Die Musterfahndung

In einer Bilanz werden das Vermögen und die Schulden eines Kaufmanns jährlich gegenübergestellt. Seit gut 500 Jahren geschieht das in Form von Zahlen. Jetzt behaupten immer mehr Unternehmen, immaterielle Werte seien ihr größtes Kapital, allen voran: ihre Mitarbeiter. Doch was genau ist deren Wert? Und hat es Sinn, ihn in Zahlen zu messen?




Vermutlich hatten die Teilnehmer des Arbeitskreises Wissensbilanz genug von der Theorie, als sie im Juli 2003 zum ersten Mal in Frankfurt zusammentrafen. In unzähligen Gesprächen, Seminaren oder Expertenrunden hatten sie sich bereits unabhängig voneinander Gedanken gemacht, welchen Wert ein Unternehmen hat, das nicht mehr nur mit den Händen Greifbares produziert und das weder über Fabriken noch über teure Maschinen verfügt. Sie wollten dem, was nicht sichtbar, was ihrer Ansicht nach aber in immer mehr Unternehmen heute erfolgsrelevant ist, eine messbare Form geben: etwa den Beziehungen zu Kunden, dem Wissen der Mitarbeiter, der Innovationsfähigkeit. Deshalb interessierten sie sich für die inhaltlichen Unterschiede zwischen Begriffen wie Humankapital und Intellektuellem Kapital, dafür, was eine Balanced Scorecard misst oder wie all das zusammenhängen könnte mit den neuen Eigenkapitalanforderungen von Basel II.

Die Strukturen, die sie dabei durchdachten, waren komplex. Sie diskutierten auf Symposien über Definitionen, Grundannahmen und mögliche Folgen ihrer Annahmen. Sie lernten sich kennen. Dann fühlten sie sich schließlich gemeinsam reif für ein Pilotprojekt in der Praxis.

Also gründeten Mart Kivikas, Manfred Bornemann und Kay Alwert in Frankfurt den Arbeitskreis Wissensbilanzen, kurz AK-WB. Obwohl sie als Mittdreißiger noch relativ jung sind, gehören der Controller Kivikas, der promovierte Ökonom und Unternehmensberater Bornemann und der Ingenieur Alwert, der am Berliner Fraunhofer Institut für Produktproduktionsanlagen und Konstruktionstechnik im Bereich Unternehmensmanagement tätig ist, zu den führenden Köpfen der noch jungen Disziplin. So gewannen sie unter anderem den schwedischen Wissensmanagement-Papst Leif Edvinsson, Inhaber eines Lehrstuhls für Intellectual Capital an der Lund University, als ihren Schirmherrn. Und sie überzeugten das Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit, ihr Konzept – die Erstellung von Wissensbilanzen für kleine und mittelständische Unternehmen – als Geldgeber zu unterstützen. Fortan hieß das Projekt „Wissensbilanz – Made in Germany“.

Als sie ihr Angebot publik machten, im Rahmen einer Pilotstudie gemeinsam mit Firmen Wissensbilanzen zu erstellen, bewarben sich auf Anhieb 60 Unternehmen. Mit jedem Interessenten führten sie erste Sondierungsgespräche am Telefon, dann, bei weiterem Interesse, folgten ausführliche Interviews vor Ort. Anhand einer Checkliste, die Fragen nach dem Innovationscharakter des Unternehmens, der Unterstützung des Projekts durch die Geschäftsführung oder der Anerkennung „weicher Faktoren“ als Erfolgsfaktoren beinhaltete, wählten sie schließlich 14 Organisationen aus, von denen sie überzeugt waren, bei ihnen mache eine Wissensbilanz Sinn: vier aus Ostdeutschland, zehn aus Westdeutschland, die kleinste mit 40, die größte mit 650 Mitarbeitern. IT-Beratungen, Maschinenbaufirmen und Finanzdienstleiter waren darunter, aber auch die Zentrale des Deutschen Caritasverbands als gemeinnützige Organisation.

Transparenz erhöht Chancen und minimiert Risiken

So heterogen die Kulturen, so ähnlich waren die Reaktionen der Mitarbeiter. Fast überall, wo die drei Projektleiter in den folgenden Wochen und Monaten auftauchten, stießen sie auf Skepsis, Angst oder zumindest Überraschung. „Jetzt will die Geschäftsleitung uns auch noch kapitalisieren“, formulierte einer seine Befürchtung. Es dauerte, bis er und seine Kollegen die Idee hinter dem Projekt verstanden und erkannten: „Damit wird unsere Position gestärkt oder zumindest ernst genommen.“

Tatsächlich wurden Kivikas, Bornemann und Alwert nicht müde, das Ziel der Wissensbilanzierung zu betonen. Es geht darum, die immateriellen Unternehmenswerte darzustellen. Die resultieren aus der sinnvollen Ausrichtung des Intellektuellen Kapitals einer Organisation an deren Visionen und Strategien. Und weil sich das Intellektuelle Kapital wiederum aus dem Human-, dem Struktur- und dem Beziehungskapital zusammensetzt, ist es absolut notwendig, die Mitarbeiter aller Hierarchieebenen einer Organisation in die Erstellung der Wissensbilanz einzubeziehen.

Unter Humankapital versteht das Projektteam Kompetenzen, Fertigkeiten und die Motivation einzelner Mitarbeiter, zum Beispiel deren Intelligenz oder soziale Kompetenz. Unter Strukturkapital subsumieren die drei die Strukturen und Prozesse, die Mitarbeiter brauchen, um produktiv und innovativ zu sein – etwa wenn es um den Zugriff auf Datenbanken geht oder die Kontaktmöglichkeiten mit den Kollegen. Unter dem Begriff Beziehungskapital werden die Beziehungen zu Kunden, Lieferanten oder anderen, öffentlichen Partnern zusammengefasst. Darunter fällt zum Beispiel die Häufigkeit, mit der man mit ihnen telefoniert. Würde man all dieses Intellektuelle Kapital erfassen, würde man vor allem von Organisationen, die wissensbasiert arbeiten, ein genaueres Bild ihres tatsächlichen Wertes bekommen. Im internen Gebrauch würden die Stellschrauben sichtbar. Jeder könnte sehen, welche Faktoren verändert werden müssten, um wertschöpfender zu arbeiten. Gleichzeitig ließen sich die Informationen nach außen kommunizieren. An Kunden, potenzielle Mitarbeiter oder die Kapitalmärkte: um heute schon internationalen Rechnungslegungsstandards, die eine Ausweisung des Intellektuellen Kapitals im Anhang an die klassische Bilanz empfehlen, gerecht zu werden. Das Ziel ist Transparenz. Denn je transparenter eine Organisation, desto geringer ist das Risiko für Kapitalgeber und umso höher die Chancen, Partner und Mitarbeiter zu finden, die gut zum Unternehmen passen.

Kivikas, Bornemann und Alwert setzten in jedem der 14 Unternehmen des Pilotprojekts Mitarbeiter aller Unternehmensteile und Hierarchieebenen zusammen – vom Lkw-Fahrer bis hin zum Geschäftsführer – und ließen sie gemeinsam ein Bild vom Status quo ihrer Firma, dem Geschäftsumfeld und der strategischen Ausrichtung entwerfen, um anschließend Indikatoren und Ausprägungen für die einzelnen Facetten des Intellektuellen Kapitals zu entwickeln.

Es wurde oft lange diskutiert. Da sagte beispielsweise ein Chef, als es um die Frage nach der Weiterbildung als Indikator für das Strukturkapital ging: „Wir schicken alle Mitarbeiter regelmäßig zu Seminaren. Die Güte dieses Indikators liegt bei 95 Prozent.“ Doch ein Mitarbeiter konterte: „Ich war noch nie zur Fortbildung weg. Ich gebe diesem Indikator nur 20 Prozent.“ Im Idealfall stand am Ende der Diskussionen ein Wert, auf den sich alle einigten, zum Beispiel 60 Prozent – 40 beziehungsweise 35 Prozent entfernt vom selbst definierten Wert.

Unterstützt wurden die qualitativen Bewertungen von harten, quantitativen Zahlen, beispielsweise der tatsächlichen Anzahl von Fortbildungstagen innerhalb der Organisation. So ließ sich jeder Indikator, der für das Human-, Struktur- oder Beziehungskapital als wichtig erkannt worden war, in ein Koordinatensystem eintragen. Auf der x-Achse die qualitativen Werte, auf der y-Achse die quantitativen. Das Kernstück der Wissensbilanz war erstellt: die Wissenslandkarte.

Ist sie die Antwort auf die Frage, was der Faktor Mensch mit all seinem Wissen und seinen Beziehungen in einer Firma wert ist? Machen die Einträge in das Koordinatensystem das immaterielle Vermögen einer Organisation sichtbar? Hat dieser Aufwand tatsächlich Sinn?

Heute, gut ein Jahr nach dem Start des Arbeitskreises Wissensbilanz, sitzen die drei Projektleiter in der Lobby des Hotels Frankfurter Hof in Frankfurt. Sie haben viel geschafft in den vergangenen Monaten. Das Projekt weitergetrieben. Eine große Konferenz organisiert; es waren etliche internationale Experten dabei, Professoren von der Copenhagen Business School, der Amsterdamer Inholland University und dem Competence Center Wissensmanagement des Fraunhofer Instituts für Produktionsanlagen und Konstruktionstechnik. Sie haben einen Leitfaden „Wissensbilanz – Made in Germany“ erstellt.

Wer bin ich, wo stehe ich, und wo will ich hin?

Erste Workshops, in denen sie Unternehmen beibringen, wie sie ihr Wissen bilanzieren, sind bereits geplant. Und der strohblonde Mart Kivikas, der gemeinsam mit Leif Edvinsson, dem schwedischen Wissenschaftler und Schirmherrn des AK-WB, in Oberreichenbach die Firma Wissenskapital Edvinsson & Kivikas Entwicklungsunternehmen GmbH betreibt, ist sicher: „In drei bis fünf Jahren werden alle Firmen, die an dem Projekt teilgenommen haben, erfolgreicher als ihre Konkurrenten sein. Weil sie sich ihrer Arbeitsweise bewusst geworden sind und dabei Schwachstellen erkannt haben.“ Gut möglich, dass er Recht behält. Für die Bewusstmachung interner Prozesse, das Deutlichmachen von Stärken oder Schwächen oder einfach für den Dialog und den Austausch von Organisationsmitgliedern – über Hierarchieebenen hinweg – scheint die Wissensbilanz ein gutes Instrument zu sein. Sich klar zu machen, wer man ist, wo man steht und wo man hin will, hat noch keinem Unternehmen geschadet.

Aber wird die Wissensbilanz auch ihrem Anspruch gerecht, den immateriellen Werten eine messbare Form zu geben? Das Interesse am Thema ist hoch. Diverse Bücher sind dazu schon erschienen, in Fachzeitschriften für Personal sind Texte über die Bewertung von Humankapital die Aufmachergeschichten. Und am Lehrstuhl für Controlling und Informationsmanagement der Universität Witten/Herdecke hat der Doktorand Michael Gebauer, der gerade über das Thema Wissensbilanzen promoviert, gemeinsam mit der Personalabteilung der Hagener Douglas Holding AG versucht, ein Messinstrument für die Bewertung der Qualität und Wertschöpfung im Personalwesen zu erstellen.

Gebauer hat rekonstruiert, welche Leistungen zwölf ausgewählte Mitarbeiter in den vergangenen sechs Jahren erbracht haben und berechnet, wie viel das Unternehmen dafür auf dem freien Markt hätte ausgeben müssen. Anschließend hat er diese Summe ins Verhältnis zu ebenfalls in mühsamer Arbeit zusammengetragenen Daten über Mitarbeitergehälter, Fortbildungen, Bonuszahlungen, Soft Skills und Fluktuationen gesetzt. Unterm Strich will er so eine Zahl ermittelt haben, die in einer monetären Größe angibt, was die Leistungen der Mitarbeiter wert sind. Mit dieser Zahl soll man nachvollziehen können, ob und wann sich welche Investitionen in die eigenen Mitarbeiter lohnen.

Denn für Michael Gebauer fühlt er sich merkwürdig an, dieser Unterschied beispielsweise zwischen den Investitionen in eine Maschine, die als Wert später in der Bilanz auftaucht, und der Investition in ein Seminar für einen Mitarbeiter. Die taucht bislang zwar als Ausgabe auf, nicht aber als neu gewonnener Wert.

Im Jahresabschluss für das Jahr 2004 müssen börsennotierte Unternehmen, die bei einer Fusion oder Übernahme eine Marke erwerben, deren Wert zum ersten Mal in die Bilanz aufnehmen. So wollen es die International Financial Reporting Standards (IFRS), nach denen börsennotierte europäische Konzerne künftig ihre Geschäftsberichte erstellen müssen. Mit der Markenbewertung, ebenfalls ein immaterieller Wert, haben die Marketingabteilungen ein kluges Instrument für die Rechtfertigung ihres Handels gegenüber der Geschäftsleitung entwickelt, findet Michael Gebauer, und sich einen Vorsprung gegenüber den Personalabteilungen erarbeitet. „Aber sich gut zu verkaufen ist ja auch deren Geschäft.“

Rührt das Bedürfnis nach einer Bewertung des Humankapitals also letztlich aus einer Erklärungsnot? Weil die Personaler in Zeiten rigider Sparkurse deutlich machen wollen, dass es falsch ist, einseitig beim Personal zu sparen, diesem undurchschaubaren Ausgabenposten, der bisher als Wert in keiner Bilanz auftaucht? Wollen sich die, die von ihren Kollegen auch heute noch gern belächelt werden, weil sie sich mit dem Weichen, dem Menschlichen befassen, hart machen? Weil im Unternehmen nur der Anerkennung findet, der Zählbares, Greifbares, Messbares produziert?

Es wäre ein nachvollziehbarer Grund. Doch er erklärt vermutlich nur einen Teil der Bemühungen. Interessierten zeigt Gebauer in seinem Büro an der Universität Witten/Herdecke gern den Verlauf einer Kurve. Sie verdeutlicht die Relation zwischen Markt- und Buchwert von an der Börse gehandelten Unternehmen. Bis in die neunziger Jahre war der Marktwert eines Unternehmens in der Regel doppelt so hoch wie sein Buchwert, niedergelegt in der Bilanz. Dann explodierten die Verhältnisse. Zu Zeiten der New Economy war der Marktwert von Yahoo bis zu 66-mal so hoch wie sein Buchwert, der Faktor von SAP lag bei 24. Doch auch jetzt, lange nach dem Platzen der Blase, hat sich ein Marktwert eingependelt, der das Vierfache des Buchwerts ausmacht.

Diese Relation macht dem Controller Michael Gebauer zu schaffen. Und dabei geht es dem Wissenschaftler um mehr als um eine Begründung für den Vorstand. Es geht darum, den ungeklärten Raum zwischen diesen beiden immer weiter auseinander laufenden Vorstellungen, von dem, was den Wert einer Firma ausmacht, zu greifen. Zu messen. Zu verstehen. Damit Menschen, die ein anderes Unternehmen kaufen wollen, realistisch einschätzen können, welchen Preis es tatsächlich wert ist. Aus ganz pragmatischen Gründen also.

Wissen, wie Wissen entsteht

Aber auch – so scheint es – um ein lange gelerntes Weltbild zu erhalten: die Vorstellung nämlich, dass die Welt berechenbar ist. Dass es möglich ist, jeden Vorgang, jeden Prozess, jede Entwicklung mit einer Ziffer, dem Grundbaustein jeder Bilanz, auszudrücken – sobald sich die richtigen Faktoren finden.

Vielleicht ist das auch die Erklärung dafür, dass sich in erster Linie Controller und nicht die Personalexperten an den Universitäten mit dem Thema befassen. So wie Professor Jürgen Weber, Inhaber des Lehrstuhls für Controlling und Telekommunikation der Wissenschaftlichen Hochschule für Unternehmensführung in Vallendar bei Koblenz und Herausgeber der Zeitschrift Controlling & Management. Weber sitzt mit seiner wissenschaftlichen Mitarbeiterin Jennifer Kunz an einem runden Besprechungstisch in seinem Büro und trägt einen perfekt sitzenden grauen Anzug, eine randlose Brille und akkurat gescheiteltes Haar. Er wirkt wie einer, der die Dinge sehr genau nimmt. Wie jemand, den nur Fakten zufrieden stellen können.

Und dann beginnt er, Schritt für Schritt Weltbilder zu demontieren. Vor 20 Jahren hätten alle Unternehmen geglaubt, sie bräuchten eine Sozialbilanz – weil das gesellschaftliche Engagement einer Firma in den Augen der Öffentlichkeit in hohem Maß zu seinem Wert beitrage. Heute rede davon kein Mensch mehr. Und auch das Thema Umweltbilanzen, der Nachfolger der Idee der Sozialbilanz, sei spätestens in zehn Jahren vergessen, da ist sich Professor Weber sicher. Und fragt: „Wofür also eine Wissensbilanz? Müsste sich das, was ich in einem Unternehmen in Faktoren wie gesellschaftliches Engagement, Umweltschutz oder Mitarbeiter investiere – wenn sie denn so wichtig und entscheidend sind –, nicht ohnehin in meinen Umsatz- und Gewinnzahlen niederschlagen?“

Vielleicht wollen Firmen mit Hilfe der Wissensbilanzen ja vor allem dem Druck der Kapitalmärkte etwas entgegensetzen, die erwarten, dass sich Investitionen immer schneller rechnen. Vielleicht geht es darum, Zeit zu gewinnen, um zeigen zu können, dass Ausgaben für Personal oder Kundenbeziehungen sich nur langfristig rechnen. Und gleichzeitig darum, die Eigenkapitalquote zu erhöhen, eine Voraussetzung, um trotz Basel II an günstige Kredite zu kommen. Ist das wahre Problem das mangelnde Vertrauen der Kapitalgebern in langfristige unternehmerische Strategien?

Professor Weber liegt ein anderes Thema am Herzen. Für ihn ist die Frage, warum jemand das Wissen in seiner Firma bilanzieren will, erst im zweiten Schritt bedeutend. Zunächst einmal hält er es für wichtig zu prüfen, ob und wie man es überhaupt messen kann. „Denn an diesem Punkt“, sagt er, „versagen alle alten Instrumente.“ Und wenn ich die Realität mit einem Messinstrument nicht sinnvoll abbilden kann, bleibt das Ergebnis eine Farce.

Vor nicht allzu langer Zeit hat sich Weber damit beschäftigt, wie Forschung in einer Gruppe von Wissenschaftlern – „Spezialisten, bei denen man kaum noch versteht, was die einzelnen eigentlich können und machen“ – funktioniert. Funktioniert bedeutet dabei: dass sich das Wissen in den Köpfen der einzelnen Teilnehmer in einem innovativen Gedanken konkretisiert. Dabei sei es entscheidend, dass in einer solchen Gruppe kein Unruhestifter ist, keiner, der die anderen missbraucht; aber auch, dass nicht immer Konsens herrscht, dass jemand mitarbeitet, der widersprüchliche Meinungen vertritt.

Um Aussagen über den Wert des Wissens in einer derartigen Gruppe zu machen, helfe es wenig, mit vorgefertigten Fragebögen Dinge wie den Intelligenzquotienten der Teilnehmer zu ermitteln. Es sei wichtiger, als beobachtender Teilnehmer dabei zu sein, mittendrin, man müsse sich Zeit nehmen und sensibel sein. Denn nur in der Interaktion von Wissensträgern entstünde das eigentlich entscheidende, das wertvolle Wissen. „Die Muster dieser Interaktion zu erkennen und zu beschreiben, das wird die BWL der nächsten 30 Jahre. Und die Geschichte hinter diesen Interaktionen ist viel komplexer, als dass sie eine Zahl beschreiben könnte.“ Sagt der Controller.

Die BWL braucht eine Relativitätstheorie

Doch Weber ist noch nicht am Ende. Die Wirtschaftswissenschaftler, die heute Entscheidungen in Unternehmen treffen, hätten ihr Wissen oft vor 30 Jahren gelernt. „In der BWL dachte man damals noch nicht an den Menschen.“ Sehr lange habe dieses Wissen ausgereicht, und auch heute kämen die meisten damit in den Unternehmen sehr gut zurecht. Aber in einem kleinen Teil der Unternehmen sei Innovation der entscheidende Faktor. Weil es immer mehr würden, stiege auch die Notwendigkeit, die Entstehung von Innovationen zu verstehen, um sie letztlich positiv beeinflussen zu können.

„Im Grunde“, sagt Weber, „verhält es sich wie mit Newton und Einstein.“ Mit Einsteins spezieller Relativitätstheorie, mit der man plötzlich Phänomene bei großen Geschwindigkeiten nahe der Lichtgeschwindigkeit berechnen konnte, kann man auch plausibel machen, wie ein Apfel vom Baum fällt. Doch mit Newtons Gesetz der Mechanik ist es bis heute noch am einfachsten. „Deshalb sind beide Theorien wichtig. Was noch fehlt, ist eine neue Sprache für die neuen Probleme der BWL, eine Art Relativitätstheorie.“

Und Menschen, speziell Führungskräfte, müssten begreifen, dass es wichtige Entwicklungen in Unternehmen gebe, die nicht mehr mit Zahlen berechenbar seien. Phänomene, für die es keine klaren Lösungen mehr gebe und die deshalb auf den ersten Blick Unsicherheit verursachten. Die Führungskräfte von morgen, meint Weber, müssten lernen, diese Unsicherheit zu akzeptieren, und dennoch in der Lage sein, ihren Mitarbeitern ein Gefühl von Sicherheit zu vermitteln – weil sie selbst neue Gewissheit nicht aus dem Erkennen von Zahlen, sondern von Mustern, von Interaktionsmustern, erhalten. Die wissenschaftliche Mitarbeiterin von Professor Weber, Jennifer Kunz, hat vor kurzem einen Vortrag über Wissensmanagement an der Universität gehalten. Am Ende hatte sie das Gefühl, die Kollegen, vornehmlich Controller, konnten oder wollten sie nicht richtig verstehen. Vielleicht, weil die Gedanken, von denen sie und Professor Weber reden, so schwammig klingen, so weich und weit entfernt.

„Weich und hart, ich hasse diese Unterscheidung“, sagt Weber. Natürlich könne er unendlich viele Faktoren in Zahlen messen und am Ende sagen, das genau ist das Wissen im Unternehmen wert. Es wäre für ihn um vieles einfacher als der Weg, den er nun beschreitet. Doch es wäre auch – in seinen Augen – eine Illusion, die er vermitteln würde. Und „nicht fair“. Um das Phänomen Wissen zu beschreiben, müsse man sich über die Interaktion annähern. Zumindest, wenn man die Realität abbilden möchte. Und das sei als Forscher nun mal sein Ziel.

Irgendwann könnte man die Interaktionsmuster, die man etwa in Forschungsabteilungen von Unternehmen erkennt, nach außen als Wert kommunizieren. „Unsere Botschaft lautet: Man kann solche Dinge sehr hart messen, aber anders, als sich das die Leute üblicherweise denken.“

Aber wie würden Wirtschaftsprüfer in der Zukunft arbeiten, wenn sie ein Interaktionsmuster begutachten müssten? Was hätte das für rechtliche Konsequenzen, zum Beispiel in Fragen der Haftbarkeit? Wären solche Muster nicht nur subjektive Momentaufnahmen? Andererseits: Sind das Bilanzen, auch wenn sie aus Zahlen bestehen, nicht ohnehin? Gaukeln sie nicht eigentlich eine Sicherheit vor, die es im Grunde nicht mehr gibt? Womöglich sogar nie gab?

Im Hotel Frankfurter Hof haben die drei Projektleiter des Arbeitskreises Wissensbilanzen mittlerweile den Leitfaden „Wissensbilanz – Made in Germany“ ausgepackt. Auch ihnen ist etwas bewusst, das sie „das Problem der Wechselwirkung immaterieller Ressourcen“ nennen. Deswegen gibt es im Leitfaden auf Seite 33 ein Kapitel, über dem steht: „Schritt 6: Steuerung des Intellektuellen Kapitals“. „Simple Ursache-Wirkungs-Ketten, wie sie bei einfachen Maschinen funktionieren (Schalter ein, Maschine läuft), funktionieren im Bereich des Intellektuellen Kapitals nicht“, heißt es da. Deshalb schlagen die Autoren die Erstellung einer Matrix vor, in der alle Faktoren des Intellektuellen Kapitals aufgeführt sind und deren Einfluss auf die anderen Faktoren jeweils mit einer Zahl von „0 – keine Beeinflussung“ bis „3 – sehr starker Einfluss“ gewichtet wird. Das Ergebnis ist eine grafische Darstellung der Einflussfaktoren in einer Organisation oder, wie es der Arbeitskreis Wissensbilanz nennt, ein Wirkungsnetz.

Wissen als Humankapital-Index auf der Website

Noch sei man erst am Anfang, sagen die drei Projektleiter Alwert, Bornemann und Kivikas. Es müssten mehr Firmen eine Wissensbilanz erstellen, bevor man gesicherte Aussagen über den Zustand und damit den Wert einer Organisation anhand des Wirkungsnetzes oder einer Wissenslandkarte machen könne. Aber so könnte eine Lawine ins Rollen gebracht werden: Immer mehr Firmen, die ihre Wissensbilanzen nach außen kommunizieren, führten zu immer mehr Investoren oder Banken, die nach diesen zusätzlichen Informationen verlangen. Am Ende könnte sich die Wissensbilanz als ein Instrument etablieren, das die verschiedenen Bemühungen, intellektuelles Kapital zu erfassen, harmonisiert, so die Hoffnung des AK-WB. Außerdem würden sie mit dem Instrument auch gern Städte, Regionen oder gar Länder untersuchen – ganz im Sinne ihres Schirmherrn Professor Edvinsson. Der war in den vergangenen Wochen in China unterwegs, um das dortige Potenzial an Wissenskapital zu ermitteln. In seinem nächsten Buch will er die gefundenen Werte beispielsweise mit denen von Deutschland vergleichen.

Michael Gebauer, der Wissenschaftler der Universität Witten/Herdecke, hat die Vision, dass Unternehmen irgendwann zumindest auf ihrer Homepage einen „Humankapital-Index“ veröffentlichen. Er versteht darunter eine Zahl, die neben dem aktuellen Aktienkurs stehen könnte und die den Wert des Unternehmens alternativ dazu auf Basis des Humankapitals beschreibt. „Vielleicht“, so hofft er, „entsteht dadurch ein First-Mover-Effekt“: Immer mehr Kunden oder Investoren verlangen nach der Information, immer mehr Firmen führen sie deshalb ein – und in der Folge entwickelt sie sich zu einem anerkannten Index.

Professor Weber sagt: „Noch tun die Probleme, die sich aus alten Denkweisen und durch das Festhalten an Weltvorstellungen ergeben, nicht genügend weh.“ Und das, obwohl man allgemein davon ausgeht, dass rund die Hälfte aller Firmenkäufe oder Fusionen keine oder nicht die erhofften Wertzuwächse bringen. Vielleicht würde es sich angesichts der enormen Summen, die Unternehmen dabei verlieren, lohnen, nach passenden Mustern zwischen Firmen zu forschen. Methodisch, davon ist Weber überzeugt, wird in den kommenden Jahren und Jahrzehnten in den Sozialwissenschaften noch viel passieren. Doch erst müssten sich die alten Denkmuster verwachsen und an den Universitäten Wirtschaftswissenschaftler ausgebildet werden, die eine neue Sprache der BWL erlernen. „Ich bin jetzt 51 Jahre alt. In spätestens 30 Jahren, mit 80, würde ich die Veränderungen gern erleben.“

Bis dahin findet es Weber richtig, dass man durch die diversen Bemühungen, das Intellektuelle Kapital eines Unternehmens zu messen, die Firmen zumindest für die Bedeutung von Wissen sensibilisiert. Gleichzeitig warnt er vor unausgereiften Vorschlägen. Motivation und Möglichkeiten zur Veränderung seien in den Unternehmen begrenzt. Geringer vermutlich sogar, als die Firmenvertreter selbst glaubten. Der akute Bedarf, warnt Weber, dürfe langfristige Bemühungen nicht zerstören. „Denn die Anzahl unserer Schüsse im Revolver ist begrenzt.“

Klaus North: Wissensorientierte Unternehmensführung – Wertschöpfung durch Wissen. Gabler Verlag; 340 Seiten; 35,90 Euro
Jürgen Weber, Urs Bramsemann, Carsten Heineke, Bernhard Hirsch: Wertorientierte Unternehmenssteuerung. Gabler Verlag; 391 Seiten; 44,90 Euro
Peter-Roman Persch: Die Bewertung von Humankapital – eine kritische Analyse. Rainer Hampp Verlag; 297 Seiten; 27,80 Euro
Anita Schäfer – Bewertung Intellektuellen Kapitals. Der Andere Verlag; 254 Seiten; 27 Euro
Wladimir Bodrow, Philipp Bergmann: Wissensbewertung in Unternehmen – Bilanzieren von intellektuellem Kapital. Erich Schmidt Verlag; 151 Seiten; 29,80 Euro
Arbeitskreis Wissensbilanz: www.akwissensbilanz.org
Professor Leif Edvinsson: www.corporatelongitude.com


Dieser Text stammt aus unserer Redaktion Corporate Publishing.