Ungenutzte Hebel

Es war eine Premiere, irgendwann im Frühjahr dieses Jahres. Die Sonnenbrille war wirklich schick, eine Nobelmarke, aber 430 Euro waren auch ganz schön happig. Also tat ich, was ich mich bis dahin nie getraut hatte: Ich fragte den Verkäufer vorsichtig, ob sich da noch etwas machen ließe. Der Mann musste keine fünf Sekunden überlegen, lächelte mich an und meinte, mit 70 Euro könne er mir entgegenkommen. Ich habe die Brille gekauft – und beschlossen, den Laden nie wieder zu betreten.




Die Freude an dem Stück war dahin. Ich war sauer. Und ratlos. Hatte der jetzt seine Marge drangegeben? Noch dazu für eine völlig fremde Kundin? Hat er den vom Hersteller empfohlenen Verkaufspreis zuvor dramatisch erhöht? Oder womöglich trotz des Rabatts noch ein gutes Geschäft gemacht? Wenn es so leicht ist zu sparen: Zahle ich grundsätzlich zu viel? Subventioniere ich all jene, die aus Spaß am Feilschen regelmäßig mit Schnäppchen davon ziehen? Worauf kann ich mich künftig verlassen? Hat der Wert eines Produktes überhaupt noch etwas mit seinem Preis zu tun?

Die schlechte Nachricht: Auf Konsumentenfragen wie diese wissen auch Hersteller und Handel in der Regel keine Antwort. Selbst wenn Marketingfloskeln wie „scharf kalkuliert“ oder „mit spitzem Bleistift gerechnet“ das Gegenteil suggerieren: Der komplizierte Prozess der Preisfindung ist in den meisten Unternehmen ein Buch mit sieben Siegeln.

Was darf eine Neuentwicklung kosten? Was ist der richtige Preis bei der Produkteinführung – und am Ende des Lebenszyklus? Wie viel hat die Preisreduktion unterm Strich gekostet? Und was hat sie gebracht – mit Blick auf Umsatz und Marge? Und für den einzelnen Kunden? Welche Preisstrategie verfolgen die wichtigsten Wettbewerber? Mit welchem Ergebnis?

All das bleibt vielerorts unbeantwortet, die Unternehmen stochern im Nebel. Im Bemühen, den Kunden mit einem guten Preis zu locken, verschenken Industrie und Handel seit Jahren Geld. Denn gut heißt für die meisten billig, also werden quer durch alle Branchen regelmäßig die Preise gesenkt. Die dauernden Rabattschlachten sind schon in ruhigen Zeiten schwierig. Jetzt droht die Mehrwertsteuererhöhung, und damit wird es endgültig gefährlich. Allein die Autoindustrie wird in diesem Jahr fünf Milliarden Euro in Form von Boni, Prämien und Sonderangeboten verschenken, weil sie auf vorgezogene Verkäufe hofft. Trotzdem wird sie sich vermutlich auch im kommenden Jahr, genau wie in der Vergangenheit, über den Preisverfall und sinkende Margen beschweren.

Die Industrie wird die Macht der Preise noch lange spüren, denn der Ausweg aus der ruinösen Spirale wird immer schwerer. Wieso sollte ein Autokäufer auch jemals wieder 35.000 Euro für das technologische Highlight zu zahlen bereit sein, wenn er die letzte Modell-Innovation des Herstellers zum Schnäppchenpreis von 25.000 Euro bekommen hat? Wie lässt sich dem Gast im Luxushotel erklären, dass sein Zimmer heute 300 und morgen 99 Euro kostet? Woran soll sich der Konsument überhaupt noch orientieren, wenn sich nicht einmal der Verkäufer um den wahren Wert seiner Ware schert?

Ja, der Wettbewerb ist hart, und ohne Anreize und Signale, die von einem guten Preis ausgehen, wird es kaum gehen. Gut heißt aber nicht beliebig. Und schon gar nicht billig. Einfach nur günstig oder günstiger als die Konkurrenz sein zu wollen zeugt weder von einer originellen Idee noch von einer profunden Preisstrategie.

Professionelles Pricing, so hat es McKinsey definiert, ist etwas anderes als ein richtiger Preis. Es ist der Prozess, der hilft, zur richtigen Zeit den richtigen Preis zu definieren. Eine Daueraufgabe für das gesamte Unternehmen. Die gute Nachricht: Wer den Prozess beherrscht, bewegt den stärksten aller Hebel. Denn er schafft keine Preise, sondern Werte – zum angemessenen Preis. Und das nützt Kunden wie Unternehmen.


Dieser Text stammt aus unserer Redaktion Corporate Publishing.