Verlieren ist so wichtig wie Gewinnen.

Auf Innovationszyklen folgen nicht selten Wirtschaftskrisen. Aus Sicht eines Historikers ist die Krise der New Economy deshalb nur natürlich. Und ökonomisch gesund.




Seit drei Jahren geht es mit der New Economy bergab. Die eindrucksvolle Aufwärtsbewegung der neunziger Jahre, gestützt von einer starken Börsen-Hausse, ist nun – ebenso wie die Börse – in eine beängstigende Talfahrt geglitten. Der Auf- und Abschwung der Informations- und Kommunikationsindustrien der so genannten neuen scheint auch die alte Wirtschaft in seinen Bann gezogen zu haben, in den USA wie in Europa. Seitdem geht ein Gespenst um, das Gespenst der Weltwirtschaftskrise von 1929, die sich, wie so mancher Beobachter meint, zu wiederholen droht.

Die Symptome sind erkennbar. Eine wuchtige Insolvenzwelle ist über die kapitalistischen Marktwirtschaften gerollt, sensationelle Unternehmenszusammenbrüche werden gemeldet, Investitionsvorhaben zurückgenommen. Die Arbeitslosigkeit ist deutlich angestiegen. Nicht selten wird das Ganze auf die Misere der New Economy zurückgeführt, die sich jetzt als ein überschätztes Gebilde von angeblichen und tatsächlichen Innovationen entpuppt, eine Art industrieller Revolution, die durch eine Spekulationsblase außer Kontrolle geraten ist. Die Stimmung der Wirtschaft wird deshalb seit geraumer Zeit von einem tiefen Pessimismus dominiert, der die Zukunft düster erscheinen lässt.

Auf Innovationszyklen folgen wirtschaftliche Depressionen

Aber ist das tatsächlich das Erbe der New Economy? Die Folge nicht zu Ende gedachter Geschäftsmodelle und ihrer zu großzügigen Finanzierung? Zwangsläufige Folge gar von technologischer Innovation, wie so mancher Kritiker behauptet, der jetzt die Rückkehr zu den Wurzeln propagiert?

Das Gegenteil ist der Fall. Es hat in der Vergangenheit Wirtschaftskrisen gegeben, die – wie die aktuelle – mit bahnbrechenden Innovationen zusammenhingen. Krisen, aus denen eine gestärkte Ökonomie hervorging und aus denen wir auch heute noch Lehren ziehen können.

Der Weg führt zunächst fast 100 Jahre zurück, zu einem Werk des großen Ökonomen Joseph Schumpeter (1883–1950, hier 1911). Für Schumpeter gehörten diskontinuierliche Innovationswellen zum Wesen der Entwicklung kapitalistischer Marktwirtschaften. Von „dynamischen Pionierunternehmern“ eingeführt, wirkten diese Produkt- und Prozessinnovationen vor allem dann konjunkturbestimmend, wenn sie in den so genannten Abschwungphasen ihrer Entwicklung von nachahmenden Unternehmen übernommen und massenhaft ausgebreitet wurden.

Das scharenweise Auftreten von Unternehmern garantierte den „überschießenden Effekt“ der getätigten Investitionen – ein härter werdender Wettbewerb in den von Innovationen betroffenen Wirtschaftsbranchen und die erhöhte Mortalität von schwach positionierten Unternehmen galten als charakteristisch. Ja, mehr noch: Der von Innovationen getragene Ausleseprozess – heute bekannt als Creative Destruction – war nach Schumpeter sogar eine entscheidende Bedingung des Erfolges kapitalistischer Wirtschaften. Ausgehend von dieser „Vision“, formulierte der Ökonom eine umfassende Konjunkturanalyse, aus der unter anderem das zeitliche Zusammenfallen eines „normalen“, kurzfristig bedingten Konjunkturabschwunges mit einer Abschwungsphase des längerfristig angelegten Innovationszyklus als Erklärung der größeren historisch bekannten Wirtschaftskrisen hervorging. Eine Zwangsläufigkeit von Innovationszyklen und Wirtschaftskrisen konnte bisher historisch nicht nachgewiesen werden. Dennoch wirken Schumpeters Gedanken weiter: der diskontinuierliche Charakter des Innovationsprozesses und die positive Seite der mit Innovationen zusammenhängenden Wirtschaftskrisen.

Diese Überlegungen führen uns noch weiter zurück, zum letzten Viertel des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts, nach Großbritannien, ins Zentrum der ersten industriellen Revolution. Die Textilindustrien, allen voran die Baumwollindustrie, wurden von Innovationen wie der Mechanisierung des Garnspinnens und des Webens schubweise und radikal verändert. Damals war die Textilindustrie der mit Abstand größte Wirtschaftszweig, und sehr bald wurde die Baumwollindustrie, nach Wertschöpfung und Exportwachstum gemessen, der wichtigste Führungssektor der britischen Wirtschaft. Die Erfolge von Pionierunternehmern wie Richard Arkwright oder Edmund Cartwright riefen tausende von Nachahmern auf den Plan. In der Zeit nach Beendigung der Napoleonischen Kriege (1815) stiegen die Produktion und die Produktionskapazität der Industrie schließlich derart an, dass der sich anschließende Preisverfall einen massenhaften Untergang von Produzenten nach sich zog. Dies geschah sowohl in Großbritannien als auch in den von britischen Textilexporten berührten Ländern wie etwa den damaligen deutschen Staaten.

Der Finanzmarkt wird zum Schlüsselfaktor der Konjunktur

Die strukturelle Krise der Branche traf insbesondere Handspinner und später Handweber in der ländlichen Hausindustrie. Und sie dauerte vor allem deshalb Jahrzehnte an, weil sich die Betroffenen auf Marktnischen konzentrieren oder durch intensivere Selbstausbeutung dem Preisverfall eine Zeit lang standhalten konnten. Diesen negativen Entwicklungen standen die neuen, mit hoher Produktivität arbeitenden Fabriken und ein breiter und billiger werdendes Angebot von Textilwaren gegenüber. Bemerkenswert ist, dass ausgerechnet unter den Zeitgenossen, die nicht zu den Verlierern der Umwälzungen zählten, zahlreiche tradidtionsverhaftete Bewahrer zu finden waren, die das Erlebte nicht als ökonomischen Segen, sondern eher als Katastrophe empfanden.

Im Kontext der britischen industriellen Revolution reiften auch die vermutlich bedeutendsten Innovationen des 19. Jahrhunderts: die Eisenbahn und die mit ihr eng zusammenhängende Schwerindustrie. Dieser schwerindustrielle Führungs-Sektorenkomplex (FSK) entwickelte sich wegen seines ökonomischen Gewichts sowie seiner engen Verflechtung zum wichtigsten Bestimmungsfaktor der Konjunktur. Das galt besonders für die deutschen Staaten, wo etwa die ersten Eisenbahnprojekte mehr Eisen benötigten, als im zollvereinten Deutschland überhaupt hergestellt werden konnte. Der explosionsartige Nachfrageanstieg eröffnete große Gewinnchancen, die bei Kapitalanlegern zeitweise euphorische Erwartungen entstehen ließen. Denn dieser FSK stand nicht nur für technologische Innovation. Weil vergleichsweise riesige Geldsummen über die Kapitalmärkte mobilisiert werden mussten, wurde die Rechtsform der Aktiengesellschaft geschaffen – ein Novum für damalige Industrieunternehmen.

Mit den neuen Möglichkeiten zur Kapitalaufnahme wurde der Finanzsektor zum Schlüsselfaktor der Konjunktur. Umgekehrt konnten sich nun Krisen vom FSK über den Kapitalmarkt auf die gesamte Wirtschaft ausbreiten. Die Krisen der vierziger, fünfziger und siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts in Deutschland sind größtenteils auf Störungen im FSK der Schwerindustrie zurückzuführen. Ein gutes Beispiel für dieses Krisenmuster ist die „Gründerkrise“ der siebziger Jahre. In den späten sechziger Jahren kam ein Aufschwung in Gang, der durch die Lockerung des Aktienrechts 1870 und den erfolgreichen Krieg gegen Frankreich 1870/71 (und die fünf Milliarden Francs Reparationen) noch einmal wesentlich vorangetrieben wurde. Ein Börsen-Boom mit Neugründungen von Aktiengesellschaften und Wertpapierausgaben in bis dahin unbekanntem Ausmaß verstärkte die Entwicklung. Die Kreditexpansion trug zur erhöhten Nachfrage nach Produkten des FSK der Schwerindustrie bei, der umso bereitwilliger kapazitätserhöhende Investitionen vornahm. Dann brachen Nachfrage- und Börsen-Boom in sich zusammen. Die spektakulärsten Züge der Gründerkrise zeigten sich in Zusammenbrüchen von Banken, Bauunternehmen und Finanzinstituten.

Die Pioniere werden Opfer ihrer eigenen Innovationskraft

Ohne den Krieg und die Börsenspekulationsexzesse, ohne den Aufstieg und Kollaps des großstädtischen Immobilienmarktes wäre die Krise undramatisch geblieben. Aber auch dann hätten die Eisenbahnen und die Schwerindustrie zweifellos eine Phase der Überkapazität, fallender Preise und niedriger Renditen durchstehen müssen. Die hohen Fixkosten, die die Unternehmen zu tragen hatten, wirkten wie eine Markteintrittsbarriere. Sie erzwangen jedoch auch ein hohes Produktionsniveau zur Auslastung der Kapazitäten. Hieraus resultierte ein starker Wettbewerbsdruck, der bei Eisen- und Stahlunternehmen durch Auslandsanbieter noch verschärft wurde. Die Auslese ineffizienter Produzenten durch Übernahmen oder den Marktaustritt war eine Reaktion, Kartellbildung sowie Schutzzölle eine andere – die interessanterweise in der deutschen Öffentlichkeit und Politik erhebliche Unterstützung fand.

Die Geschichte des FSK in der Gründerkrise zeigt, dass Großunternehmen technologisch-organisatorische Innovationen hervorbringen und zugleich Opfer der eigenen Innovationsfähigkeit werden konnten. Die Geschichte der Elektrizität und insbesondere die der Elektroindustrie bietet hierfür einen weiteren Beleg. Diesmal anhand der Wirtschaftskrise von 1901. Nachdem 1891 die technische Möglichkeit der Stromübertragung über größere Entfernung öffentlich bewiesen worden war, setzte ein Aufschwung im Bau von Elektrizitätswerken ein, die in den rasch wachsenden deutschen Großstädten für Beleuchtungsanlagen und Straßenbahnen eingesetzt werden sollten. Vor allem ein Großunternehmen, die AEG, spielte damals eine bahnbrechende Rolle. Die AEG gründete nämlich Tochtergesellschaften zum Bau, später zum Betreiben und schließlich zur Finanzierung von Elektrizitätswerken. Mit dieser Unternehmensform, die als „Rathenau Trust System“ bezeichnet wurde, versuchte die AEG, die Risikoabneigung der Kommunen gegenüber Elektrizitätswerken zu überwinden. Durch den späteren Verkauf dieser Töchter an die Kommunen oder andere Interessenten setzte sie die investierten Mittel wieder für den Ausbau des Kerngeschäftes, die Herstellung von Maschinen und Anlagen, frei. Der Erfolg lockte die Konkurrenz, und zunächst stimmte die Aufwärtsbewegung der Börse sämtliche Erwartungen positiv.

Bis zur Jahrhundertwende, als sich das Ende des Booms abzeichnete, operierten sieben Konzerne in diesem Markt, aber nur noch zwei davon mit Gewinn, die AEG und Siemens & Halske. Der Markt für Elektrizitätswerke erwies sich zumindest vorläufig als begrenzt. Schlimmer wirkte jedoch die Übersättigung des Kapitalmarktes, denn seit spätestens 1900 herrschte Baisse-Stimmung. Die nachahmenden Unternehmen konnten die Aktien ihrer Bau-, Betreiber- und Finanzierungstochterfirmen nicht mehr vorteilhaft auf dem Kapitalmarkt platzieren. Sie mussten Bankkredite in Anspruch nehmen. Gerade in dieser Zeit zeigten sich auch hier die Schwächen des Systems: Mehrere Banken stellten ihre Zahlungen ein, mindestens eine davon als Folge des Zusammenbruchs eines Elektro-Unternehmens. Die Zentralnotenbank, die Reichsbank, musste einschreiten, eine Panik blieb jedoch aus. In den Jahren 1902 und 1903 setzte die Elektrotechnik-Industrie ihre Expansion wieder fort, doch die zuvor geschwächten Unternehmen konnten nicht mehr mithalten. Die fünf Hauptkonkurrenten verloren ihre Selbstständigkeit und bildeten bald Teile der zwei Großkonzerne AEG und Siemens & Halske. So stark war die Auslese, dass bis 1913 schon mindestens 75 Prozent des Umsatzes der Elektroindustrie allein auf diese beiden Konzerne entfiel.

Die aktuelle Krise ist nicht das Erbe der New Economy

Die aktuelle Krise mag mit dem Fall der New Economy begonnen haben – ihr Erbe ist sie nicht. Die momentane Krise hat auch mit Wettbewerbsbeschränkungen und Reformstaus in einigen Ländern zu tun, mit zerrütteten Staatsfinanzen, Überschuldung und schlechten Kreditrisiken in anderen. Darüber hinaus spiegelt sie aktuelle weltpolitische Unsicherheiten wider. Man darf auch die Bedeutung der Börsen-Baisse nicht überschätzen. Natürlich hat sie Marktwerte in Milliardenhöhe vernichtet, aber die realökonomische Grundlage jener Werte – vor allem das technologische und organisatorische Wissen – besteht ungeschmälert weiter. Das Potenzial der New Economy bleibt groß. Aus der historischen Perspektive darf man schlussfolgern: Aus jeder Krise, die mit einem Innovationsprozess eng verbunden war, ging eine durch das Verschwinden ineffizienter Produzenten gestärkte Ökonomie hervor – sofern die Politik die Krise nicht daran hinderte, ihr Werk zu tun.

Der neoliberale Ökonom Milton Friedman sagte einmal: Für die Wirtschaft ist das Verlieren fast so wichtig wie das Gewinnen. Warum sollte diese unpopuläre Weisheit nicht auch für die Krise der so genannten New Economy zutreffen?

Professor Dr. Richard H. Tilly, Jahrgang 1932,
studierte Geschichte und Ökonomie an der University of Wisconsin in Madison. Er lehrte an der University of Michigan in Ann Arbor und an der Yale University in New Haven, Connecticut, bevor er 1966 nach Deutschland wechselte. Der ehemalige Direktor des Instituts für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster widmete einen wesentlichen Teil seiner Forschungsarbeit den Problemen des industriellen Wachstums.

Dieser Text stammt aus unserer Redaktion Corporate Publishing.