Der Volkswein

Imitation oder Differenzierung? Noch in den sechziger Jahren galt kalifornischer Wein unter Kennern als ungenießbar. Ausgerechnet der Anbau der anspruchsvollen Chardonnay-Traube sollte das ändern:
Amerikanische Weinbauern kopierten das französische Vorbild exakt und überholten das Ursprungsland innerhalb weniger Jahre. Heute ist Kalifornien das viertgrößte Weinanbauland der Erde.




Es war ein Top-Spiel vor heimischer Kulisse, und mindestens so hochkarätig wie die Zuschauerschaft waren die Kandidaten, die sich an diesem denkwürdigen Tag gegenüberstanden. Vier der besten, teuersten, begehrtesten französischen Chardonnays stellten sich im Pariser Hotel Intercontinental dem Vergleich mit sechs Chardonnays aus Kalifornien. Damals, im Mai 1976, war das die unfairste Paarung, die sich in der Weinwelt denken ließ – etwa so, als würde Real Madrid daheim gegen den FC St. Pauli antreten und außerdem noch den Schiedsrichter stellen.

Im Intercontinental hatte sich die Crème der französischen Weinwelt versammelt – darunter Pierre Tari, Generalsekretär der Association des Grands Crus Classés sowie Raymond Oliver, Doyen der französischen Gourmetkritiker – um die Giganten der Grande Nation mit den namenlosen Newcomern zu messen.

Deren Heimat galt damals als eine Art Sibirien des Weinbaus. Ende des 19. Jahrhunderts hatte eine verheerende Reblausplage die Weinberge kahl gefressen, ab 1919 trockneten 14 Jahre Prohibition auch die letzten überlebenden Reste ambitionierten Anbaus aus. Seitdem kamen aus dem Golden State fast nur noch Billigweine, die unter der heißen Pazifiksonne zu Fruchtbomben mit astronomischem Alkoholgehalt herangezogen und unter Fantasienamen abgefüllt wurden. Selbst Gästen des Weißen Hauses servierte man damals nicht einheimischen, sondern grundsätzlich französischen Wein – ersteren hätten Besucher wohl als diplomatischen Affront aufgefasst.

Ein Weinbauparadies am Pazifik

Und doch gab es ein paar Einzelgänger, die den Glauben an das heimische Terroir partout nicht aufgeben mochten. Einer von ihnen hieß Robert Mondavi. „Wir sahen im Wein ein Geschäft – die großen Chateaux Europas aber behandelten Wein als hohe Kunst“, schreibt der Sohn italienischer Einwanderer in seiner Autobiografie. „Ich war mir sicher, dass wir das im Napa Valley genauso gut konnten oder sogar besser! Es würde Zeit, Geld, Geduld erfordern und genaue Kenntnisse darüber, wie man in Bordeaux Wein macht ... Aber wir konnten schnell lernen und entscheidende Sprünge in der Qualität unserer Weine machen.“

Vermutlich ahnte nicht einmal Mondavi selbst, wie sehr er Recht behalten sollte – und dass sein Plan gegen die wichtigste Strategieregel verstieß:
Die klassische Lehre predigt Differenzierung, Mondavi plante die Kopie, er wollte am Pazifik ein zweites Bordeaux errichten. 1966 gründete er im Tal zwischen Mayacamas- und Vaca-Gebirge die Robert Mondavi Winery – den ersten neuen Weinanbaubetrieb seit dem Ende der Prohibition. Mondavi organisierte Verkostungen, um seine Landsleute mit dem für sie fremden Getränk vertraut zu machen, stellte sein Weingut auf modernste Produktionsmethoden um und beschäftigte Führer, die seine Kundschaft durch seine Weinberge leiten sollten. Sie hatten wenig zu tun, damals kam kaum jemand auf die Idee, von San Francisco rund zwei Stunden mit dem Auto zu fahren, um sich am Ziel mit Kopfschmerz förderndem Fusel abfüllen zu lassen. Im Tal wurde sein Vorhaben deshalb nur „Robert’s folly“, Roberts Schnapsidee, genannt. Aber er ließ sich nicht beirren. Mondavi, der Winzersohn war ein Besessener, „eine Dampfwalze“, wie er selbst von sich sagt.

Einer der Ersten, die schließlich doch den Weg zu ihm fanden, war ein junger Franzose. Bernard Portet, Sprössling einer Familie, die seit Generationen im Weinbau arbeitete (Bernards Vater beispielsweise stand als Technischer Direktor in den Diensten von Château Lafite), war von dem amerikanischen Kaufmann John Goelet mit Geld und dem Auftrag versehen worden, auf der ganzen Welt nach einem Standort für ein neues, erstklassiges Weingut zu suchen. Nachdem Portet binnen zwei Jahren dreimal die Erde umrundet hatte, fand er ihn: im Napa Valley.

„Eigentlich ist es hier viel zu heiß für guten Wein. Die Trauben reifen zu schnell, lange bevor sie überhaupt so etwas wie komplexen Geschmack entwickeln können“, sagt der mittlerweile grauhaarige Portet, 59 Jahre alt und vinologischer Chef des heute weltumspannenden Goelet-Weinkonzerns. „Der kalte Wind vom Pazifik und die Nebel aus der San Francisco Bay sorgen jedoch für deutliche Abkühlung. Das merkte ich jedes Mal, wenn ich nachts mit heruntergekurbelter Scheibe durchs Tal fuhr. Meine Klimaanlage war kaputt, also streckte ich den Ellbogen aus dem Wagenfenster, und mein Ellbogen sagte mir: Wenn man irgendwo in Kalifornien große Weine machen kann, dann hier.“

Portets Ellbogen, so viel steht heute fest, war Gold wert. Für jene Pferdewiese, die er 1971 in Napas Südosten roden und mit Reben bepflanzen ließ, zahlte Portet 4500 Dollar pro Acre – heute wären 200.000 bis 300.000 Dollar fällig, aber heute käme wohl niemand mehr auf die Idee, Land im Napa Valley zu verkaufen.

Nachdem die Wiese umzäunt, bepflanzt und mit einer ordentlichen Winzerei versehen war, taufte Portet sie auf den Namen Clos Du Val. 1972 produzierte Clos Du Val erstmals Weine, die die Eleganz von Portets alter Heimat mit jener Frucht und Fülle kombinierten, wie sie nur seine neue hervorzubringen im Stande war. Manchmal, wenn Portet in seine Heimat zurückkehrte, wurde er von seinen Landsleuten als Verräter beschimpft. Die meisten aber nahmen ihn überhaupt nicht ernst.

Er läuft und läuft und läuft: amerikanische Weine im Vergleich (Angaben in Millionen Kisten à 12 Flaschen)

1990199119921993199419951996199719981999200020012002
Chardonnay9,010,513,516,018,221,124,327,029,032,234,635,740,0
White Zinfandel14,014,516,016,517,317,818,420,020,921,521,020,820,8
Merlot0,81,01,72,32,83,85,88,310,613,114,915,217,3
Carbernet Sauvignon4,95,67,08,08,810,011,812,312,713,614,814,916,0
Fume/Sauv. Blanc4,24,65,25,05,05,45,45,25,05,05,25,05,2
Zinfandel0,80,91,11,11,21,42,12,42,62,93,23,13,1
White Grenache4,24,14,14,04,54,84,84,64,13,73,53,33,0
Pinot Noir0,30,30,40,40,50,60,70,70,60,70,80,80,9
Pinot Grigio/Gris****0,10,10,10,10,20,30,40,60,9
Shiraz/Syrah*****0,10,10,10,10,20,30,50,8
andere5,96,26,05,75,24,94,74,13,33,33,12,72,6
Quelle: IMPACT DATABANK

Kein Geld, wenig Erfahrung, aber jede Menge Leidenschaft

„Das positivste Urteil, das wir damals zu hören bekamen, lautete: gar nicht so schlecht für einen kalifornischen Wein“, erinnert sich Bo Barrett, ein hoch gewachsener, braun gebrannter Winzer mit Shorts, Blundstone-Stiefeln und Musketier-Bart, „vorausgesetzt, wir konnten überhaupt irgendjemanden dazu bewegen, unsere Weine zu probieren.“ Bos Vater, ein Immobilienmakler aus Los Angeles, hatte 1971 oben im Tal ein verlassenes Weingut gekauft und für seine Familie wieder hergerichtet. Für Bo, damals 18 Jahre alt, brachen mit dem Umzug ins Château Montelena harte Zeiten an: „Das Napa der Siebziger war ein wirklich ländliches Tal. Keine Mädchen, keine Wellen zum Surfen, keine Clubs. Es war fürchterlich.“ Wie Portet und Mondavi pflanzte auch Barrett im warmen Herzen des Napa-Tals rote Cabernet-Sauvignon-Reben, an den kühleren Rändern jedoch Chardonnay.

In der Weinwelt gilt diese Traube als leicht zugänglich, leicht zu konsumieren und trotzdem irgendwie interessant. Mitunter sogar umwerfend. Die besten Chardonnays der Welt kamen damals von der Côte d’Or, dem goldenen Hang, im französischen Burgund. Dort wachsen die berühmtesten Exemplare auf winzigen Parzellen, den so genannten Grand-Cru- und Premier-Cru-Lagen, deren bloße Erwähnung ausreicht, um bei Weinkennern verstärkten Speichelfluss auszulösen. Kalkige Böden verleihen ihnen einen eleganten, mineralischen Charakter; das kühle Klima und wechselhaftes Wetter sorgen dafür, dass ihre Trauben langsam genug reifen, um sich bis an den Schalenrand mit komplexen Geschmacksnuancen voll zu saugen. Burgundische Chardonnays sind die teuersten Weißweine der Welt. Und die Amerikaner machten sich munter daran, sie zu kopieren.

„Natürlich war es verrückt, diesen großartigen Weinen nacheifern zu wollen“, bestätigt Bo Barrett, der das Château Montelena vor ein paar Jahren von seinem Vater übernommen hat. „Wir konnten die französischen Kalkböden nicht importieren und das burgundische Wetter auch nicht. Wir verfügten weder über große Namen noch über eine Marketingstrategie. Wir hatten wenig Erfahrung, kaum Tradition und fast kein Geld – niemand war ja bereit, für unsere Weine etwas auszugeben.“

Aber Barrett und seine kalifornischen Winzerkollegen hatten jede Menge Leidenschaft, den Vorteil, nicht durch Traditionen gebunden zu sein, und die Freiheit, alles auszuprobieren. Also imitierten sie, was ihnen am französischen Vorbild nützlich schien – und betraten daneben Neuland. Robert Mondavi beispielsweise setzte auf moderne Wetterstationen und Satellitenbilder der Nasa, mit denen sich die Reife seiner Trauben exakt bestimmen ließ (eine Technik, die heute überall auf der Welt zum Einsatz kommt). Barrett wiederum übte sich nach seinen Besichtigungstouren in Europa vor allem in der Kunst des Weglassens: „Natürlich setzten wir auch die bestmöglichen Technologien ein – und was bedeutet das anderes, als die Ideen anderer Leute zu klauen?“ 1973 füllte er seinen ersten Chardonnay auf Château Montelena ab. Drei, vier Fässer seien es wohl gewesen – mehr, glaubte er damals, würde sich ohnehin nicht verkaufen lassen.

Das Beste aus beiden Welten

Fünf kalifornische und fünf französische Chardonnays, empfohlen von Paula Bosch, der Chefsommelière im Münchner Restaurant Tantris:

  • Mer Soleil Chardonnay Santa Lucia 2000
  • Kistler Chardonnay Sonoma Valley 2000 - Ramey Chardonnay Russian River 2000
  • Landmark Vineyards, Sonoma Valley
  • Chardonnay Damaris Reserve 2000
  • Au Bon Climat Le Bouge d’à Côté 1999
  • Puligny-Montrachet Les Pucelles Domaine Leflaive 1999
  • Batard-Montrachet, Michel Niellon 1996
  • Clos de la Barre Comte Lafond 1999
  • Chassagne-Montrachet Morgeot Bernard Morey 1999
  • Puligny-Montrachet Les Champs Canet Louis Carillon 1999

Alarm in der Weinwelt

Zufällig reiste in diesen Tagen jedoch ein neugieriger Engländer durchs Tal, kostete hier und da und nahm ein paar Flaschen von Barretts Ernte mit nach Europa. Der Mann hieß Steven Spurrier, war Weinhändler und Organisator jener denkwürdigen Verkostung, die am Morgen des 24. Mai 1976 im Intercontinental über die Bühne ging. Wie üblich wurden vor Beginn des Wettbewerbs die Flaschen verdeckt und den Juroren blind zum Probieren gereicht. Die neun Preisrichter sahen sich in ihren Erwartungen schnell bestätigt: „Dieser Wein kommt definitiv aus Kalifornien, er hat kein Aroma“, erklärte ein Experte kategorisch – und nicht ahnend, dass er gerade einen 1973er Bâtard Montrachet aus dem Burgund beleidigt hatte. Ähnlich erging es Raymond Olivier. „Aaah, endlich wieder in Frankreich!“, seufzte der berühmte Weinkritiker, nachdem er an einem Napa-Chardonnay genippt hatte. Als die Flaschen schließlich enthüllt und die Ergebnisse bekannt wurden, konsternierten sie nicht nur die Jury, sie alarmierten die gesamte Weinwelt: Drei der vier erstplatzierten Chardonnays stammten aus Kalifornien, Barretts 1973er Château Montelena ging aus der Blindverkostung sogar als Sieger hervor. „Kalifornien besiegt alle Gallier!“, jubelte Time in seiner Ausgabe vom 7. Juni 1976 (Nachdrucke des Artikels liegen noch heute im Tasting Room von Château Montelena aus). Nur Stunden nach Erscheinen des Magazins war Château Montelena amerikaweit ausverkauft, bei den Barretts klingelte ununterbrochen das Telefon, und die Grundstückspreise im Tal stiegen in einer Woche um 30 Prozent.
Und das war erst der Anfang des Valley-Booms.

Kleine Auflagen zu atemberaubenden Preisen

„Die Verkostung war ein wirklich katalytischer Moment“, erzählt Barrett. „Danach setzte eine regelrechte Stampede ins Tal ein.“ Die kleine Napa-Winzervereinigung, die 1972 gerade 19 Mitglieder zählte, wuchs bis 1978 auf mehr als 100. Zehn Jahre später waren es schon gut 200. Selbst das feine Haus Taittinger erwarb am Talausgang Land und pflanzte mitten hinein die exakte Kopie eines französischen Châteaus. Der Regisseur Francis Ford Coppola kaufte sich bei der feinen Niebaum Winery ein, ein paar Kilometer weiter den Freeway 29 hinunter errichteten Herzog & de Meuron das berühmte Dominus-Weingut, das heute als eines der architektonisch herausragendsten der Welt gilt. Gleich auf der anderen Straßenseite gründete der renommierte französische Winzer Baron Philippe de Rothschild mit Robert Mondavi ein Joint Venture, das das Beste aus beiden Welten zusammenbringen und in Flaschen füllen sollte.

Ermutigt vom Erfolg der Pioniere, eröffneten überall im Tal kleine „Garagen-Winzereien“, die extrem anspruchsvolle Weine in extrem kleiner Auflage und zu atemberaubenden Preisen auf den Markt brachten. Die Immobilienmaklerin und Winzerin Jean Phillips beispielsweise, die die erste Ernte ihres Screaming Eagle noch in einer Plastik-Mülltonne vergoren hatte, erzielte vor drei Jahren den höchsten Preis, der jemals für eine Flasche Wein gezahlt wurde: 500.000 Dollar für eine einzige Sechs-Liter-Bouteille.

Mit dem Höhenflug des Napa Valleys setzte auch der Chardonnay zu einem weltweiten Siegeszug an. Ironischerweise war dies vor allem ein paar Kleinigkeiten zu verdanken, die die kalifornischen Winzer eher aus Not anders machten als ihre berühmten französischen Vorbilder. Weil es in Amerika keine wohlklingenden Lagenbezeichnungen wie Meursault oder Puligny-Montrachet gab, mit denen die Winzer ihre Etiketten hätten schmücken können, schrieben die Kalifornier schlicht Chardonnay aufs Label ihrer Flaschen. „Chardonnay – das konnte selbst der letzte Potatohead aus Idaho aussprechen“, lästerten die Weinkritiker Cornelius und Fabian Lange. Das stimmte und hatte außerdem den Vorteil, dass nun auch der letzte Potatohead Chardonnay kaufen konnte – ohne Angst vor großen Namen und hohen Preisen.

Über Wein:

Stuart Pigott: Schöne neue Weinwelt – Von den Auswirkungen der Globalisierung auf die Kultur des Weines. Argon Verlag, 2003; 348 Seiten; 24,90 Euro

Robert Mondavi: Harvests Of Joy. Harcourt 1999; 364 Seiten; 14 Dollar

Cornelius und Fabian Lange: Keine Angst vor Wein – Der ultimative Crashkurs der Gebrüder Lange. Hallwag, 2000; 144 Seiten; 14,90 Euro

Paula Bosch und Eckart Witzigmann: Küchengeheimnisse & Weinentdeckungen – Aufgetischt von Eckart Witzigmann und eingeschenkt von Paula Bosch. Econ Verlag, 2003; 220 Seiten; 25 Euro

Weingüter im WWW:

www.chateaumontelena.com
www.galloofsonoma.com
www.mondavi.com
www.closduval.com

Toast mit Butter

Weil es in der Neuen Welt kaum alte Fässer gab, importierten die Kalifornier notgedrungen teure neue Fässer aus französischer Eiche, die ihren Chardonnays einen typischen toastartigen, butterigen Beigeschmack verpassten. Diese Barrique genannte Eichennote avancierte – zusammen mit hohem Alkoholgehalt und starken Fruchtnoten – schnell zum Markenzeichen kalifornischer Chardonnays, die nun immer häufiger massenhaft abgefüllt wurden. Und weil am Pazifik das Klima angenehm berechenbar ist (und nicht wechselhaft wie im Burgund, was im besten Fall für herausragende, mitunter aber auch für sehr mäßige Jahrgänge sorgt), konnten Barrett und seine Kollegen zuverlässig Jahr für Jahr günstige, ordentliche Tropfen auf den Markt bringen. Anders als die burgundischen Vorbilder, die häufig erst nach zehn, fünfzehn Jahren im Keller zu voller Größe heranreiften, waren die US-amerikanischen Kopien meist vom Regal weg ready to drink.

So kam die klassische Strategielehre zumindest in Teilen zu ihrem Recht: Den ganz großen Erfolg brachte erst die Differenzierung vom Vorbild. Gleichzeitig war die Ähnlichkeit der Kalifornier untereinander Bedingung für den weltweiten Siegeszug. Denn weil der Volks-Chardonnay in ausreichender Menge und verlässlicher Qualität verfügbar war, konnten ihn erstmals auch Supermärkte und große Weinhändler verkaufen. Dort griff eine völlig neue Kundschaft zu, die sich burgundische Chardonnays nie hätte leisten können oder wollen. Zwischen 1980 und 2000 verzwanzigfachte sich die kalifornische Chardonnay-Ernte auf 650.481 Tonnen, während die Sorten der Anfangsjahre – Grenache, Petite Sirah, Colombard, Chenin oder Sémillon – nahezu in Vergessenheit gerieten; weltweit wuchs die Anbaufläche in den Siebzigern und Achtzigern um 1500 Prozent.

Mit anderen Worten: Die Kalifornier demokratisierten das Produkt, das die Franzosen jahrhundertelang ehrfürchtig gehätschelt hatten, indem sie es in gleich bleibender Qualität, zu moderaten Preisen und unter einem Namen auf den Markt brachten, den sich jeder merken konnte. In den Vereinigten Staaten und in Australien avancierte Chardonnay sogar zum Synonym für Weißwein schlechthin. Kalifornien wuchs binnen weniger Jahren zur viertgrößten Weinbaunation der Erde. „California Chardonnay – diese beiden Worte scheinen heute unzertrennlich wie Bonnie und Clyde oder Fish and Chips“, konstatiert Tim Atkin in seinem Buch über die Modetraube der achtziger Jahre.

Imitierte imitieren Imitatoren

Klar, dass das den Connaisseuren sauer aufstieß. „Bei den Massenweinen hat der kalifornische Chardonnay einen neuen Stil geprägt: schwer, breit, fett und faul“, monieren die Gebrüder Lange. Ihre Erklärung: „Weil sich die meisten Weintrinker keinen echten Giga-Burgunder leisten können, wollen sie doch wenigstens einen Wein aus der Prestige- und Glamourtraube Chardonnay trinken.“ So weit, so falsch, denn was die Kritiker verschweigen: Es waren die Kalifornier, die den Chardonnay erst zur Prestigetraube polierten.

Kaum hatte Chardonnay Anfang der achtziger Jahre seinen Star-Status erreicht, traten weltweit wieder Imitatoren auf den Plan. Zunächst machten sich australische, südafrikanische, neuseeländische und chilenische Winzer daran, dem amerikanischen Weinwunder nachzueifern. „Die sagten sich: Was die Kalifornier können, können wir auch“, erinnert sich Bo Barrett, und wie sich herausstellte, konnten es tatsächlich viele. In einer Blindverkostung, die das britische Weinmagazin Decanter 1988 ausrichtete, belegte Australien die meisten Plätze unter den Top Ten, Südafrika und Neuseeland waren mit je einem Wein vertreten; zum besten Chardonnay wurde ein 1985er Robert Mondavi Reserve gewählt. Frankreich, das Land der großen Burgunder, kam mit keinem einzigen Wein unter die ersten zehn. Kein Wunder, dass die verunsicherten Franzosen nun begannen, ihre erfolgreichen Nachahmer nachzuahmen. Für die kalifornischen Winzer war dies das denkbar größte Kompliment, aus Sicht von Weinkennern war es ein Armutszeugnis: Dass heute im Burgund „Chardonnays gemacht werden, die die Kopien von den Kopien nachahmen, gehört zu den Treppenwitzen der Geschichte“, grummelten die Lange-Brüder.

Und weil dieser Witz nicht nur von den französischen, sondern auch von chilenischen, südafrikanischen, kalifornischen, australischen, italienischen und deutschen Winzern immer wieder erzählt wurde, kam er vielen Weintrinkern bald irgendwie alt vor. „Kaliforniens Chardonnay ist ein Opfer des eigenen Erfolges geworden“, konstatierte der Weinkritiker James Laube im Wine Spectator. Mitte der neunziger Jahre hörte man in Restaurants immer häufiger die Order: „A.B.C., please“ (Anything but Chardonnay, alles außer Chardonnay). Einige Chardonnay-Winzer gingen sogar dazu über, das Prädikat „unoaked“ auf die Etiketten zu setzen – als Beleg dafür, dass sie ihren Wein nicht verholzt hatten. Zwar ist er immer noch der unangefochtene Spitzenreiter unter den kalifornischen Weißweinen, die größten Zuwächse aber verzeichnet seit einigen Jahren der leichtere, frische, spritzige Pinot Grigio.

Wein-Profis wie Bo Barrett, Robert Mondavi und Bernard Portet ficht das wenig an. Während der Rest der Weinwelt noch staunend dem abziehenden Chardonnay-Sturm hinterherblickt, sind die Pioniere aus dem Napa Valley längst weiter: auf dem Weg zurück zu den Wurzeln. Genau wie ihre großen französischen Vorbilder versehen sie ihre anspruchsvolleren Gewächse mittlerweile mit genauen Lagebezeichnungen, den so genannten Appellationen, die für spezifische Qualität von einem ganz bestimmten Hang stehen. „Bevor wir diesen Schritt wagen konnten, mussten wir erst einmal Napa und davor Kalifornien als Qualitäts-Herkunftsgebiet etablieren“, erklärt Rich Arnold, Chardonnay-Winemaker bei Robert Mondavi. „Mittlerweile ist Napa so bekannt und das Angebot so breit, dass es an der Zeit ist, besondere Qualitäten auch entsprechend zu vermarkten.“ Genau so also, wie es die Franzosen seit Jahrhunderten tun.

Über Imitations- und Differenzierungsstrategie:

Roberto Buaron: New-game strategies. In: The McKinsey Quarterly, 1981, Nr. 1; S. 24–40

David L. Deephouse: To Be Different, or to Be the Same? It’s a Question (and Theory) of Strategic Balance. In: Strategic Management Journal, 1999, Vol. 20(2); S. 147–166

Michael E. Porter: What is Strategy? In: Harvard Business Review, 1996, Vol. 74, Nr. 6 (November – December); S. 61–78

Steven P. Schnaars: Managing Imitation Strategies. The Free Press, New York, 1994; 294 Seiten; 50,69 Euro

Jack Trout: Differenzieren oder verlieren – So grenzen Sie sich im Wettbewerb ab und gewinnen den Kampf um die Kunden. Redline Wirtschaft, München, 2003; 220 Seiten; 29,90 Euro


Dieser Text stammt aus unserer Redaktion Corporate Publishing.