Und wenn?

Über das unbezahlte Unglück.




An sich war das ja eine schöne Idee mit den Blumen vorm Fenster. Der Frühling da, und wenn ... – wir werden gerade von Polizeisirenen unterbrochen, es sind drei, und sie rasen heulend nachts um zwei durch Zürich. Ja. Der Frühling. Die Kapuzinerchen blühten, die Flöhe klebten an ihren Gurgeln. Und die Sonnenblumen schossen in den Himmel und verstellten den Blick auf das, was ich üblicherweise zähle, wenn mich der Rettungshelikopter geweckt hat. Gebäude. Türme. Sonnenblumen.

Jeden Morgen weiß ich, wann Zürich wach ist. Wenn der Helikopter über mein Dach knattert und die ersten Schwerverletzten ins Spital fliegt. Das Spital liegt weiter oben am Hügel, und ich liege in der Anflugschneise und taste nach dem Wecker. Schepper. Das war die Ikea-Lampe. Gewesen. Dann eben ohne Licht. An der Decke oben ein Riss. Der ist auch ohne Funzel gut sichtbar. Bezahlen tut das keine Versicherung. Alles eh verjährt, nicht gedeckt, Naturgewalt, Unruhen, Attentate. Abnutzung. Abnutzung. Ja.

Und Zürich liegt da und schnauft schwer, weil der Stadt die Frittenbuden auf dem Magen liegen, und natürlich die Sonnenblumen, die hatten keine Läuse, die waren so schön, obwohl sie eines Tages einfach weg waren. Im Bett liegen gilt als weitgehend heitere Tätigkeit. Schön schlafen ...

Sicher, ein paar kleinere Tragödien. Geplatzte Träume und Beziehungen. Nasse Kissen vor Tränen. Zusammengebissene Zähne und Daniela, die erzählt, der Waschmaschinenmann sei furioso unter der Türe gestanden mit 15 verrosteten Bügeln. Bügel?, frage ich, was für Bügel? Na, BH-Bügel, verrostete BH-Bügel, die hat er aus dem Filterteil der Waschmaschine gefischt! BH-Bügel, sage ich, also was die Leute nicht alles so sammeln, worauf sie: Ach, du Simpel, du hast nie in einer Weiber-WG gelebt!

Ist das Großmünster noch da?, frage ich scheinheilig, denn ich weiß, dass das Thema Weiber-WG und BH-Bügel noch lange nicht ausgereizt ist. Mein einstiger WG-Partner, der reinigte mit dem Staubsauger die Katzenkiste. Schlupp und weg. Aus den Augen aus dem Sinn, aber nicht aus der Nase. Der Kater, sonst nicht der Hellste, roch es als Erster. Merkwürdig oft strich er ums Saugrohr. Irgendwann rochen auch wir es. Es musste ein neuer Sauger her. Mit dem neuen sog mein einstiger WG-Partner, im Studium durchaus eine Leuchte, Fliegen, Spinnen und Maden ein, die aus dem Kompostkübel krochen. Dort hinein hatte er nämlich die Reste vom Katzenfutter gekippt. Nun ja, was will man dazu sagen? Wir waren alle mal blond.

Die Sache mit dem verseuchten Staubsauger war dann echt schwierig. Ich meine, erzählen Sie das mal Ihrem Versicherungsvertreter. Der selbst erzählt einem allerdings auch die tollsten Geschichten, etwa jene von der ärgerlich weggeschnippten Zigarettenkippe, die dummerweise in einen Eierkarton fiel, jenen entzündete und im weiteren Verlauf eine dieser hundsgemeinen Hühnerfarmen, pardon, einen dieser „Geflügelaufzuchtbetriebe“ abfackelte.

In der Küche hat sich Daniela eben den Finger verbrannt an dieser blödsinnigen Espresso-Schraubmaschine. Man kann es auf alle Arten versuchen: Topflappen, Handschuh, nasser Lumpen, alles zusammen. Es trifft immer den Zeigefinger. Dabei schnorcheln die Dinger immer so schön, wenn der Kaffee bereit ist. Und Daniela erzählt beim Kaffee so schöne Geschichten aus ihrer Weiber-WG. Zum Beispiel die, wo ihre WG-Kollegin einen Stromstoß erwischte, weil sie sich im Bad die Haare wegmachen wollte. Mit der Maschine. Das Ding war gesichert, aber irgendwas ging schief, denn kaum hatte sich ihre bemitleidenswerte WG-Kollegin erholt, stand sie im Bad mit der Wimpernzange am Auge und blickte so Auge in Auge mit sich selbst und ihren Wimpern, da ..., da fiel ihr das Lavaboauf die Füße. NEIN!, rufe ich in jenem Moment jedes Mal von neuem. DOCH!, erwidert Daniela und sagt, irgendwie triumphierend: Sie hat sich dabei den Fuß gebrochen. AUA!, schreie ich, wer hat diese verflixten Messer falsch in die Schublade gelegt? Messer gehören nicht auf den Rücken! Sei nicht so wehleidig, sagt sie, jetzt erzählst du mir sicher noch, dass es für den Käse genau EIN Fach im Kühlschrank gibt. Genau, schreie ich, es gibt GENAU EIN RICHTIGES FACH FÜR KÄSE IM KÜHLSCHRANK! Nach Dusche und Rasur entspannt sich die Lage. Und? Ist das Großmünster noch da? Schau selbst nach! Tatsächlich. Sie sind noch da. Meine Türme. Links die Predigerkirche, dann das Großmünster mit seinen Doppeltürmen, dann das Fraumünster, dann St. Peter (größtes Ziffernblatt Europas oder so), dann die Sternwarte. Alles an seinem Platz. Außer den Sonnenblumen. Glitsch. Max? Auf dem Teppich bin ich in etwas Nasses getreten. MAX! Der Köter hat auf den Teppich gemacht. Er ist ja noch jung, beschwichtige ich mich, ist er nicht süß?, doch, ist er, dieser Scheißkerl. Er kann ja nix dafür, nicht wahr, kleiner Max, du MISTVIEH! Das war der iranische Seidenteppich. Für den musste ich Strafzoll zahlen!

Ich hüpfe auf den Balkon. Einbeinig. Auf dem Terrässchen hatten wir gegrillt. Gedörrt!, gibt Daniela zurück. Weil deine Curryfleischbällchen so steinhart waren! Immerhin hat der Kater den Kugelgrill nicht umgeworfen, sage ich. Stimmt, sagt Daniela, der wusste, was gut ist. Auf dem Grill lagen Schnitzel. Er wollte ja bloß gucken, was da so lecker riecht.

Die Zürcher und ihre Tiere. Den einen Bürgermeister haben sie abgewählt, weil er das Halten großer Hunde verbot. Es gibt in dieser Stadt sogar eine Hunde-Partei. Ein Ehepaar war mit seinen Hunden am See unten spazieren gewesen und hatte den Leinenzwang nicht befolgt. Worauf es zu einem Wortwechsel zwischen der Ordnungsmacht und den Hundebesitzern kam. Dem Zwist folgte die Gründung der Hunde-Partei (HUP). Denn der Hundehalter war Jurist. (Auszug aus den Statuten: Art. 3: „Die Hunde-Partei erstrebt die Förderung von Achtung und Toleranz gegenüber den in Gemeinschaft mit dem Menschen lebenden Hunden. Grundlage der Vereinstätigkeit bildet die ,Resolution über die Verantwortung des Menschen gegenüber der Kreatur und im Speziellen gegenüber dem Hund für ein artgerechtes Dasein‘, wie sie mit Datum vom September 2001 am Zürichhorn verabschiedet worden ist und zu deren Durchsetzung und Einhaltung sich die Unterzeichner der Erklärung verpflichtet haben. Die Resolution ist den Statuten als Anhang beigeheftet und bildet deren integrierenden Bestandteil.“)

Zurück zum Terrässchen. Da saßen wir zu zweit am Tisch, und Gion, ein Mann von Welt und 105 Kilo, legte auf. Da ratterte ein Helikopter übers Dach. Ohne vom Fleischmocken, den er gerade mit der Zange fasste, aufzublicken und ohne Max, der gerade seine Wade ableckte, zu beachten, sagte Gion: Ah, so. Der erste Grill-Unfall! Und wendete sein Würstchen. Grillen, das wissen wir alle, ist Männersache. „Bei den rund 80 bis 100 Millionen Grillfeuern, die in der Bundesrepublik zwischen April und Oktober entfacht werden, passieren Jahr für Jahr zwischen 3000 bis 4000 Grill-Unfälle, 400 bis 500 von ihnen enden mit schwersten Verbrennungen“, weiß www.das-sichere-haus.de. Gion weiß das aus nächster Nähe. Er ist Notfallarzt.

Die Klöpse wurden vertilgt, der Prosecco gekippt – ohne dass wir wegen des Korks ein Auge lassen mussten. Dafür klemmte Daniela ihren Zeh im Spalt ein. Und während ich auf dem Stuhl saß und mir überlegte, wo man auch noch Finger oder Zehen einklemmen konnte, wurde es dunkel und dunkler, und Daniela erzählte die Geschichte vom Pott mit den siedend heißen Frankfurtern drin, die sie auf den Steinway gestellt hatten. Das war dem Flügel nicht gut bekommen. Und ich erzählte vom Klavier, das genau unter der Stromschiene stand, und die Stromschiene, die war per Zufall gleich dort angebracht, wo die Waschmaschine leckte, und so tropfte die Waschmaschine piano, piano ins Klavier.

Und wir trugen das Geschirr in die Küche und amüsierten uns über die Geschichte der Zürcher Vorstadtfrau, die Wäsche wusch und einkaufen ging, und als sie zurückkehrte, da war das Haus abgebrannt. Sie hatte vergessen, das Wasser anzudrehen, worauf die Wäsche in Flammen aufging, und wir fanden das völlig unglaublich und erfunden und ein Hirngespinst, da roch es merkwürdig verrottet. NEIN!, sagte Daniela. DOCH! Ich war in ein Würstchen von Max getreten – und lang hingeschlagen.

Mein Vater hat mal auf einen Stein in einer Baked Potatoe gebissen und verlor die Zahnfüllung, sagte sie, und meiner hat mal in ein Brötchen gebissen und seine Brücke war weg, sagte ich. Und der Milena ist mal ein Glas Wasser aufs Notebook gekippt, und ihren ganzen Roman gab’s nur noch als unkorrigierten Ausdruck, sagte ich, und mir ist mal das Handy ins Klo gefallen, sagte sie, ja dem Martin auch, sagte ich, und als ich meine Militäruniform abgeben musste, da war die verschimmelt, weil der Keller unter Wasser stand und dann wieder nicht, und wir haben das nicht gemerkt, und krieg’ ich noch einen Schluck? Aber ja, mein Großvater, der ist mal auf den Hinterkopf gefallen, weil er derart lachen musste, dass die Stuhllehne brach, und ich habe den Weihnachtsbaum umgeworfen, und bei uns brannte mal das Réchaud mit dem Fondue ab, und der Onkel packte das Tischtuch an den vier Ecken mitsamt Gabeln und Kirsch und warf das Zeug in den Schnee hinaus.

Und was gab es zu essen, als das gesamte Fondue im Schnee lag?

Ich weiß es nicht.

Und der Dings ist von der Leiter gefallen, und ich habe schon dreimal an diesem blöden Tischchen mit der gemeinen Kante die Zehe aufgeschnitten, und ich habe den Kopf schon x-mal am Balken angeschlagen, mir blaue Flecken an diesem beschissenen Designertisch geholt, und die Virginia hat sich beinahe das Auge ausgeschlagen an der Wendeltreppe, die dieser dumme Luigi gemacht hat, und es ist wahrscheinlicher, dass man von einer Kokospalme erschlagen wird, als von einem Haifisch gebissen, und weißt du was, wir hocken hier wie Klageweiber. Na und?

Ich habe mir mal wegen einer Engadiner Nusstorte einen Teil des Zahns ausgebissen, meine Schwester ist beim Sport mit einer anderen zusammengestoßen und hat sich einen Zahn ausgeschlagen, die Mutter hat auf einem Kaugummi gesessen, die Nachbarn sind mitsamt dem Balkon runtergefallen, weil der Balkon morsch war, der Bömmeli, der ist einer Politesse über den Fuß gefahren, als sie ihm ein Knöllchen unter den Scheibenwischer klemmen wollte, und dem Peter fiel ein Bild auf den Fuß, der Ernst ist in der Dusche ausgerutscht, das Kind von der Livia kämmte sich mit der Klobürste das Haar, der Frau Hammer lief der Boiler über, weil er so uralt war, und mir fiel mal ein brennendes Zündholz in den offenen Hosenschlitz, und dem Andreas ist beim Raketenbauen ein Finger abgerissen worden, und meiner Schwester beim Karamelkochen ... und mein Urgroßvater, der ...

Mooo-ment. Sag mal, wann musste die Versicherung eigentlich deinen Schaden decken?

(Ruhe.)

Als ich nach Hause kam und die Sonnenblumen waren nicht mehr da. Was? Ja, ich kam nach Hause, und plötzlich war es so unglaublich hell. Das Telefon läutete, und ich sagte zu Susanna: „Ich glaube, meine Sonnenblumen sind ausgeflogen. Ich ruf’ dich zurück.“

Und dann?

Dann rannte ich die sechs Etagen runter und ...

Ou, wow ...

Es stimmte. Die hatten sich mitsamt dem elend schweren Topf verabschiedet und einen Triangel in einen Volvo gestanzt.

Und was kostete das?

7000 Franken. Und zwei Bier für den Besitzer des Volvos. Und beinahe eine Anzeige wegen Gefährdung der öffentlichen Sicherheit oder so. Und wer hat das bezahlt?

Meine Haftpflicht. Ja ... die haben das bezahlt ... ja, wirklich, haben sie, HE!, da läuft was Warmes in meine Schuhe. Max?

MAX!!


Dieser Text stammt aus unserer Redaktion Corporate Publishing.