Passt Gründergeist ins Klassenzimmer?

Irina und sechs ihrer Mitschüler haben am Gymnasium in Bretten aus dieser Frage ein Projekt gemacht.




Als wir noch zur Schule gingen, lasen wir Hesse und Goethe, und wenn wir nach dem Warum fragten, sagten die Lehrer nur: Das bildet fürs Leben. Das fanden wir schon damals weltfremd. Obwohl es noch nicht 4,6 Millionen Arbeitslose und tagtäglich Horrormeldungen von Firmenpleiten und Kursverlusten an der Börse gab.

Heute lesen Schüler immer noch Hesse und Goethe, aber sie fragen nicht mehr warum. Sie wissen, dass sie keine befriedigende Antwort bekommen. Schüler von heute handeln. Wie Sandra Geiseler, 17 Jahre alt, Schülerin des Edith-Stein-Gymnasiums in Bretten, Baden-Württemberg, dunkelblond, mittelgroß, blaue Jeans, schwarzer Pulli. Keine Streberin, aber aufgeweckter als der Durchschnitt. Statt nur darauf zu hoffen, dass die Ökonomie irgendwann Einzug in ihre Schule hält, hat sie sich aufgemacht – und die Wirtschaft in die Schule geholt. Gemeinsam mit ihren Mitschülern Birgit, Irina, Kevin, Regina, Sara und Stefan stieß sie auf ein Internet- Projekt, ein Spiel, das sie dafür gewinnen wollte, ein Unternehmen zu gründen. Das klang gut.

Noch besser war, was die Schüler daraus machten. Denn am Ende zeigten sie, wie viel Wirtschaft ins Klassenzimmer passt: eine Menge.

Nie wieder Rollläden: Eine Geschäftsidee nimmt Gestalt an

Alles begann im Januar 2002. Sandra und ihre Clique waren verabredet. Alle kamen pünktlich, nur einer war wieder mal zu spät dran: Kevin. Auch sonst nie um eine Ausrede verlegen, erklärte er diesmal: „Ich musste noch die automatischen Rollläden meiner Großeltern programmieren.“ Und dachte laut vor sich hin, wie praktisch es doch wäre, „wenn es Glas gäbe, das sich auf Knopfdruck automatisch dunkel verfärbt – dann wäre ich nämlich pünktlich gewesen“.

Noch ahnte keiner, wie schnell sich aus der flapsigen Bemerkung eine Geschäftsidee entwickeln würde, mit der die Gymnasiasten im Abitur brillieren und selbst Porsche und DaimlerChrysler neugierig machen konnten. Sie füllten die Online-Bewerbung für die StartUp-Werkstatt aus, das größte Internet-Planspiel für Schüler zum Thema Unternehmensgründung, veranstaltet vom Stern, den Sparkassen und McKinsey. Ziel ist es, ein fiktives Unternehmen zu gründen und die Jury von der Markttauglichkeit eines Produktes oder einer Dienstleistung zu überzeugen. Diesmal sind 5950 Schüler mit dabei, 30 Prozent mehr als im vorigen Jahr.

Der Spaß an berufsnahen Projekten, eine Mischung aus Wissensdrang und Experimentierlust zieht von Jahr zu Jahr mehr junge Leute an. Ob bei „Junior“, dem Wettbewerb des Instituts der deutschen Wirtschaft, „Perspektive Selbständigkeit“ der IHK Lübeck oder den „Schulbankern“ vom Bundesverband deutscher Banken – insgesamt holten sich schon weit mehr als 50.000 Schüler über Strategiespiele, was ihnen sonst keiner bietet: anschauliche Vorbereitung auf die Arbeitswelt.

„In der Schule lernen wir zwar viel über römische Geschichte“, beschwert sich Sandra, „aber niemand bringt uns bei, wie wir richtig mit unserem Geld umgehen, Fallen im Arbeitsvertrag aufspüren, oder was Aktien als Altersvorsorge taugen.“ Mit dem Vorwurf steht sie nicht allein. Mehr als 80 Prozent aller Deutschen meinen, Wirtschaftsthemen sollten im Unterricht eine größere Rolle spielen. Und zwei Drittel der Schüler würden gern besser von der Schule auf das Berufsleben vorbereitet.

Sinnvoll wäre es allemal. Dann würde es Anlagebetrügern vielleicht nicht ganz so leicht gelingen, ahnungs- und arglosen Bürgern für weit über dem Verkehrswert verkaufte Immobilien, die sie als Steuersparmodelle anpreisen, Milliarden aus der Tasche zu ziehen. Windige Makler würden der Großmutter nicht noch die vierte Lebensversicherung verkaufen können. Und wer weiß: Mehr Kenntnis in Wirtschaftsfragen hätte vielleicht auch den einen oder anderen Jungaktionär davor bewahrt, seine gesamten Ersparnisse in aberwitzigen Geschäftsideen von Firmen am Neuen Markt zu versenken.

„Es wäre sicher besser, wenn ein wenig mehr ökonomisches Grundverständnis in der Schule vermittelt würde“, sagt Jürgen Kluge, Chef von McKinsey Deutschland, der sich stark für das Thema Bildung engagiert. Zwar bezweifelt auch in den Schulbehörden niemand mehr, dass Wissen über die Wirtschaft zur Allgemeinbildung gehört. Erbittert gestritten wird von Bildungspolitikern jedoch über die Frage wie viel. Statt aber pragmatisch nach Lösungen zu suchen, tobt der Kulturkampf. Vereine wie das Deutsche Aktieninstitut fordern die Einführung des Schulfaches Ökonomie. Soziologen und Reformpädagogen der 68er-Generation wittern dagegen den Einzug des Kapitalismus in die Klassenzimmer, der natürlich auf Kosten anderer Fächer ginge.

Den Schülern aus Bretten ist diese Debatte egal. Die sieben Jungunternehmer nutzten Freistunden und überzogen auch mal die große Pause, um an ihrem Business-Modell zu feilen. Nachmittags und an den Wochenenden entwickelten sie Konzepte für Marketing und Vertrieb. Energiebündel Kevin übernahm den Vorstandsvorsitz der Aktiengesellschaft, Sandra die Finanzen.

Was an Know-how fehlte, besorgten sie sich aus Büchern, fachliche Fragen beantworteten Berater der Sparkasse Kraichgau. McKinsey-Experten gaben Hilfestellung, und für Notfälle stand als Coach ihr Lehrer Olaf Stiborsky-Geppert bereit. Er war der Erste, den die Schüler von ihrer Idee hatten überzeugen müssen. Denn ohne Lehrer keine Teilnahme an der StartUp-Werkstatt.

An manchen Schulen war bereits diese Hürde zu hoch. „Manchmal fehlt den Lehrern selbst die Motivation, die Plakate für den Wettbewerb aufzuhängen“, sagt McKinsey-Berater Sven Dethlefs, der den Wettbewerb seit 1999 betreut. An ein privates Engagement in der Freizeit ist bei vielen Pädagogen gar nicht zu denken.

Preisfrage: Wer braucht Glas, das sich auf Knopfdruck verdunkelt?

Olaf Stiborsky (37) ist keiner von dieser Sorte. Er ließ sich gleich von der Begeisterung seiner Schüler anstecken. Der Gemeinschaftskundelehrer, der vier Semester Maschinenbau studiert hat, erkannte das Potenzial der Idee: Glas, das sich auf Knopfdruck verändert, mal hell und transparent, dann wieder schwarz und undurchsichtig, auf Wunsch auch gelb oder blau. Technisch möglich ist so etwas mit Hilfe flüssiger Kristalle. Und nützlich ist es auch: Intelligentes Glas könnte etwa in Wintergärten für eine angenehme Atmosphäre sorgen und an Fassaden für Aufsehen erregende Effekte.

So nahm, was sich zunächst nur nach einem spielerischen Einfall anhörte, allmählich Gestalt an. Das Schülerteam recherchierte in der Industrie:
Gibt es schon etwas Ähnliches, wird so etwas überhaupt gebraucht? Sie erfuhren: Porsche forscht seit zehn Jahren an solch einem Glas. In die Windschutzscheibe eingebaut, soll es Fahrer bei Nacht automatisch vor nicht abgeblendetem Gegenlicht schützen. Bei DaimlerChrysler ist man schon weiter und setzt das vielseitige Material erstmals für die Glasdächer der neuen Luxuslimousine Maybach ein.

Von der Praxistauglichkeit der Idee war auch die Wettbewerbs-Jury beeindruckt. Das Team aus Baden-Württemberg erreichte in der Endrunde unter 661 Teilnehmergruppen den dritten Platz.

Vier Tage vor dem Abitur: ein Crash-Kurs in Betriebswirtschaft

Der Erfolg machte Mut. Die kreativen sieben gingen ihr nächstes Ziel an: die Eroberung des Lehrplans. Warum sollten ihre Kenntnisse über Börsengänge, Aktienkurse und Globalisierung, die sie sich über Monate in ihrer Freizeit erarbeitet hatten, weniger wichtig sein fürs Abitur als der Zitronensäurezyklus oder die Feldzüge Wallensteins?

In jedem anderen Bundesland wären sie mit ihrem Anliegen vermutlich gescheitert. Im experimentierfreudigen Baden-Württemberg aber gibt es im Rahmen der neuen gymnasialen Oberstufe seit dem Schuljahr 2001/2002 die Möglichkeit, eine „besondere Lernleistung“ ins Abitur einzubringen. Und dazu zählen auch Wettbewerbe wie die StartUp-Werkstatt.

Noch wusste keiner genau wie. Maria Halbritter, die Direktorin, war zwar stolz auf ihre Schüler, aber wie sollte sie das Projekt in eine Aufgabe fürs Abitur verwandeln? Schließlich war es eine Premiere – auf einschlägige Erfahrungen anderer Schulen in anderen Bundesländern konnte sie nicht zurückgreifen. Und weil die Pädagogin sich auf gar keinen Fall nachsagen lassen wollte, sie würde jemandem das Abitur nachwerfen, verdonnerte sie ihre Schüler zum Nachsitzen. Die Präsentation von Businessplan, Produkt und Finanzkonzept reichte ihr nicht, es sollte auch um betriebswirtschaftliche Grundlagen gehen. Das allerdings erfuhren die sieben Schüler erst vier Tage vor dem Prüfungstermin. „So muss sich ein Unternehmer vorkommen, dem die Bank kurzfristig die Kreditzusage streicht“, meint Sandra rückblickend.

Sie hatten keine andere Wahl. Am 18. Dezember saßen im Abiturkolloquium drei aufgeregte Lehrer der nervösen Gründerclique gegenüber. Premiere für beide Seiten: Die einen taten sich schwer mit der Formulierung der Fragen, die anderen schwitzten über der richtigen Antwort.

Schon bald werden sich viel mehr Lehrer für den Unterricht mit Abschreibungen und Zinserträgen vertraut machen müssen: Bis 2005 soll für jedes allgemein bildende Gymnasium in Baden-Württemberg eine Ökonomie-Fachkraft bereitstehen. Woher sie das nötige Wissen beziehen? Der Lehrer Olaf Stiborsky hat es sich im Selbststudium beigebracht. Seit vergangenem Oktober hat er den Kontaktstudiengang „Ökonomische Bildung online“ an der Universität Oldenburg belegt und lässt sich ein Jahr lang mit 30 Kollegen für den Wirtschaftsunterricht fortbilden.

Auch für Birgit, Irina, Kevin, Regina, Sara und Sandra hat sich der Ausflug in die Unternehmenswelt gelohnt. Während ihre Mitschüler noch schwitzen, haben sie die Noten für ihre erste Abiturprüfung bereits in der Tasche. Alle bekamen zwischen elf und 14 Punkten, also alle gut bis sehr gut.

Schüler lernen: So geht Business

Die StartUp-Werkstatt sucht die Unternehmer von morgen. Das Internet-Planspiel von McKinsey & Company, den Sparkassen und dem Stern richtet sich an Schüler der Jahrgangsstufen 10 bis 13 von allgemein und berufsbildenden Schulen. In Teams von drei bis sechs Schülern gründen sie ein fiktives Unternehmen. Innerhalb von fünf Monaten (von Januar bis Mai) müssen die Schüler neun Aufgaben lösen, die sie per E-Mail erhalten und abgeben: von der Entwicklung der Geschäftsidee über das Erstellen des Businessplans und die Präsentation vor echten Unternehmern bis zur eigenen Homepage. Eine Jury bewertet die Umsetzung aller Aufgaben.

Die besten zehn Teams präsentieren ihre „Firmen“ bei der Siegerehrung und bekommen Geldpreise von insgesamt 5800 Euro. Für die besten fünf Teams gibt es eine Einladung zum „Future Camp“, einem viertägigen Managementseminar mit Persönlichkeitstraining und Hochseil-Klettergarten.

Die StartUp-Werkstatt, die 2003 zum vierten Mal läuft, ist das bundesweit größte Internet-Planspiel Deutschlands.

In diesem Jahr nehmen rund 6000 Schüler in 850 Teams am Wettbewerb teil.

www.startup-werkstatt.de

Dieser Text stammt aus unserer Redaktion Corporate Publishing.