehn bis zwölf Frauen schlafen. Ma Sanying, die künftig von ihrem Ehemann getrennt leben muss, verdient zwischen 50 und 60 Euro im Monat, kaum mehr als der gesetzliche Mindestlohn in Chinas Hauptstadt. Früher, in dem Dorf in der zentralchinesischen Provinz Henan, hat sie in einer Baracke Knöpfe angenäht. Für ein paar Cent. Der feste Job in einer richtigen Firma ist ein gewaltiger Aufstieg. „Ich bin froh, hier zu sein“, sagt sie. Stephen Frost, der australische Wissenschaftler, will weiter für Frauen wie Ma kämpfen. Und rät den Kritikern trotzdem, was auch er in den vergangenen 20 Jahren lernte: „Man sollte China nicht mit dem Westen von heute, sondern mit dessen Vergangenheit vergleichen.“

Links:

www.woek.de
www.oxfam.org
www.china-labour.org.hk/iso
www.amrc.org.hk
www.suedwind-institut.de
www.misereor.de
www.novartisfoundation.com
www.ilo.org

Studien:

Ingeborg Wick/Sabine Ferenschild: Globales Spiel um Knopf und Kragen – Das Ende des Welttextilabkommens verschärft soziale Spaltungen. Südwind, 2004

Oxfam International: Trading away our rights – Women working in global supply chains (2004)


Dieser Text stammt aus unserer Redaktion Corporate Publishing.