... wird schon nicht gleich morgen passieren ...

Phantomrisiken: nichts als Gespenster in den Hirnen der Verzagten? Oder eine reale Gefahr? Die Assekuranz nimmt unkalkulierbare Bedrohungen ernst – und wagt kaum, sie zu versichern.




Majestix fürchtet nicht die Römer, er hat Angst, der Himmel könne ihm auf den Kopf fallen. Wie dumm! Ist doch der Himmel noch nie vom Himmel gefallen. Andererseits: Denkbar ist so etwas. Wenn auch nicht zu beweisen. Und vielleicht tatsächlich gar nicht möglich. Aber es bleibt ein Risiko. Ein Phantomrisiko.

Psychologen beobachten fasziniert: Wir fürchten uns vor dem Unbekannten und vor dem nicht Kontrollierbaren. Früher geisterten Hexen und zürnende Götter durch die Albträume, später Lokomotiven und Automobile. Heute spuken Phantomrisiken oft da, wo Technikbegeisterung der Skepsis wich. Elektrosmog, veränderte Gen-Sätze, Klimawandel. Neue Techniken schaffen eine neue Wirklichkeit, die sich allem Vertrauten entzieht.

Nichts weiter als Hysterie? Gepuscht von Medien, Politikern und Nicht-Regierungs-Organisationen (NGOs)? Schon fragt die Schweizer Stiftung Risiko-Dialog: Taugen „Phantomrisiken als Geschäftsmodell?“ Ängste seien immerhin auflagenwirksam. Politiker könnten sich als Schutzpatrone der Nation vermarkten. NGOs fänden Zuhörer. Klar. Stimmt. Aber es stimmt auch: Phantomrisiken können real werden. Oder eben nicht. Sie erwischen uns aus dem unbekannten Blauen, sind nicht kalkulierbar und schwer versicherbar.

Tödlich bis harmlos

Ein Prototyp des Phantomrisikos ist der Elektrosmog. Etwa 368 Millionen Kilowatt Strom surren täglich durch deutsche Haushalte: durch Kühlschränke, Fernseher, Telefone, Stereoanlagen, Mikrowellen. Knapp zwei Drittel der Deutschen haben ein Handy. Strommasten, Oberleitungen und Sendeantennen spicken Land und Stadt. Wissenschaftler vermuten, dass eine so hoch elektrifizierte Umwelt elektrischen Smog bildet. Die elektromagnetischen Felder stehen unter dem Verdacht, Krebs, Alzheimer und Parkinson zu verursachen und das Erbgut zu verändern. Aber eben nur unter Verdacht. Bewiesen ist nichts.

Genau so wenig, wie der Gen-Tomate ein gesundheitsgefährdendes Potenzial nachzuweisen ist. Trotzdem packt viele die Angst: Löst sie Allergien aus? Setzt sie Prozesse in Gang, die in zwanzig Jahren als Krebs erregend entlarvt werden? Ist der Paradiesapfel aus dem Labor Teufelswerk? Das Risiko liegt irgendwo zwischen harmlos und tödlich.

Ich übernehme dein finanzielles Risiko, und du zahlst eine Prämie – das ist das Geschäft des Versicherers. Soll es funktionieren, muss er Natur und Dimension des Risikos kennen. Die zu erwartenden Kosten dürfen den durch Prämien erzielten Nutzen nicht übersteigen. Deshalb ist nicht die Höhe der Gefahr entscheidend, sondern die Vorhersehbarkeit und Kalkulierbarkeit des möglichen Schadens. Der Versicherer kann sich kein Unwissen leisten. Denn wie gering die Eintrittswahrscheinlichkeit eines Schadens auch sein mag: In der nächsten Sekunde kann es passieren. Dann muss ein Finanzpolster da sein.

Traditionell rechnet die Assekuranz mit Erfahrungswerten und mathematischen Wahrscheinlichkeiten: Wie oft bebt wann, wo, wie stark und mit welchen Folgen die Erde, krachen Lastwagen gegen Leitplanken, werfen Attentäter Bomben oder fliegen Hubschrauber in Strommasten? Das sind keine Phantomrisiken, sondern Ereignisse, die oft genug vorgekommen sind, um Gefahrenstatistiken zu füllen. Dennoch versagen diese Rechnungen oft schon bei den „klassischen“ Risiken. Meistens dann, wenn der Schaden alles Bisherige übertrifft, also von der Statistik abweicht. Kein Experte hat je ein 11.-September-Szenario entwickelt. Wie sollen dann erst die Phantomrisiken eingeschätzt werden?

Denn es gilt, das schwer Denkbare zu denken, das Unmessbare zu messen und das Risikopotenzial bislang schadensfreier Techniken vorherzusagen. Alle Variablen für eine Kalkulation fehlen. Keine Erfahrungswerte, keine Statistiken. Berechnungen zu Eintrittswahrscheinlichkeiten greifen nicht. Auch das Ausmaß eines möglichen Fehlers ist unbekannt. Stellt sich ein einziger gentechnischer Schaden beim Saatgut heraus, folgen weitere im Domino-Effekt. Welche und wie viele Steine fallen, ist kaum absehbar. Saatgut-Hersteller, Bauern, Lebensmittel-Industrie, Verbraucher – wer alles wird es sein? Und wer fällt noch? Auf wie viele? Ein großes Ratespiel. Doch das ist nicht alles. Es drohen außerdem Gefahren durch wissenschaftliche Beweise und gesellschaftlichen Wertewandel.

Technik und Ruin

Naturwissenschaftliche Erkenntnisse und technischer Fortschritt verändern die Bedingungen mitten im Spiel. Kein Problem, jedenfalls beim Tennis. Da erleichtern neue Messtechniken die Entscheidung im Zweifelsfall. Der Tennisball ist im Aus, wenn er neben der Linie aufschlägt. Basta. Nur dass das elektronische Auge genauer hinsieht als das menschliche. Neue Technik. Klarere Entscheidungen. Aber die alten Regeln gelten weiter.

Anders in der Versicherungswirtschaft. Dort können neue Entwicklungen und Erkenntnisse einiges durcheinander bringen. Zeigt sich, dass ein neues Medikament keine Gefahr birgt, ist das Pech für den Pharma-Konzern, der die Prämie gezahlt, schön für den Versicherer, der sie kassiert hat. Stellen sich umgekehrt Risiken als gefährlicher heraus als bisher angenommen, droht den Versicherern oder Rückversicherungen eine Katastrophe.

So wie beim Asbest. Die natürliche Mineralfaser war mal ein Phantomrisiko. Sie wurde seit den dreißiger Jahren vor allem im Gebäudebau verwendet. Anfang der Siebziger zeigte sich, dass Asbest unter anderem Lungenkrebs verursacht. Seitdem tickt es auch als Zeitbombe in den Bilanzen der Versicherer. Mehr als 3000 Produkten wurde Asbest beigemengt, in den USA wurde die Faser in mindestens 300 Fabriken verarbeitet. Ansprüche, mit denen niemand gerechnet hatte, explodierten. Lloyd’s of London war sowohl der größte Direktversicherer der US-Asbestproduzenten als auch Rückversicherer amerikanischer Haftpflichtversicherungen – die Gesellschaft stand kurz vor dem Ruin, nachdem der amerikanische Kongress beschlossen hatte, alle Verursacher auch rückwirkend haften zu lassen. Deren Versicherer mussten damit nicht nur für Schäden aus laufenden Policen einstehen, sondern auch für solche aus Verträgen, die längst abgelaufen waren. 

Wertewandel

Es kommt noch komplizierter. Denn nicht nur der technische Fortschritt ist unberechenbar, sondern auch der Wertewandel in der Gesellschaft. Damit ein Verursacher für einen Schaden aufkommt, verlangt das Haftpflichtrecht einen beweisbaren Kausalzusammenhang zwischen der vermeintlichen Ursache und dem Schaden. Beim Asbest hatten Wissenschaftler gezeigt: Fasern mit einem Durchmesser von weniger als 0,003 Millimeter, einer Länge von 0,005 bis 0,1 Millimeter und einem Verhältnis der Länge zum Durchmesser von mehr als 3,1 gefährden die Gesundheit.

Für die gegenwärtigen Phantomrisiken fehlen solche Beweise. „Ohne Ursache keine Wirkung?“, fragt Thomas Epprecht, Biotechnik-Risikospezialist bei der Schweizerischen Rückversicherungsgesellschaft (Swiss Re). „Wo ist die Grenze zu ziehen zwischen bloßer Ursachenvermutung und dem rechtlich erforderlichen Kausalzusammenhang?“

Gleisstromkontrolleure erkranken, so eine skandinavische Studie, nach mehr als zehnjähriger Tätigkeit etwa doppelt so häufig an einem Gehirntumor wie der durchschnittliche Bürger. Elektrosmog! Oder? Der Autor der Studie, der Norweger Tore Tynes, ist vorsichtiger: Ursache für einen Tumor könnten auch Belastungen durch Dämpfe aus Holzschutzmitteln oder Metallstaub sein. Der Zusammenhang zwischen elektrischen Strahlen und einem Gehirntumor ist nicht bewiesen. Deshalb ist die entscheidende Frage: Wie wird die Gesellschaft zukünftig derartige Vermutungen bewerten?

Schließlich ist für die Haftpflicht nicht die Erkrankung an sich der versicherte Schaden. Dazu wird die Krankheit erst, wenn sie eine bestimmte Ursache hat – oder haben könnte. Folge: Wenn der Mensch beim Bewerten die Grenzen verschiebt, dann könnte die alltägliche Nutzung elektrischer Geräte ruck, zuck im schönsten gesellschaftlichen Konsens als Gesundheitsrisiko eingestuft werden. An den Fakten – die wir nicht alle kennen – würde sich dadurch nichts ändern. Aber die Hersteller und Betreiber elektrischer Anlagen und Geräte könnten mehr oder weniger erfolgreich verklagt werden. 

Solange unklar ist, was später als haftungsbegründende Ursache angesehen wird, lässt sich das Haftungsrisiko nicht kalkulieren. „Wenn die Grundlage für Haftpflichtansprüche zur Diskussion steht“, warnt Thomas Epprecht, „dann driften Deckungsumfang und Deckungsbedarf zusehends auseinander.“ Konsequenzen sind schwer zu prognostizieren. Nur wenn Konsens darüber herrscht, was als Ursache gelten darf, funktioniert das Geschäft der Versicherer.

Stillstand?

Nichts geht ohne Risiko. Naturwissenschaftlicher und technischer Fortschritt erst recht nicht. Doch ohne Absicherung von außen wagt sich kein Unternehmen an Gen-Mais, Atomkraftwerke, Schlaftabletten. Aus eigener Tasche könnten Firmen einen größeren Unfall nie bezahlen. Und auch der Staat hat keine Lust, im Notfall einzuspringen. Vorsorglich schiebt er Risiken von sich. Immer mehr Gesetze verbieten der Industrie, ohne ausreichende Vorsorge zu produzieren, zu verkaufen, überhaupt etwas zu tun. Die Assekuranzen müssen ran.

„Die Versicherer waren immer stolz, einen Beitrag zum technischen Fortschritt geleistet zu haben“, erzählt Dieter Farny, emeritierter Professor für Versicherungslehre an der Universität Köln. „Gleichzeitig haben sie aber auch immer gesagt, das gehe nur mit bestimmten Grundprinzipien: Erstens müssen die Risiken kalkulierbar sein. Zweitens muss die Fähigkeit da sein, das Geld dann auch aufzubringen.“ Bei Phantomrisiken stoßen die Versicherer an ihre Grenzen. Kalkulierbar sind sie nicht, und ihre Ausmaße sind undefinierbar. Niemand weiß, welche Prämiensumme im Topf sein muss, damit die Rechnung aufgeht.

Und nun? Ausschluss aller nicht kalkulierbaren Risiken aus den Policen? Phantomrisiken einfach nicht mehr versichern? Da schreit die Industrie und fordert den Staat auf zu haften. Der will aber nicht, logisch. Muss er doch mal ran, dann aber, bitte, nur dieses einzige Mal – danach schiebt er das Risiko weiter.

So beim Contergan-Fall. Der Pharma-Konzern Grünenthal konnte nach den damaligen gesetzlichen Vorschriften nicht eindeutig für die Folgen des Schlafmittels zur Verantwortung gezogen werden. Für die Renten der Geschädigten kam der Staat auf; das 1971 gegründete Hilfswerk für behinderte Kinder sollte jedoch ein Einzelfall bleiben. Über ein neues Arzneimittelgesetz wälzte das Parlament zukünftige Risiken ab. Die Deckungsvorsorge muss in einer festgelegten Höhe mittels einer Haftpflichtversicherung erbracht werden. Ohne Versicherer keine Medikamente. So richtig begeistert zeigte sich die Versicherungsbranche nicht über diese Lösung. Stillstand in der Pharma-Industrie?

Ausgedehnte Mittagessen, Gespräche, Diskussionen, Kompromisse. 1976 war die Lösung gefunden. Die begrenzte Haftungssumme von 200 Millionen Mark (102,3 Millionen Euro) pro Medikament übernahm weitgehend die neu gegründete Pharma-Rückversicherungsgemeinschaft. In diesem so genannten Pharma-Pool schlossen sich viele Versicherer zusammen, um die Risiken gemeinsam zu tragen. Das Kapital eines einzelnen Versicherungsunternehmens hätte nicht ausgereicht. Der Staat spendierte zusätzlich Steuervorteile, damit der Pool möglichst schnell eine hohe Kapitalrücklage aufbauen konnte.

Für die Versicherung von Kernreaktor-Risiken war bereits 1957 eine ähnliche Gemeinschaft, ein Atompool, gegründet worden. Derzeit wird am Aufbau eines Terrorpools gearbeitet. Ab September soll die Extremus AG auf nationaler Ebene Versicherungsschutz bei Sach- und Betriebsunterbrechungsschäden bieten, die durch Terror verursacht wurden.

Fortschritt ohne Risiko ist nicht denkbar. Pools sind eine Notlösung, um sich gegen Gefahren abzusichern, aber nur begrenzt. Deshalb wird zunehmend die Beteiligung des Staates gefordert. Schäden durch Terror, Atomkernspaltung, Gentechnik – viele Risiken kann die Versicherungswirtschaft nicht mehr allein tragen.

Auch die Industrie denkt über neue Modelle nach. Mit Captives, firmeneigenen Gesellschaften, die ausschließlich oder zumindest überwiegend die eigenen Risiken versichern, soll Preisdruck auf die hauptamtlichen Versicherer ausgeübt werden. Zudem könnten mit dem zusätzlichem Kapital auch große Schäden besser reguliert werden. Denn was nützen schon die im Arzneimittelgesetz vorgeschriebenen 102,3 Millionen Euro nach einem Medikamenten-Skandal?

Versicherer, Industrie und Staat können sich eben nicht leisten, die optimistische Rechnung des argwöhnischen alten Kriegers und Häuptlings Majestix zu teilen. Er fürchtet zwar, dass ihm der Himmel auf den Kopf fallen könnte. Aber er geht davon aus: Es wird schon nicht gleich morgen passieren.


Dieser Text stammt aus unserer Redaktion Corporate Publishing.