Wo finden sich Glück, Mut und Zufriedenheit? Eine Reise durch Deutschland.

Die größte Online-Umfrage Europas gibt Auskunft über die Befindlichkeit der Deutschen: Leben, Wohnen, Arbeiten – die Zufriedenheit schwankt je nach Region. Das gilt auch für die Risikobereitschaft, sobald es ums Geld geht. Danach wohnen die zaghaftesten Deutschen in der Region Oder-Spree.
Die mutigsten im Allgäu. Auf der Suche nach den Ursachen, zwei Ortsbesichtigungen, offline.




Es geht ein S durch Deutschland. An einem Ende lebt die Angst. Am anderen der Mut. Die Angst beginnt im Osten, kurz hinter Berlin. Zieht in einem weiten Bogen über die Mecklenburger Seenplatte, durchquert den Norden und streift Ostfriesland. Im Emsland fasst sie Mut, im Ruhrgebiet beruhigt sie sich. Dann ab durch die Mitte: Sauerland und Rhön. Vor Bayreuth gewinnt das Gemüt an Schwung, spannt sich um den Süden, fegt durch Südostbayern und biegt sich am Ende zur Donau hoch.

So sieht das aus, trägt man die Antworten auf die Frage nach der Risikobereitschaft bei Geldanlagen in eine Landkarte ein. Das jedenfalls ist ein Ergebnis der Umfrage Perspektive-Deutschland von McKinsey & Company, stern.de und T-Online aus dem vergangenen Jahr.

170.000 Online-Umfragen und 2700 Offline-Interviews ergeben insgesamt ein repräsentatives Stimmungsbild der Nation: Im Prinzip sind die Deutschen guter Dinge, generell sogar reformfreudig und unabhängig. Aber nicht überall.

Und nicht in jedem Punkt. Das deutsche S: an seinem einen Ende die Region Oder-Spree, am wenigsten risikobereit, wenn es um Geldanlagen geht. Am anderen Ende die Region um Kaufbeuren, Kempten, Memmingen, kurz: das Allgäu, auch Bayerisch-Schwaben genannt.

Gründungsraten, Selbstständigkeitsquote, Arbeitslosenquote. Beim einen Top, beim anderen Flop. Was ist die Ursache? Also: Frankfurt an der Oder besuchen. Dann Kempten im Allgäu. In jeder Stadt einen Tag verbringen. Erst das eine Ende des S anschauen, dann das andere.

Teil 1: Brandenburger Sisyphus

In der Region Oder-Spree sollte die Osterweiterung Grund zur Hoffnung geben. Tatsächlich aber nährt sie bei nicht wenigen die Angst.

Pressekonferenz im Rathaus, großer Tisch, ein paar Stadtverordnete auf der einen Seite, ihnen gegenüber die Lokalpresse. Der Ton: erst offiziös, dann warm. Manfred Patzeld, der Oberbürgermeister, wirkt nervös, unterbricht sich selbst. Nimmt neue Anläufe, beginnt mit „dass“ und landet wieder im Satz davor. Das hat zwei Effekte: Wer ihm zuhören will, muss arbeiten, und Patzelt selbst wird unterschätzt.

Frankfurt an der Oder, am Rande der Republik. Knapp zwei Autostunden hinter Berlin, zwei Minuten bis Slubice, Polen. Stadtteile von Frankfurt/Oder tragen Kosenamen wie Neuberesinchen und Altberesinchen. In der Altstadt lungern Jugendliche. Sonnenschirme, Eiscafés, Waschbeton und Verschönerungsbrunnen. Frankfurt an der Oder, unterwegs in der Geschichte, ist die Hauptstadt der Verzagten.

„Die Leute haben Angst vor der Osterweiterung“, sagt Martin Patzelt später in seinem Büro. Wenn man auf dem Sofa neben ihm sitzt, versteht man ihn wieder, so aus der Nähe. Im März gewann er die Oberbürgermeister-Wahl. 38,5 Prozent haben gewählt. Viele blieben zu Hause. Der jüngste Konjunkturbericht der IHK Frankfurt (Oder) prognostiziert stagnierende bis sinkende Umsätze. Auf 1605 Gewerbeanmeldungen in Oder-Spree kamen vergangenes Jahr 1536 Abmeldungen. Seit Jahren wandern die beiden Zahlen aufeinander zu. Arbeitslosenquote: um die 20 Prozent. Kein Wunder, dass die Stimmung im Keller ist.

„Die Menschen hier befürchten einen Run auf ihre Arbeitsplätze nach der Osterweiterung“, sagt Martin Patzelt, „dabei bietet die Region doch eine echte Chance – aber die Leute haben das überhaupt nicht aufgenommen.“ Die meisten Warenströme fließen gen Osten, nicht umgekehrt. Die Wirtschaftsförderung richtet sich pragmatisch entlang der Ost-West-Achse aus, bis nach Litauen oder China. Der erste Investor auf dem Gelände des Europe Transport and Trade Centers (ETTC) stammt aus Weißrussland. Zwischen Eisenhüttenstadt und Frankfurt ist ein deutsch-polnisches Callcenter geplant, und die Industrie- und Handelskammern von Frankfurt und Slubice bauen ein gemeinsames Kompetenzzentrum auf. Mitten in der Stadt steht die Europa-Universität Viadrina, und wenn am Ostrand die Sonne abends auf das Stahlgerüst der Stadtbrücke scheint, leuchten die prallen Tragetaschen der Polen, die unterwegs nach Hause sind. Und sollten sich in ein paar Jahren die Grenzen zum Osten öffnen, dann könnte der Speckgürtel um Berlin endlich Fett ansetzen, wie der um München.

Aber die Menschen sind misstrauisch, die Betriebe ausgezehrt. Die Eigenkapitaldecke der Ostbetriebe ist um ein Drittel dünner als im Westen. Es fehlt an Großunternehmen, die Rezessionen abfedern. Die Mehrzahl der ostdeutschen Industriebetriebe kann derzeit ihr Eigenkapital nicht erwirtschaften und hat damit keine Spielräume für die Steigerung ihrer Leistungs-, Wettbewerbs- und Konkurrenzfähigkeit, so die Diagnose einer Studie der Hans Böckler Stiftung. Das weist auf ein Kernproblem hin.

Seit 1997 rutscht der Osten ab. Um bis 2010 wenigstens den Anschluss an die schwächsten der alten Bundesländer erreicht zu haben, ein West-Wachstum von zwei Prozent zugrunde gelegt, müsste die Wirtschaft jedes Jahr um 5,3 Prozent wachsen. „Schwer vorstellbar“, konstatiert die Studie. Die Unternehmensdichte liegt um ein Drittel unter der des Westens. Es hilft also nur: gründen, gründen, gründen. Aber wer soll kaufen?

„Es reicht nicht, es reicht nicht!“, ereifert sich Martin Wilke, Geschäftsführer des Technologieparks Ostbrandenburg. Er hat vieles angestoßen: die deutsch-polnischen Gehversuche, das Schlagwort von der „Polenkompetenz der Region“, den Plan für ein großes EU-Pilotprojekt für Altautoverwertung namens e.car (European Complete Auto Recycling) in der Nähe von Eisenhüttenstadt. Martin Wilke ist Physiker, ehemals in einer DDR-Halbleiterfabrik. Deren Belegschaft wurde in zwölf Jahren von 8000 auf 50 abgebaut; aber immerhin wurde das Know-how in das weltweit renommierte Institut für Halbleiterphysik (IHP) hinübergerettet. Klar, dass Wilke und das IHP auch eine Chip-Fabrik am Ort wollten, und sie waren schon ganz nah dran. Aber dann hat Singapur den Brandenburgern die Investoren vor der Nase weggeschnappt. Die Asiaten hätten einfach das bessere Angebot gemacht‚ meint auch Wilke. „Wir bauen euch die Fabrik, haben die gesagt, und zwar komplett.“ Das war für Wilke Teil eines Crash-Kurses in globaler Wirtschaft, und er hat seine Lektion gelernt. Das Lernergebnis: „Wir haben beschlossen, unsere Patente nicht mehr zu verkaufen und stattdessen unser Know-how für die eigene Region zu nutzen.“ Die Voraussetzungen waren gut. Im IHP wussten sie, wie man Chips schneller und günstiger herstellt. Mit Intel fand sich ein kompetenter Partner. IHP und Intel schlossen sich zusammen und gründeten selbst eine Chip-Fabrik. Das Joint Venture war 1,5 Milliarden Euro schwer.

Risikoarmut? Umdenken? Wilke wird zynisch: „Schauen Sie sich doch an, was im Westen passiert, wenn man da auch nur den grünen Rechtsabbiegerpfeil einführt. Hier hat sich innerhalb kurzer Zeit etwas mehr geändert als nur eine Verkehrsregel.“ Nur: Mit der Osterweiterung nähere die arg strapazierte Veränderungsbereitschaft sich jetzt einem kritischen Stadium: „Nach zwölf Jahren kommen jetzt schon wieder ganz neue Rahmenbedingungen.“ Natürlich gebe es zahlreiche Unternehmen, die sich schon jetzt von Frankfurt aus in Polen engagieren. Aber die reden nicht darüber, „weil sie nicht wollen, dass ihre Kunden das mitbekommen“.

„Wir in den neuen Bundesländern können nur auf Innovation setzen. Aber wer bürgt dafür, dass das was bringt? Im gesamten deutschen Osten gibt es nicht halb so viele Arbeitsplätze im Bereich Forschung und Entwicklung (F+E) wie allein in Baden-Württemberg“, rechnet Martin Wilke vor. Mit fast 100.000 Angestellten arbeiten im Südwesten über 20 Prozent des deutschen F+E-Personals. Bayern bindet weitere 19 Prozent, es folgt Nordrhein-Westfalen mit 16 Prozent. Dann kommt lange nichts. Irgendwann dann Brandenburg: 7000 Stellen, 1,5 Prozent. Das ist nicht nur in absoluten Zahlen zu wenig: Um auf baden-württembergische Relationen zu kommen, fehlen mindestens 10.000 F+E-Jobs – die wichtigsten Vorbedingungen für langfristigen Strukturwandel und Wachstum.

Immerhin ist die Hochschuldichte – statistisch gesehen – quer durch die Republik ziemlich homogen. Gewiss: Im Osten wurden die alten Forschungsnetzwerke erst evaluiert und dann zerschlagen, und auch deshalb ist der Wissenstransfer zur Wirtschaft mangelhaft. Doch das ist von eher zweitrangiger Bedeutung, denn zwei Drittel der Forschung finden ohnehin in der Wirtschaft statt. Die Forschungslücke klafft also im Privatsektor, besonders bei kleineren und mittleren Betrieben, deren Finanzdecke schrumpft. Der Teufelskreis schließt sich. Dem Osten fehlt nicht nur der Mut. Ihm fehlt Substanz: Geld.

„Natürlich haben Sie nach der Normalverteilung nur eine beschränkte Masse an Gründertypen“, sagt der Physiker. „Aber vor allem brauchen wir Kapital von außen. Und ein Bekenntnis zur Innovationskraft im Osten, aber das ist natürlich ein politisches Risiko.“ Martin Wilke weiß, dass er nölt. Er weiß auch, er hat Recht. „Was wir jetzt brauchen, ist ein ausgereifter Kapitalismus“, fordert der Physiker und grinst. Klingt ulkig, wenn er das so sagt, als Brandenburger. Gerade haben sie den Hanse Club e. V. gegründet, für Unternehmer mit Verantwortung. Denn Parteipolitik hilft nicht weiter. Ach ja: Und es läge eine gewisse Demütigung darin, wie die klassischen Parteien mit Ost-Biografien und -Lebenswelten umgegangen seien, sagt Martin Wilke noch.

Wilke redet in diesem rasanten Brandenburger Lamento-Singsang. Gemessen daran, spricht Martin Patzelt, der Oberbürgermeister, langsam. Aber beide reden sie ohne Punkte, Kommas oder Überschriften, nehmen, was sie gesagt haben, gern zurück, wenn es zu sloganartig dahergekommen ist, und beide, der impulsive Geschäftsführer wie der nachdenkliche Bürgermeister, stehen immer wieder vor der größten Baustelle von allen: dem Selbstbild.

„Wirtschaftsentwicklung ist eine Frage der Identität“, meint Martin Patzelt. „Wir können nicht alles auf einmal ändern.“ Obwohl er sich das manchmal wünsche, setzt er leise nach. Aber dann ist da die allgemeine Verzagtheit. „Wir müssen Erlebnisräume organisieren, die das Gefühl vermitteln, es geht was los.“ Den 750. Geburtstag von Frankfurt/Oder feiern sie gemeinsam mit Slubice.

Der Oberbürgermeister ist studierter Sozialarbeiter. Zu Ostzeiten leitete er ein kleines Heim für schwer erziehbare Jugendliche in Sachsen-Anhalt. Deshalb sieht Patzelt die Dinge wohl auch psychologisch: „Die gesamte Region ist in einer kindlichen Situation“, sagt er. „Die Menschen identifizieren sich mit dem Bild, das andere von ihnen haben.“ Das Ziel sei aber, Eigenständigkeit, „Selbststand“, sagt Patzelt, zu entwickeln. Wer sich abschotte vor dem, was auf ihn zukommt, auch vor der eigenen Angst, „der wird nicht überleben“. Das war schon bei den Jugendlichen im Heim so. Beim Abschied, in der Tür seines Büros, sagt der Oberbürgermeister: „Vielleicht braucht die Stadt ein wenig Sozialpädagogik?“ Das klingt sehr warm und zuversichtlich. Dann zweifelt er: „Ob man das so sagen kann?“

Teil 2: Allgäuer Miniaturen

Früher arme Leute, dann Ingenieure, immer noch verschroben: Die Allgäuer sind die Finnen Deutschlands.

Wenn man von Norden kommt, gleicht das Allgäu einer Badewanne mit ordentlich Wasser drin. Eine von allen Seiten eingeschlossene Hochebene, im Süden die Alpen wie fester Badeschaum. Häuser ducken sich in Hügel. Kühe. Heimatfilm. Bayerisch-Schwaben: in Deutschland ganz unten, aber nach der Umfrage in jeder Beziehung ganz weit oben. Wahrscheinlich kommt jetzt die übliche Geschichte über Netzwerke, kurze Wege und Pioniergeist.

Anruf bei der Firma Abt Sportsline GmbH, einem Familienunternehmen mit 106 Jahren Geschichte. Weltweit die Nummer eins im Tuning für Audi, VW, Skoda und Seat. Einer der Chefs, Christian Abt, Geschäftsführer und Technischer Leiter, fährt selbst Tourenwagen-Rennen.

Am Telefon ist Robert Heine, Assistent der Geschäftsleitung: „Eigentlich reden wir über so was nicht gern.“ – „Worüber reden Sie nicht gern?“ – „Ja über unser Geschäftsmodell, unsere Strategie, die Umsatzzahlen, die Organisationsform, unsere Software.“ – „Sie reden also am liebsten über gar nichts?“ – „Genau.“ – So was hätte mir noch nie einer gesagt, meine ich. – „Ja, das liegt dann wohl an der Allgäuer Mentalität“, sagt Heine.

Anruf bei Hans Gaul. Hans Gaul leitet drei Technologiezentren. „Wieso wollen Sie mich treffen?“ – Es geht um den Vergleich zweier Regionen. – „Und was soll dabei rauskommen?“ – „Ein Artikel.“ – „Ja, und was soll, bitte schön, da drinstehen?“, fragt er. – „Was die Allgäuer besser machen als alle anderen.“ – „Ich erzähle Ihnen doch nicht, wie wir das hier machen!“ So geht das noch 20 Minuten, dieses herzlich abweisende bayerische Granteln, das schon bei Franz Josef Strauß faszinierte: Du wirst abgekanzelt und hast Spaß dabei. Hans Gaul leitet den Hightech-Park Innova-Allgäu in Kaufbeuren, das Technologie- und Dienstleistungszentrum Sontra in Sonthofen und das Gründerzentrum Cometa in Kempten. „Aber wollen Sie nicht, dass die Leute über die Region hinaus erfahren, was hier geht?“ – „Aber da hab’ ich doch gar nichts davon.“ – Irgendwann: „Ach egal, kommen Sie vorbei.“

Hans Gaul sieht aus wie Marlon Brando in den besten Jahren. Seit 38 Jahren ist er bei der J. Dobler GmbH, dem Bauunternehmen, das auch die drei Parks betreibt. Sein Schreibtisch steht in der Ecke eines Großraumbüros, das mit wuchtigen graubraunen Systemplastikmöbeln zugestellt ist. Gaul führt mich hinter eine Glasscheibe in eine Art Lager, da ist ein Tisch, da kann man reden. Hinterzimmer.

Hans Gaul will sich nicht fotografieren lassen, und zitiert zu werden, noa, das mag er auch nicht. Innova, Cometa, Sontra sind privatwirtschaftliche Unternehmen. Innova entstand 1994, nach dem Rückzug der Firma Digital, und statt das Gebäude komplett zu vermieten, haben sie es aufgeteilt und überlegt: Was brauchen junge Unternehmen? „Wir dachten, es werden so 20 Firmen“, sagt Gaul, „und jetzt haben wir 45.“ Seine großen Hände würfeln die Zahlen über den Tisch, der wie die braunen Plastikmöbel aus der Konkursmasse des Vormieters stammt, „die waren doch noch gut, wieso sollten wir die wegschmeißen?“

Die nächste Idee, Cometa, fand Förderer in der Stadt Kempten und der Technologieoffensive des Freistaates. Gaul holt einen Gebäudeplan und zeigt den Grundriss, sieht aus wie eine Art Hufeisen: Im Kern sitzen die jungen Unternehmen. Wenn sie nach fünf Jahren aus der Gründungs-Enklave ausziehen müssen, baut Dobler einfach an den Längsseiten an. Keine Synergieverluste. Bingo.

Ob sie andere Technologieparks studiert hätten? „Ach was“, sagt Hans Gaul, „das haben wir uns hier so ausgedacht.“ Hinter ihm hängt der Plan für ein Immobilienprojekt, am Rand laufen Powerpoint-Pfeile: „Idee -> Planen -> Grundstück -> Finanzieren -> Bauen -> Betreuen -> Betreiben“. „Wir sind keine Spekulanten“, sagt Gaul, „aber es braucht nun mal einen Kümmerer“, und das sei ihr Erfolgskonzept. Und er sagt wirklich: Kümmerer. Nicht Caretaker oder Ansprechpartner. Ein Kümmerer, das ist einer, der sich um die Anlage kümmert, der nicht dasitzt und sagt, „man sollte“, sondern einer, der macht und tut. „Ohne Kümmerer klappt nichts“, Pause, „und wenn einer flügge wird ...“ Ja?

Gaul lehnt sich vor, öffnet seine Arme zum Tor und leitet lieber über zum Begriff der Ideenbörse. Hat es neulich hier gegeben, zum Spaß, für die Bastelköpfe, Macher, Frickler, Freizeitingenieure und Erfinder, ein Wettbewerb für die „Allgäuer Mächler“. Der Sieger hatte einen gekrümmten Bierstrahl erfunden, eine Zapfanlage, die das Bier quer durch die Kneipe in das Glas am Tisch befördert. „Ja“, strahlt Gaul, „ja, ja, die Mächler.“ Die Allgäuer Mächler. „Schon mal davon gehört?“, fragt später Anton Felder, Leiter Marketing und Vertrieb von Ott Hydrometrie, einer der Weltmarktführer für Wassermessgeräte. Um 15 Prozent ist der Umsatz im vergangenen Jahr gewachsen. 17 Prozent des Umsatzes fließen in Forschung und Entwicklung. Das ist fast das Dreifache des Bundesdurchschnitts. „Ist nicht selten hier“, sagt Anton Felder und nennt Allgäuer Unternehmen von Welt, die im Allgäu aufgewachsen und im Allgäu geblieben sind: Fendt, Linde, Dachser.

„Die Allgäuer sind extrem bodenständig“, sagt er und blättert sich vor zur Seite zehn des Bandes zum 125-jährigen Firmenjubiläum. Erstes Kapitel: „Mächler und Kaizen“: „Ein besonderes Merkmal des Allgäuers ist seine Nachdenklichkeit, ein weiteres, daraus folgend, seine Art, alles zu hinterfragen. Gegebenheiten des Lebens und viele Tätigkeiten werden von ihm theoretisch und praktisch untersucht und, wenn nötig, verbessert. Der Allgäuer Dialekt-Ausdruck Mächler, der von ,machen‘ oder etwas ,machbar machen‘ herrührt, beschreibt diese Eigenschaften sehr treffend. ... Die von japanischen Firmen verinnerlichte Botschaft des Kaizen heißt, dass kein Tag ohne irgendeine Verbesserung im Unternehmen vergehen soll. Der Beginn einer Verbesserung ist das Erkennen ihrer Notwendigkeit, und diese wiederum beginnt mit dem Erkennen eines Problems.“

In der unteren Etage ist eine Ausstellung zur Geschichte des Unternehmens aufgebaut, in der Ecke ein Bechstein-Flügel, im Flur hängen Kinderbilder. „Familie und Beruf gehören zusammen“, sagt Anton Felder und lächelt, „noch so eine Allgäuer Philosophie.“ Dann ist da noch der alte Mann mit Hut und Rauschebart. „Unser Hausmeister. Ist früher zur See gefahren“, erklärt Felder die Erscheinung und sagt: „Grüß Gott.“

„Hartnäckig, zäh und sturschädelig“, so beschreibt Richard Schießl den Allgäuer an sich. Er selbst ist aus Schwaben, ein Zugezogener. Seit fünf Jahren leitet Richard Schießl das Kemptener Amt für Wirtschaftsförderung und Stadtentwicklung. So an die vier Jahre, schätzt er, hat es gedauert, bis die Leute ihm vertraut haben. In den ersten drei Monaten besuchte er jeden Kemptener Betrieb. „Die waren völlig überrascht“, erinnert sich Schießl. Da kam einer – und wollte nichts von ihnen?

Großartige Ziele verfolgt Schießl mit seiner Wirtschaftsförderei nicht. „Lieber die Projekte sauber abschließen“, winkt er ab, „intensiven Kontakt mit den Unternehmen pflegen und sich kümmern, dass es funktioniert.“ Das mit dem Kümmern betont Schießl genauso wie Hans Gaul. „Diese Drei-Phasen-Pläne funktionieren nicht. Das hat schon bei Rumpelstilzchen nicht geklappt.“

Und was ist nun mit der hohen Risikobereitschaft hier? Eigentlich, sagt Schießl, könne er sich darüber nur wundern, und er kramt in seiner inneren Statistik: „Aber unsere Gründungsrate liegt weit über dem deutschen Durchschnitt.“ Genauer: um 38 Prozent. Obwohl es im Allgäu weniger Hochschulen gibt als im Bundesschnitt, und auch der Anteil der in Forschung und Entwicklung Tätigen ist anderswo höher. Gründungsgeist ist hier keine Frage der Rahmenbedingungen. Sondern der Mentalität.

Arbeiten, wo andere Urlaub machen, wirbt Kempten, aber so idyllisch ist es nicht immer gewesen. Vor der Industrialisierung gab es hier nichts zu lachen. Die Ausläufer der alpinen Endmoränen sind zwar mit einer im Prinzip fruchtbaren Humusschicht bedeckt, die aber viel zu dünn ist für ordentliche Ernten. Im Spätsommer drückt der Föhn Schwermut ins Tal. Die Winter sind lang.

Bayerische Anarchie, bäuerliche Nüchternheit und ein melancholischer Himmel: Erfinderluft. Gebirgsfinnen sind sie, die Allgäuer. Erst waren sie arm, dann wurden sie Ingenieure.

„Die Bodenständigkeit stärkt die Risikofreude“, behauptet Klaus Fischer, ein junger studierter Verwaltungswissenschaftler aus Augsburg. Fischer steht auf dem Marktplatz in Kempten und muss sich was einfallen lassen: Er leitet die hiesige Zweigstelle der IHK. „Das Allgäu gibt es als touristische Marke“, stöhnt Fischer, aber er muss diesen Urlaubstraum jetzt als Industriestandort vermarkten. Klar: Hierhin fließt reichlich Geld aus der Technologieoffensive Bayern, hier ist Mikrosystemtechnik und Milchwirtschaft, und bald zieht ein Fraunhofer-Institut in den Technologiepark Innova. Schön. Aber wie macht man Reklame für Mitarbeitertreue und Starrsinn? Klaus Fischer hat Broschüren dabei. „Technologieoffensive Allgäu“ steht da drauf. Was ist anders im Allgäu? – Seit er hier ist, muss er deutlich weniger Vermerke schreiben. – Und die Leute? – „Als Erstes fragen sie, ob ich schon hier wohne“, sagt er. – Und als Zweites? – Klaus Fischer grinst: „Wann ich umziehe.“

 

Das Projekt Perspektive-Deutschland von McKinsey & Company, stern.de und T-Online ist die größte Online-Umfrage Europas. Bis Ende 2001 füllten 170.000 Teilnehmer den Fragebogen aus. Daniel McFadden, Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften, entwickelte zusammen mit McKinsey und weiteren Wissenschaftlern eine Methode, mit der sich die online-typischen Selektionseffekte mit Hilfe einer interviewer-gestützten, repräsentativen Offline-Befragung von 2700 Personen korrigieren ließen. Der entstandene Datensatz gestattet repräsentative Aussagen über Deutschlands 18- bis 59-Jährige. Deutschland ist kein Land der Jammerer und Resignierten. Das Gesamtbild zeigt: Statt Resignation prägen Aufbruchstimmung und soziales Engagement das Denken und Handeln der Bürger in Deutschland.

Die Ergebnisse fielen regional sehr unterschiedlich aus. So bestätigten in Bayern 74 Prozent der Befragten die Aussage „Alles in allem gesehen, kann man in dem Ort oder in der Region, wo ich wohne, sehr gut leben“, indem sie auf einer Skala von 1 („Stimmt genau“) bis 6 („Stimmt gar nicht“) die Noten eins oder zwei vergaben. In Brandenburg taten das nur 38 Prozent. Nach Raumordnungsregionen sortiert, leben die zufriedensten Menschen am bayerischen Untermain, am südlichen Oberrhein, in Südost-Oberbayern und im Allgäu. Die unzufriedensten Menschen wohnen in den Regionen Lausitz-Spreewald, Dessau und Oberlausitz-Niederschlesien.

Die engagiertesten Bürger wohnen in der nördlichen Oberpfalz, in Mittelhessen und in der Region Bodensee Oberschwaben. Dort gaben fast drei Viertel der Befragten an, sich gemeinnützig oder gesellschaftspolitisch zu engagieren. In Südthüringen, Halle an der Saale, im Erzgebirge, aber auch in Hamburg engagiert sich nur gut die Hälfte der Bürger auf diese Weise. Mit dem Angebot an „Natur, Ruhe, Landschaft“ und dem Zustand der Umwelt sind die Befragten aus Mecklenburg-Vorpommern am zufriedensten. Mit dem Kultur- und Freizeitangebot sind sie am unzufriedensten. In Berlin verhält es sich genau umgekehrt. 

 


Dieser Text stammt aus unserer Redaktion Corporate Publishing.