Reines Glück, endlose Freude

Was bedeutet Risiko für einen Christenmenschen?
Kardinal Karl Lehmann über Ängste, Wagnisse und gefährliche Sicherheiten.




Herr Kardinal, der Apostel Petrus hatte Jesus verleugnet, ehe der Hahn dreimal krähte. Sind wir Menschen feige und risikoscheu?

Kardinal Karl Lehmann: Nein, das kann man nicht generell sagen. Heute glauben wir Menschen allerdings, dass wir fast alle Risiken unseres Lebens irgendwie beherrschen können. Wir planen unser persönliches und gesellschaftliches Leben durch. Deshalb haben wir für fast alles Versicherungen. Wehe, wenn etwas nicht so eintrifft, wie wir uns das vorgenommen haben. Ich glaube, dass der 11. September vergangenen Jahres blitzartig das Brüchige unserer vermeintlichen Risikobeherrschung offenbart hat. Daher auch das große Erschrecken darüber. Wir haben nicht damit gerechnet, dass irgendetwas unsere Sicherheit dermaßen durchkreuzt.

Führt das in gewisser Weise zu einer heilsamen Erkenntnis?

Wo Menschen zu Schaden kommen, kann man nicht von etwas Heilsamem sprechen. Es ist aber ein Zeichen dafür, dass wir uns zu sehr in Sicherheit gewiegt haben. Im Mittelalter hat man gedacht, dass der Teufel in Gestalt einer Sicherheit daherkommt, die den Menschen blind macht für Gefahr.

Im Zusammenhang mit dem 11. September wurde den christlichen Kirchen der Vorwurf gemacht, sie hätten es zu weit getrieben mit der Toleranz gegenüber Andersgläubigen. Hat man das Risiko gescheut, Differenzen herauszuarbeiten?

Das glaube ich nicht. Meiner Meinung nach hat die katholische Kirche die Gefahr schon vorher ernst genommen. Schon vor den Anschlägen haben mich christliche Bischöfe aus muslimischen Staaten davor gewarnt, blauäugig mit dem islamischen Fundamentalismus umzugehen. Ich gehöre allerdings nicht zu denen, die es sich leicht machen, indem sie den Fundamentalismus von vornherein verurteilen: Die Fanatiker stellen eine richtige Frage, geben aber die falsche Antwort. Die richtige Frage wächst aus der Einsicht, dass in einer immer komplexer werdenden Welt letzte Gewissheiten immer schwerer zu finden und zu leben sind. Dem, der nach dem Sinn des Lebens fragt, verstellt die Pluralisierung den Weg zu einer endgültigen Antwort. Die Sehnsucht nach dieser Antwort spüren die Menschen unabhängig von ihrer Religion. Da legt der Fundamentalismus den Finger in eine Wunde. Doch seine exklusive Indoktrinierung äußerer Normen ist eine unzulängliche Antwort, besonders da, wo sie mit Gewalt durchgesetzt werden sollen.

Risiken gibt es nicht nur in der Weltpolitik, sondern auch im Alltag. Wie sollten wir damit umgehen?

Risiko heißt ja Wagnis. Ein Wagnis einzugehen gehört in vielfältiger Weise zum Menschen. Der Wahn, man könne das Wagnis einfach ausradieren, ist eine tiefe Täuschung. Zum Beispiel gehört zu jeder zwischenmenschlichen Beziehung neben aller Nüchternheit und Planung eben auch Wagnisbereitschaft – von der Freundschaft bis zu Ehe und Familie. Ohne Risiko geht es nicht. Früher haben die Menschen über ihr endgültiges Jawort während einer längeren Probezeit, dem Verlöbnis, nachgedacht. Man war sich des Risikocharakters einer Ehe durchaus bewusst. Heute nimmt man ein Scheitern eher in Kauf, weil die Folgen beherrschbarer geworden sind: So ist die Frau in vielen Fällen finanziell selbstständig; sie ist keine Gefangene der Ehe mehr. Dies führt freilich oft zu neuen Täuschungen.

Ein Leben mit doppeltem Boden?

Ja, vielleicht kann man es zunächst einmal so sagen. Manche Partner haben zum Beispiel nie vollständig Ja gesagt zu ihrer Beziehung. Sie haben einen Vorbehalt gesetzt nach dem Motto: Wenn das und das eintritt, mache ich sofort Schluss. Sie glauben, dass sie das Risiko durch solche Vorgaben umgehen. In Wirklichkeit sind sie damit bereits auf dem halben Weg zum Scheitern. Erst aus einem Risiko, das man tatsächlich bejaht, wächst dieser große Vorschuss an Vertrauen, wächst die Zuversicht, dass man es packen wird.

Welche Sicherheit bietet der christliche Glaube?

Wir machen einen Unterschied zwischen Sicherheit und Gewissheit. Die Sicherheit, im Lateinischen securitas, macht sich an endlichen Dingen wie Geld oder Reichtum fest, die mir keinen letzten Verlass bieten. Diese Sicherheit ist mit einem sehr großen Risiko behaftet, nämlich mit der Gefahr einer Täuschung. Von der securitas unterscheiden wir die Gewissheit, die certitudo. Sie besagt, dass ich – egal, was passiert – nicht ins Bodenlose falle und dass es eine Hoffnung gibt, vor allem auch jenseits des Todes. Über alle Risiken hinaus existiert also ein letztes Fundament für Vertrauen: Das ist der Glaube. Dabei werden mir die Grundrisiken des menschlichen Lebens wie Krankheit, Unfall, jedes große Scheitern und der Tod nicht einfach abgenommen. Wenn ich aber überzeugt bin, dass es eine Instanz gibt, die mich auffängt, brauche ich keine Angst zu haben vor den Grundrisiken des Lebens. Ich weiß, dass ich trotz meiner Fehler kein sinnloses Risiko eingegangen bin und dass ich hoffen darf.

Zu früheren Kirchenzeiten gab es mit dem Ablass die Möglichkeit, sich gegen diese Risiken zu versichern, indem man sich freikaufte ...

... das hat man natürlich nie so gelehrt. Das war die Folge eines Missbrauchs. Die christliche Botschaft besagt dagegen vielmehr: Es gibt Versöhnung. Und jede Umkehr, jede Versöhnung ist so etwas wie eine Ermutigung zum Risiko, weil ich weiß: Wenn ich einen Fehler mache, kann ich wieder neu anfangen.

Christ-Sein war lange ein großes Wagnis. Viele Menschen haben es mit dem Leben bezahlt. Das hat sich geändert: Das Christentum ist hier zu Lande quasi zur Staatsreligion geworden. Verliert die Kirche an Attraktivität, weil Christ-Sein kein Risiko mehr ist?

Der Gesellschaft außerhalb der Kirche mag sich das so darstellen. Aber der ernsthafte Christ hat immer gespürt, dass er es sich nicht einfach bequem machen und sich anpassen darf. Das blutige Martyrium ist gewiss die Ausnahme. Aber unbequeme Zeugenschaft, Zivilcourage und Nonkonformismus gehörten und gehören zu einem christlichen Leben. Und auch heute kann es passieren, dass ein Christ für seine Ansichten verlacht oder verspottet wird. Auf der anderen Seite hat er auch nie so kalkuliert, als ob seine Rechnung sofort aufginge. Er muss einen langen Atem haben. Dass ihm immer wieder die Anerkennung versagt wird, gehört dazu. Deshalb ist es für einen Christen ganz wesentlich, risikobereit zu sein.
Die Heilige Schrift vergleicht die Risikobereitschaft im Glauben mit der Risikobereitschaft eines Kaufmanns, der weiß, dass in einem Acker eine Perle vergraben ist, die mehr wert ist als sein gesamter Besitz. Daraufhin verkauft er alle seine Besitztümer, um diesen einen Acker zu kaufen. Wie der Kaufmann soll auch der Christ alles auf eine Karte setzen.

Ein ziemliches Risiko, oder?

Im Gegenteil. Die Kirche hat zunächst einmal die Aufgabe, vorgebliche Sicherheiten wie Reichtum zu entlarven. Diejenigen, die riesige Vorräte in ihren Scheunen anhäufen, fragt die Bibel: „Was willst du Narr? Du weißt nicht, ob du morgen noch lebst.“ Es geht darum, die Menschen den Fängen einer Pseudosicherheitswelt zu entreißen und ihnen klar zu machen, dass der Zauber des Menschlichen mit dem Wagnis zusammenhängt.

Das klingt nach dem einsamen Rufer in der Wüste.

Nein. Wir sind nicht allein. Auch Kunst, Dichtung und Musik etwa spielen bei der Rettung des Menschlichen eine wichtige Rolle. Wir fordern gemeinsam, dass der Mensch stets nach einem Letzten, Höheren streben sollte. Wie könnte es den Menschen geben, wenn er nicht immer auch ein Himmelsstürmer wäre, wenn er nicht den höchsten Berg der Welt besteigen, noch tiefer in die Ozeane eintauchen oder alle altertümlichen Schriften entziffern wollte? Für alle diese Vorhaben braucht es eine hohe Risikobereitschaft.

Derzeit streben die Biowissenschaftler nach Höherem, nach dem Geheimnis des Lebens. Stichworte: Genforschung, pränatale Implantationsdiagnostik. Da muss die Himmelsstürmerei Ihrer Meinung nach aber doch eine Grenze haben?

Die hat sie ja auch. Darin bestätigen mich immer wieder auch Ärzte und Wissenschaftler. Sie leiden an einer Distanzlosigkeit zu dem, was sie tun; das ist gewissermaßen eine Berufskrankheit. Nach meinen Auftritten bei Ärztekongressen kommen oft Fachleute zu mir und sagen: „Es ist gut, dass uns mal wieder jemand sagt, was wir eigentlich tun, damit wir das Staunen nicht vergessen.“ Häufig teilen sie sogar die Meinung der Kirche. Es liegt ihnen aber fern, sich auch öffentlich für diese Belange einzusetzen. Genau das fehlt uns: dass sich kompetente Persönlichkeiten einmischen. Die Kirche allein kann da nicht so viel leisten. Es ist auch kein Zufall, dass sie immer im Bunde war mit der Kunst, mit der Dichtung ...

... mit den Gewerkschaften ...

... ja, was die Heiligung des Sonntags angeht, schon.

Sie sagen, die Kirche kann nur mit anderen zusammen in der Gesellschaft etwas bewegen. Einige Ihrer konservativen Kollegen vertreten die entgegengesetzte Position. Sie meinen, gerade die Kirche müsse sagen: mit uns nicht.

Ich sehe da keinen Widerspruch. Wir müssen unsere Position unmissverständlich vertreten. Allerdings müssen wir uns auch darüber klar sein, dass wir sie nicht allein durchsetzen können. Wir sind konsequent gegen die Abtreibung und daher auch gegen die Manipulation an Stammzellen. Wenn es um Menschenrechte geht, muss man der reine Geist sein, der verneint. Kompromisse kann es da nicht geben.

Mit dieser Haltung stehen Sie häufig auf verlorenem Posten. So erlaubte der Bundesgerichtshof jüngst die Spätabtreibung behinderter Kinder. Der Bundestag stimmte dem Import embryonaler Stammzellen zu. Der Kanzlerkandidat Edmund Stoiber holte die ledige Mutter Katherina Reiche in sein Kompetenzteam – alles gegen den erklärten Willen der katholischen Kirche.

Es geht mir nicht darum, akzeptiert zu werden von der Gesellschaft, sondern darum, ungelegen oder gelegen, die Frohe Botschaft mitzuteilen.
Meine Sorge ist es, dem Evangelium treu zu bleiben. Am meisten Angst hätte ich davor, dass ich das, wofür ich angetreten bin, billig verschleudere. Ich bin mir durchaus bewusst, dass ich da einen Drahtseilakt vollbringe. Um aber überhaupt eine Rolle spielen zu können bei Entscheidungen, muss ich dahin gehen, wo sie fallen. Es bringt nichts, sich zu verstecken. Die Frage lautet: Was nützt dem Menschen? Vor dieser Frage wollen wir uns nicht drücken. Es geht hier um eine Probe, die wir bestehen müssen.

Als Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz stehen Sie zwischen den Fronten: Der Öffentlichkeit sind Sie häufig zu weltfremd, im Vatikan gelten Sie als Liberaler. Wie lebt es sich mit diesem Widerspruch?

Gut. Weil die Leute, die so denken, wie Sie es unterstellen, auf beiden Seiten in der Minderheit sind. Mit denen habe ich es nicht so schwer. Ich vertrete eine breite, freilich radikale Mitte.

Sie sind eben ein guter Politiker ...

... ich will keine Politik betreiben. Aber besonders in Wahlkampfzeiten muss ich mich davor hüten, durch die Parteien instrumentalisiert zu werden.

Zum Beispiel?

Vor vier Jahren bereiteten wir den Sozialhirtenbrief vor, in dem wir die Pläne für die Sozialgesetzgebung in Teilen kritisierten. Der Brief wurde indiskreterweise vorab veröffentlicht, weil man meinte, damit einer Partei nützen zu können. Daher sind wir nun in Wahlkampfzeiten äußerst wachsam. Es gibt immer wieder einzelne Politiker, die nur mit einem reden wollen, wenn zugleich eine Kamera läuft. Das machen wir nicht mit.

Die katholische Kirche in Deutschland verliert jährlich über 100.000 Mitglieder: existenzielles Risiko oder Gesundschrumpfungsprozess?

So dramatisch ist das gar nicht. Jeden Sonntag gehen immer noch etwa 15 Prozent der Kirchenmitglieder zur Messe. Das sind weit mehr Menschen als auf allen Sportplätzen und in allen Museen zusammen. Wer in dieser Gesellschaft hat eigentlich einen nachhaltigeren Einfluss als wir? Wir machen einen mehr als 2000 Jahre alten Dienst, auf den wir bei allen Fehlern, zu denen wir uns bekennen, im Ganzen stolz sein können.

Warum leben die meisten Menschen dann nicht nach den Vorstellungen der Kirche, was zum Beispiel die Sexualmoral angeht?

Es ist sicher ein Problem, dass wir uns bei solchen Themen oft in die Ecke drängen lassen. Wir müssen die Werte, an die wir glauben, offensiv vertreten, indem wir zum Beispiel aufzeigen, wie gut, schön und nützlich Treue ist. Wir müssen auch für unpopuläre Meinungen mehr werben: Wir sind oft unbequem, querköpfig und herausfordernd. Gerade deshalb bieten wir eine Alternative zum herrschenden Bewusstsein.

Wie groß ist das finanzielle Risiko durch den Mitgliederschwund?

Wir haben professionelle Hilfe ins Boot geholt, um das nüchtern beurteilen zu können. Das fiel mir anfangs nicht leicht, muss ich zugeben. Heute weiß ich, dass wir ein paar schmerzliche Einschnitte vor uns haben. Die eigene Risikoscheu zu überwinden, das musste ich erst lernen. Meine theologische und philosophische Ausbildung hat mir die wunderbare Möglichkeit verschafft, einfach nur zu denken, zu spekulieren, gar zu träumen. Für und über andere entscheiden musste ich selten. Mit der Zeit habe ich aber gelernt: Wenn ich mich vor Entscheidungen drücke, dann werde ich vom Lauf der Dinge überrollt und gebe meine Führungsrolle aus der Hand.

Bei welchen Aufgaben muss die Kirche mehr Mut beweisen?

Wenn es darum geht, ihre Botschaft von der wahren Menschlichkeit zu verkünden, ob es den Leuten gerade passt oder nicht. Wir müssen auch Dinge sagen, die des Beifalls nicht sicher sind. Dazu gehören schlicht die Zehn Gebote: Du sollst nicht lügen, du sollst nicht stehlen – auch wenn es nach landläufiger Meinung Bagatelldelikte sind. Ich wünsche mir, dass ich immer die Kraft habe, mich für Menschen einzusetzen, denen Unrecht geschieht; ich will die verborgene Not auf den Gesichtern erkennen können und genug Widerstandskraft haben, um mich bestimmten Trends nicht zu beugen.

In welcher Situation fehlte Ihnen der Mut?

Zum Glück ist ein Interview keine Beichte. Aber wenn ich beim Abendgebet den Tag Revue passieren lasse, ist immer auch ein Schuldbekenntnis dabei. So etwas muss man machen, damit man in den Spiegel sehen kann. Natürlich machen auch Kirchenleute Fehler. Ohne die Bereitschaft zur Selbstkorrektur und zur Umkehr wäre das Risiko für das geistliche Amt zu groß.

Wäre ein Leben ohne Risiko nicht leichter?

Ich kann mir nicht vorstellen, dass es Freude macht, risikolos zu leben. Ein Risiko bedeutet doch immer auch Entscheidungsfreiheit und geistiges Abenteuer. Ich kann etwas entdecken, etwas finden, das mich vom Trott befreit und beflügelt. Ohne Risiko wäre die ganze Spannung aus dem Leben. Das wäre identisch mit Tot-Sein.

Im Paradies gibt es also kein Risiko mehr?

Im Paradies ist es spannend, dank endloser Freude. Hier hat der Mensch sein Ziel erreicht. Er lebt in einer Situation reinen Glücks, in der Seligkeit. Da hat das Risiko keinen Platz mehr. Es ist Leben in Fülle.


Dieser Text stammt aus unserer Redaktion Corporate Publishing.