Qualität kommt
von Qual

Leistung entsteht durch Erleuchtung, Lernen soll Spaß machen, und Disziplin ist ein Horror von vorgestern – so etwa kann man den Zeitgeist raunen hören, wenn man ihm lauscht.




Das sind drei starke Behauptungen, und sie sind alle falsch. Denn gelernt werden muss auch dann, wenn es wehtut; wenn die Arbeit immer frei von Plage bliebe, würde weder unser Zusammenleben funktionieren, noch je ein Spitzenprodukt entstehen in Technik oder Kunst, so wenig wie ohne Disziplin; und die meisten großen Forscher und Erfinder sind nicht einfach „erleuchtet“ worden, auch Dichter, Maler und Musiker nicht: Sie haben sich geschunden – wie sich Virtuosen, Artisten, Erfinder, Unternehmer, Spitzensportler schinden müssen, wenn sie nach oben wollen.

Wie konnte ein so fataler dreifacher Irrtum entstehen? Vermutlich aus zwei Gründen. Zum einen durch den Geniekult, der sich seit dem 18. Jahrhundert in Europa ausbreitete: Große Männer, die als „Genies“ bewundert werden wollten, stilisierten sich gern zu Sprachrohren einer göttlichen Eingebung, „die Stimme des Himmlischen“ vernähmen sie, sprach Goethe. Das gefiel den Leuten, es schützt auch vor Kritik, und so tat der große Mann gut daran, seine Plage zu verschweigen.

Zum anderen geschah es 1968, dass unser aller Neigung, uns das Leben möglichst bequem einzurichten, mit den Weihen einer revolutionären Tat versehen worden ist: Da predigte die Studentenbewegung die Anarchie, die Leistungsverweigerung, die Selbstverwirklichung und den Spaß als Lebenszweck; und der Geist von 1968 ist nicht erloschen.

Es war die Zeit, in der in Amerika die Beatniks, die Hippies, die Blumenkinder vor der Leistungsgesellschaft flohen. Zwar wollten sie die bürgerliche Welt nicht auf den Kopf stellen wie die deutschen und französischen Studenten, aber verächtlich wandten sie sich von ihr ab, am liebsten nackt, unter Drogen und der Erleuchtung nah. Die beiden „Easy Rider“ in dem Kultfilm von 1969 stoßen auf eine Hippie-Kommune, deren männliche Mitglieder sich allesamt gebärden, als wollten sie in Oberammergau den Jesus spielen.

Im Geist von 1968 verspottete Oskar Lafontaine noch 1982, damals saarländischer SPD-Vorsitzender, den amtierenden Bundeskanzler: „Helmut Schmidt spricht von Pflichtgefühl, Berechenbarkeit, Machbarkeit, Standhaftigkeit. Das sind Sekundärtugenden. Ganz präzis gesagt: Damit kann man auch ein KZ betreiben.“ Die Aussage war nicht einmal falsch, richtig jedoch nur auf eine perfide Weise: etwa so, als wenn man sagte, „aus Steinen lassen sich auch Folterkammern bauen“ – und dabei die Kathedralen verschwiege.

Noch 2002 sahen Spiegel und Stern das Klima von 1968 lebendig, aber so, dass sie ihre einstigen Sympathien widerriefen: Der Spiegel plädierte für „Disziplin, Ordnung, Fleiß und Pünktlichkeit“ an den weithin verwahrlosten Schulen; der Stern konzedierte der FDP, dass sie in ihrem rabiaten Wahlkampf nicht zuletzt „das Monopol der 68er-Generation in Sachen Moral“ attackiere.

Die Attacke lohnte sich also noch, der Ungeist war nicht gebrochen. Ist er es heute? An den Schulen schon mal nicht. Wenig hat der Pisa-Schock bisher an der dominierenden Gesinnung geändert, in der sich die Spätachtundsechziger unter den Lehrern mit der Mehrheit der Schüler treffen, den computer-, fernseh- und disco-süchtigen: Es regiert weiter die „Spaßpädagogik“ – wie immerhin der Präsident des Deutschen Lehrerverbands, Josef Kraus, sie zornig getauft hat: Finden Lehrer oder Schüler das Gebot verletzt, dass Lernen ein Vergnügen sein soll, so prüfen sie wohlwollend, ob sie den entsprechenden Stoff nicht fallen lassen können.

„Die meisten Kinder sehen ihre Lehrer als Animateure, die vor allem eines liefern sollen: Spaß!“ So sagt es Bernhard Bueb, langjähriger Leiter des Elite-Internats Salem, in seinem Buch „Lob der Disziplin“, das es 2006 auf die Bestseller-Liste schaffte. „Der lange Arm Hitlers hindert uns immer noch daran, Disziplin selbstverständlich einzufordern. Doch die Zukunft Deutschlands hängt von der Rückkehr der Disziplin ab.“

Ja doch: Herrlich ist’s, mit Spaß zu lernen, und wohl dem Lehrer, der auch einer schwierigen Materie unterhaltsame Aspekte abgewinnt. Aber das Bildungssystem einer ganzen Nation kann sich nicht darauf verlassen, dass der begnadete Pädagoge der Normalfall wäre; und selbst der beste Lehrer ist nicht imstande, die Rechtschreibung des Englischen oder die unregelmäßigen Verben des Französischen mit Spaß zu lehren.

Der Schüler, der sich fit fürs Leben macht, die Gesellschaft, die einen gewissen Kulturstandard durchsetzen will, kommt ums Eintrichtern, ums Pauken nicht herum. Die französische Pädagogik hat diese ewige Wahrheit zu dem Satz zugespitzt: „Es ist ganz egal, was die Kinder lernen – Hauptsache, sie hassen es.“ Eine Übertreibung nach der anderen Seite, die indessen das wahre Element enthält: Nicht einmal Hass darf mich am Lernen hindern, wenn ich etwas erreichen will. Der kleine Beethoven hat das Üben am Klavier gehasst und der kleine Paganini seines Vaters Drill auf der Geige; der Spaß kommt, wenn aus dem Lernen das Können erblüht, und nur aus dem Spaß ist noch nie ein Könner aufgestiegen – nicht einmal Mozart, denn sein Vater hat auch ihn den Qualen der Disziplin unterworfen. Über Wissenschaftler und Erfinder sagte Henri Poincaré (1854–1912), einer der berühmtesten Mathematiker, Physiker, Astronomen und Philosophen seiner Zeit und ein brillanter Schriftsteller dazu: Wer in den Naturwissenschaften etwas entdecken wolle, der brauche die Abfolge „Lange Arbeit – plötzliche Erleuchtung – lange Arbeit“. Auch die Inspiration also ist rundum in Arbeit eingebettet.

Charles Darwin begann seinen Weg in den Weltruhm mit seiner fünfjährigen Weltumseglung und hatte zwei Jahre später, 1838, blitzartig die Erleuchtung von der Zuchtwahl durch die Natur. Aber dann forschte er und grübelte er zwanzig Jahre lang, bis er sich mit dieser revolutionären Einsicht an die Öffentlichkeit wagte. Was braucht ein Wissenschaftler zum Erfolg?, fragte er in seiner Autobiografie. Seine Antwort: Liebe zur Sache, gesunden Menschenverstand, Fantasie und „die uneingeschränkte Geduld, lange Zeit über einen Gegenstand nachzudenken und fleißig zu sein beim Beobachten und Sammeln von Tatsachen“.

Thomas Alva Edison hatte siebzig Jahre lang gearbeitet, als er 1931 mit 84 Jahren starb; 1033 Erfindungen bekam er patentiert, mehr als jeder andere Mensch; 6000 Versuche stellte er an, bis er für die Glühbirne den richtigen Glühfaden gefunden hatte. Edison wird der Ausspruch zugeschrieben: „Genie ist 99 Prozent Transpiration und ein Prozent Inspiration.“

Viele Dichter, Maler, Musiker sahen es nicht anders. Flaubert war längst weltberühmt mit der „Madame Bovary“, als er immer noch seufzend behauptete, er schufte „wie sechsunddreißig Millionen Neger“. Robert Musil arbeitete mehr als zwanzig Jahre lang an seinem Riesenwerk „Der Mann ohne Eigenschaften“, und das 178ste von 251 Kapiteln, „Atemzüge eines Sommertags“, schrieb er zwanzigmal um. Unter den Musikern waren zwar ein paar, die ihre Einfälle mit traumhafter Schnelligkeit in Noten gossen wie Mozart oder Schubert. Aber in Beethovens Skizzenbüchern sind für eine Arie aus dem „Fidelio“ dreizehn Versionen überliefert. Richard Wagner klagte über die „leidenschaftliche, ja peinliche Ausdauer“, mit der, nach der schnellen Konzeption eines großen Plans, seine Verwirklichung betrieben werden müsse; er stöhnte über „das blutig schwere Werk der Bildung einer unvorhandenen Welt“ und über die Kraft, die es ihn koste, „wenn man immer einen Weltuntergang in jeder Note geben soll“.

Auch unter den Malern gab es einige, die sofort das Endgültige schufen: Goya brauchte für manche seiner Porträts nur einen halben Tag, van Gogh schleuderte in den letzten 69 Tagen seines Lebens 82 Gemälde unter Qualen in die Welt. Aber dann die anderen: Adolph von Menzel machte wochenlang von früh bis spät zwischen glühenden Blöcken und sausenden Schwungrädern Skizzen für sein grandioses „Eisenwalzwerk“. Michelangelo malte in seinen Sechzigern sechs Jahre lang am „Jüngsten Gericht“, dem 19 Meter hohen Fresko an der Altarwand der Sixtinischen Kapelle, 391 Figuren auf 200 Quadratmetern, einem Tennisplatz in der Senkrechten. Er malte sie stehend, kniend, sitzend, liegend auf den bekleckerten Brettern eines Gerüsts wie für ein fünfstöckiges Haus – eine Plage ohnegleichen; und da Michelangelo dabei doch offensichtlich zugleich „Selbstverwirklichung“ betrieb, demonstrierte er, dass die nicht, wie so oft dahingefaselt, darin besteht, im Schilf zu träumen, sondern sich zu quälen – jedenfalls wenn da ein Selbst vorhanden ist, das die Verwirklichung lohnt. 

Auch wo höchste Meisterschaft nicht gefragt ist, weil ein Volk nicht nur aus Genies bestehen kann – ohne Transpiration kommt Qualität nicht zustande, egal, ob ein Handwerker eine Heizung repariert, ein Klaviervirtuose sein tägliches Übungspensum absolviert oder ein Arzt eine Nierentransplantation vollzieht. Journalisten und andere Berufsschreiber traktiere ich seit einem Vierteljahrhundert mit dem Spruch „Qualität kommt von Qual“, und das bedeutet: Wenn du etwas hingeschrieben hast, so wage nicht, es gut zu finden, bloß weil es von dir ist! Wenn die Zeit irgend reicht, dann nutze die Einsicht, dass die Plage nun erst beginnt: nämlich an dem Text zu feilen, so lange, bis er sein Optimum erreicht hat.

Thomas Mann schrieb an seinem jeweiligen Roman jeden Tag von 9 bis 12, auch am 3. September 1939, als England und Frankreich Hitler den Krieg erklärten („Ich schrieb meine Seite wie gewohnt“) oder 1941 im Schlafzimmer seines Hauses in Princeton, während die Möbelpacker die übrige Wohnung schon ausräumten für den Umzug nach Kalifornien. „Meine Seite“! Drei Stunden lang. Edgar Allan Poe notierte: „Ich kenne nicht das Wörtchen ,leicht‘! Den ganzen Tag saß ich am Schreibtisch, und die Lampe brannte bis nach Mitternacht.“ Und Schiller schrieb an Goethe: „Wüssten es nur die allzeit fertigen Urteiler und die leicht fertigen Dilettanten, was es kostet, ein ordentliches Werk zu erzeugen.“

Wolf Schneider war Korrespondent der Süddeutschen Zeitung in Washington, Verlagsleiter des Stern, Chefredakteur der Welt und 16 Jahre lang Leiter der Henri-Nannen-Journalistenschule.

Heute ist er Ausbilder an sechs Journalistenschulen und Lehrer für lesbares Deutsch in Wirtschaft, Presse und Behörde. Schneider hat 26 Sachbücher geschrieben, zuletzt „Glück! – Eine etwas andere Gebrauchsanweisung“.


Dieser Text stammt aus unserer Redaktion Corporate Publishing.