Rationalität? Logik? Weniger ist mehr.

In Risikosituationen müssen Entscheidungen getroffen werden. Schnell. Kühl. Rational.
Das geschieht im Kopf. Genauer: im Frontalhirn. Doch wie stark beherrscht logisches Denken unsere Entscheidungen wirklich?




Mit einer Explosion auf der Green Mountain Rail Road nahe Cavendish, Neuengland, begann am 13. September 1848 die Erforschung des Entscheidens. Eine ein Meter lange und drei Zentimeter dicke Eisenstange schoss dem Bahnarbeiter Phineas P. Gage durch die Stirn. Die zum Projektil gewordene Stange zerstörte sein linkes Auge und den linken Teil des Frontalhirns. Zunächst schien es, als hätte Gage Glück gehabt. Er verlor nicht einmal das Bewusstsein. Der behandelnde Arzt, Dr. John Martyn Harlow, notierte, wie Gages Persönlichkeit gelitten hatte: „Es scheint, als seien seine intellektuellen Fähigkeiten und seine animalischen Neigungen aus dem Gleichgewicht geraten oder als sei dieses Gleichgewicht zerstört. Er ist unbeständig und respektlos, ergeht sich zeitweise in profansten Redensarten. Gleichzeitig zeigt er keinerlei Achtung gegenüber seinen Mitarbeitern. Er ist ungeduldig, wenn er zurückgehalten oder ermahnt wird, besonders, wenn eine Anordnung mit seinen Wünschen in Konflikt steht. Manchmal ist er ungeheuer starrsinnig, gleichzeitig jedoch unberechenbar und schwankend. Er hat viele Pläne, die er aber sofort wieder aufgibt, um neue zu entwickeln, die ihm sinnvoller erscheinen. In seinem Handeln und seiner intellektuellen Kapazität erscheint er wie ein Kind.“

Der Unfall hatte Phineas P. Gage zum Widerling gemacht. Es störte ihn nicht. Er verlor seinen Job, verspielte seinen Besitz. Den Sinn für Risiken hatte er vollständig verloren.

Seit dem Fall Gage erforschen Neurowissenschaftler die physiologischen und psychologischen Vorgänge im Frontalhirn. Die Liste seiner Funktionen ist ein Katalog zutiefst menschlicher Eigenarten. Das Frontalhirn fragt das Gedächtnis ab, plant taktisch, löst Probleme. Es treibt zur Tat, zügelt die Gefühle und kontrolliert das Sozialverhalten. Mythen ranken sich um diese 29 Prozent der menschlichen Großhirnrinde – kein Wunder: Ohne funktionierendes Frontalhirn kann der Mensch keine Persönlichkeit entwickeln, kann sich weder sozial noch beruflich engagieren, und die fürs Zwischenmenschliche anerkannten Normen sagen ihm nichts. Und wenn er etwas entscheiden muss, fallen ihm oft nur sinnlose Strategien ein. Es ist ihm fast unmöglich, Risiken abzuwägen.

In einer durchschnittlichen neurologischen Klinik mit 115 Betten liegen meist ein oder zwei Frontalhirnpatienten. Diese Fälle von Frontalhirnschäden erlauben Neurowissenschaftlern einen Einblick in die Arbeitsweise des Gehirns in Risikosituationen – vor allem, weil sie heute mit modernen Bildgebungsverfahren arbeiten können. Die Forscher orten die geschädigten Areale, messen die Aktivität des Hirns, während es eine Aufgabe löst, und vergleichen die so gewonnenen Daten mit denen gesunder Menschen. Mit Hilfe psychologischer Tests und Fragebögen finden sie heraus, welche Funktionen die Patienten normal ausführen können – und wo es hakt, wenn das Hirn durch einen Tumor oder Unfall beschädigt wurde. Die Wissenschaftler sehen dem Gehirn beim Denken zu.

Sehr genau beobachten die Forscher diejenigen Regionen, die denken, fühlen, planen. Doch auf die Frage, was im Gehirn während einer Entscheidung genau geschieht, holen die Neurowissenschaftler erst einmal tief Luft. Professor Gerhard Roth, Direktor am Institut für Hirnforschung der Universität Bremen, beschreibt vereinfachend ein Muster, das im hochgradig vernetzten Gehirn sicherlich nicht so ordentlich gestrickt vorliegt: „Zunächst wird jede Entscheidungssituation unbewusst eingeschätzt“, sagt Roth. „Das passiert in den so genannten limbischen Zentren, besonders im Mandelkern, und in den mesolimbischen Zentren.“ Diese Orte speichern individuelle Lebenserfahrungen, deren Entstehen der Mensch meist nicht bewusst zu erinnern vermag: das wohlige Gefühl beim Duft von nassem Waldboden, die Angst vor dunklen Schränken. Die Nervenzellen dieser Zentren sind verknüpft, eng- oder weitmaschiger, stärker oder schwächer, je nach Heftigkeit oder Häufigkeit der Erfahrung. Kommen neue Erfahrungen hinzu, bilden sich alte Synapsen, die Kontaktstellen zwischen Nervenzellen, zurück, oder es werden neue gebildet. Das Nervennetz der Erinnerung ist eine lebenslange Baustelle.

Beispiel: Der Naturfreund steht vor einem Wald, in dem ein Goldschatz versteckt sein soll. Die Neuronen seines Hirns funken: Stürz dich ins Abenteuer! Denn das Netzwerk meldet Positives, Bäume kennt es, und Gold nimmt jeder gern. Ein Stadtmensch hingegen, mit Angst vor dem Dunklen, wird dem Wald mehr Respekt zollen. Und, je nach Kontostand, lieber die Finger vom Gold lassen. Individuelle Erfahrungen prägen. Dasselbe Risiko wird konsequent unterschiedlich eingeschätzt.

„Unbewusst ruft das Gehirn zunächst alle individuellen Erfahrungen und Assoziationen mit dem Phänomen Wald ab“, sagt Roth. Bei diesem ersten Check bewertet innerhalb weniger Millisekunden der „Bauch des Gehirns“ die Situation. Er ist die erste Instanz.

Der Einfluss dieses unbewussten Prozesses ist groß. Das zeigte der Neurologe Antonio R. Damasio von der University of Iowa in eindrucksvollen Tests. Seine Versuchsteilnehmer erhielten jeweils 2000 Dollar, die sie beim Zocken möglichst vermehren, in keinem Fall aber verspielen sollten. Das Kartenspiel bestand aus vier Stapeln. Die Stapel A und B enthielten Gewinnkarten über 100 Dollar, C und D Gewinnkarten von 50 Dollar. Aus jedem Stapel konnten die Spieler in beliebiger Reihenfolge Karten ziehen. In die 100-Dollar-Stapel waren jedoch fatale Strafkarten gemischt. Die Strafkarten in den 50-Dollar-Stapeln fielen sehr viel milder aus. Die Spieler sollten sich beim Versuchsleiter melden, sobald sie die sichere Erfolgsstrategie erkannt hatten: Sie mussten herausfinden, dass langfristig die 50-Dollar-Stapel risikofrei zum Erfolg führten.

Damasio und seine Kollegen vertrauten jedoch nicht nur den Aussagen der Spieler. Sie maßen gleichzeitig deren Hautwiderstand. Den steuert, ohne dass wir es bemerken, das Gehirn. Wenn im Hirn etwas passiert, ändert sich die Leitfähigkeit der Haut.

Gesunden Spielern fiel der Weg zum risikoarmen Spiel leicht. Schnell hatten sie die richtige Taktik gefunden. Noch schneller war ihr Gehirn. Schon lange bevor die Teilnehmer ihre Strategie präsentierten, maß Damasio veränderte Hautwiderstände. Sobald ein Spieler ein hohes Risiko einging, indem er nach einem schlechten Stapel griff, schlug sein Gehirn Alarm – ohne jedoch damit ins Bewusstsein des Spielers vorzudringen. Bei guten Stapeln blieben die Nervenzellen ruhig. Der Hautwiderstand änderte sich nicht.

Lange bevor die Kartenspieler sich über die Güte der einzelnen Kartenstapel bewusst waren, meint Damasio, hatte das Gehirn aufgrund der Werte der Strafkarten die Stapelwelt in gut und böse eingeteilt – ähnlich wie der Naturfreund den Wald intuitiv als gut eingestuft hat. Wollte der Kartenspieler nun zu einem schlechten Stapel greifen, wollte also sein Bewusstsein gegen das Unbewusste arbeiten, dann funkte das Unbewusste dazwischen und signalisierte seine gegenteilige Bewertung der Situation. Das Unbewusste weiß viel früher als das abwägende Bewusste, welche Entscheidung richtig ist.

Die bewusste Ebene ist trotzdem nicht zu vernachlässigen. In einem zweiten Schritt prüft das Frontalhirn die Handlungsoptionen und ihre Folgen. „Hier wird rational abgeschätzt, ob es nicht trotz möglicher Gefahren sinnvoll sein kann, in den Wald hineinzugehen“, erklärt Roth. Etwa weil die finanzielle Not groß ist, weil in den risikoreichen Kartenstapeln auch die fetten Gewinnkarten stecken oder weil schließlich niemand je das gefürchtete Waldmonster gesehen hat. „Erst jetzt setzt der bewusste, logische Entscheidungsprozess ein.“ Doch schon während der ersten Stufe, erklärt Damasio, entwickelt sich eine sehr deutliche Tendenz. Eine unbewusst als richtig beurteilte Strategie kann wesentlich schlechter durch rationale Erwägungen überstimmt werden als eine, die bereits im Vorfeld abgelehnt worden ist. Die Positionen bekämpfen sich. Erst nach einem Kampf ist die End-Scheidung endgültig.

Der Kampf lässt sich auch als enge Zusammenarbeit deuten. Das zeigen Versuche mit Personen, die, ähnlich wie Phineas P. Gage, in eng begrenzten Frontalhirngebieten Schäden davongetragen hatten: bei Menschen also, in deren Denken emotionale und rationale Komponenten nicht mehr zusammenspielen. Damasio beschreibt einen Patienten, mit dem er sich nach einer Sitzung noch schnell für die nächste Therapiestunde verabreden wollte. Eine halbe Stunde lang erörterte der Patient das Für und Wider des vorgeschlagenen Termins. Zu einem Entschluss kam er nicht. „Ebenso beeindruckend sind Patienten, die genau erkennen und beschreiben, wie riskant eine Handlung ist, und die Tat dann trotzdem ausführen“, ergänzt Gerhard Roth. „Bei diesen Menschen ist die natürliche Hemmung, die sie vor Gefahren warnt und bewahrt, völlig weggefallen.“

Natürlich fällt es auch gesunden Menschen oft schwer, Entscheidungen zu treffen: Die Pro- und Kontra-Argumente rumoren. Vielleicht habe ich Fakten übersehen? Könnten ungeahnte Ereignisse das Ergebnis beeinflussen? Werden unerhoffte Informationen das Problem neu ausleuchten?

Wissen ist begrenzt. Zeit ist knapp. Nachdenken: ein Luxus. Deshalb ist es kein guter Weg, Entscheidungen ausschließlich in Fakten wurzeln zu lassen. „Würde unser Gehirn so funktionieren und würden wir nur mit dem Frontallappen Risiken abwägen und Handlungsoptionen bewerten, dann würde unsere Maschine immer gleich ticken“, meint auch Professor Siegfried Gauggel vom Institut für Psychologie der Technischen Universität Chemnitz. „Wir wären schlimmer dran als Mr. Spock: Der wird immerhin ab und an von Gefühlen heimgesucht. Deshalb trifft er sinnvolle Entscheidungen.“ Oft müssen wir auch solche Informationen schnell einschätzen, die uns völlig neu sind. Trotzdem müssen wir sofort entscheiden und zügig handeln. Das wäre unmöglich ohne das unbewusst arbeitende neuronale Gefühlsnetz.

Vor diesem Hintergrund gehen Forscher wie Professor Gerd Gigerenzer, Direktor am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin, der Frage nach, wie Personen vernünftige Entscheidungen in einer unsicheren Welt treffen und wie sie sie erfolgreich treffen. Ist ein Mehr an Information grundsätzlich besser? „In unsicheren Situationen wird meistens nicht die Entscheidung die beste sein, die alle Informationen berücksichtigt, sondern vielmehr die, die Informationen ignoriert“, meint Gigerenzer.

In Tierversuchen untersuchte er auch Aspekte der Heuristik – der Kunst des Problemlösens. Von heuristischem Denken sprechen Philosophen wie Biologen. Gigerenzer zeigte: Unbewiesene Arbeitshypothesen, mehr oder weniger willkürlich getroffene Annahmen also, steuern auch die Entscheidungen von Ratten. Ein Beispiel: Eine Ratte hatte die Wahl zwischen zwei Arten von Futter. Das eine hatte sie zuvor im Atem einer anderen Ratte erschnuppert. Das andere war ihr völlig unbekannt. Die Ratte verließ sich auf eine Wiedererkennungs-Heuristik und wählte das Futter, das sie schon einmal gerochen hatte. Dieser Heuristik folgte sie selbst dann, wenn die zweite Ratte krank war. Das aber hätte die erste Ratte als Folge vergifteten Futters deuten können. „Über das Konsumverhalten sowohl von Menschen als auch von Tieren bestimmt oft die Wiedererkennungs-Heuristik“, sagt Gigerenzer. „Informationen, die eine andere Entscheidung nahe legen, werden ignoriert.“

In komplexen Situationen können Heuristiken zu erfolgreichen Entscheidungen führen. „Es gibt zum Beispiel hoch komplizierte Theorien über die Finanzmärkte“, sagt Gerd Gigerenzer. „Doch die prognostischen Fähigkeiten dieser Gedankengebäude sind wenig beeindruckend.“ Deshalb setzen Gigerenzer und seine Kollegen auf einfache Heuristiken.

In Chicago und München baten die Forscher Passanten, eine Liste von Unternehmen zusammenzustellen, die sie vom Namen her kannten. „Dann haben wir die Wiedererkennungs-Heuristik angewendet: Sie legt nahe, genau die Aktien zu kaufen, die einen ziemlich hohen Wiedererkennungswert bei ziemlich unwissenden Leuten haben.“ Die Gewinne der Aktienpakete, die aufgrund der Angaben der Passanten geschnürt wurden, waren höher als im Börsendurchschnitt. Sie übertrumpften sowohl zufällig zusammengestellte Aktienpakete als auch deutsche und amerikanische Fonds. Das galt insbesondere dann, wenn die Passanten ausländische Unternehmen nannten, von denen sie außer dem Namen nichts wussten. „Diesen Effekt nennen wir ‚Less is more‘. Weniger ist mehr: Wir sind ohnehin in keiner Situation allwissend. Und das Spannende daran ist, dass Personen mit wenig Wissen und guten Heuristiken oft weiter kommen als Personen, die viel wissen.“ Das gilt in Konsumfragen, beim Aktienkauf, im sozialen Verhalten, im Sport, bei Personalentscheidungen. Die spontane, intuitive Entscheidung entpuppt sich oft als die beste. „Entscheidungen zu untersuchen“, sagt Gigerenzer, „heißt im Grunde: das Geheimnis der menschlichen Intuition zu entschlüsseln. Und die Heuristiken sind die Bausteine der Intuition.“ 

Zum Weiterlesen:

Antonio R. Damasio: Descartes’ Irrtum – Fühlen, Denken und das menschliche Gehirn. DTV, München; 384 Seiten; 13,50 Euro

Antonio R. Damasio: Ich fühle, also bin ich – Die Entschlüsselung des Bewusstseins. Ullstein, München; 456 Seiten; 9,95 Euro

Gerd Gigerenzer, Peter M. Todd, ABC Research Group: Simple Heuristics That Make Us Smart. Oxford University Press; 432 Sei- ten; 22,62 Euro


Dieser Text stammt aus unserer Redaktion Corporate Publishing.