Gewusst wie

Wie viel muss ein Kfz-Versicherer über seine Kundschaft wissen? So viel wie möglich, meinen die Briten. Nur wer seine Kunden kennt, kann maßgeschneiderte Tarife bieten. Mit weniger Risiko und mehr Gewinn.




Angenommen, Sie leben auf dem Land, Sie arbeiten von zu Hause aus, Ihr Auto steht die meiste Zeit in der Garage. Sie fahren nie während der Rushhour in die Stadt, höchstens mal am Wochenende. Verzichten können Sie auf das Auto allerdings auch nicht, der Bahnhof liegt ein paar Kilometer entfernt, der nächste Supermarkt nicht gerade um die Ecke. Wie wäre es da mit einem Kfz-Versicherungstarif, der nur die Kilometer berücksichtigt, die Sie tatsächlich fahren?

Der größte britische Autoversicherer Norwich Union, Tochter des Finanzkonzerns Aviva, hat sich gedacht, ein derartiger Tarif könne die Kundschaft interessieren. Seit August 2004 testet das Unternehmen deshalb Policen, die per Kilometer und Uhrzeit abrechnen, mittels „Blackbox“ und Satellit. „Pay as you drive“ (zahle so viel, wie du fährst) lautet die werbeträchtige Losung.

Der Beifahrer, der immer aufpasst

Rund 5000 Fahrer zwischen 25 und 65 Jahren sammeln seitdem Daten. Im Kofferraum ihres Pkw ist ein Kästchen untergebracht, so groß wie ein CD-Spieler. Über das Satelliten-Ortungssystem GPS holt sich die Box Daten über die Position des Wagens und sendet sie per Mobilfunk an den Rechner des Versicherers. Der gleicht die Navigationsdaten mit einer Landkarte ab und errechnet die Fahrkilometer. Zudem überspielt die Box Informationen über den Zeitraum, in dem die Kilometer gefahren wurden. Je nach Strecke und Tageszeit kalkuliert Norwich Union die Prämie. Je mehr ein Versicherungsnehmer fährt und je gefährlicher der Zeitpunkt seiner Touren, desto höher fällt die Rechnung aus.

Attraktiv sind die Tarife für Zweitwagenbesitzer, Wochenendfahrer oder Pendler mit Fahrtzeiten außerhalb der Rushhour und eher sicherer Autobahnroute. Sie sollen in Zukunft bis zur Hälfte ihrer heutigen Prämien sparen können, wirbt Norwich Union – und so nicht länger all jene Fahrer subventionieren, die vor allem die risikoreicheren Kurzstrecken in Ballungsräumen zurücklegen.

Was hierzulande futuristisch anmutet, sorgt bei britischen Autofahrern für ein müdes Achselzucken. Wer in Großbritannien eine Kfz-Versicherung abschließt, steht unter ständiger Beobachtung. Britische Versicherer wollen so viel wie möglich über ihre Kunden und ihr Marktumfeld wissen, um die detaillierten Kenntnisse als Stellhebel ihrer Preispolitik zu nutzen. Das Kalkül: Je besser die Versicherer ihre Klienten und deren Fahrverhalten kennen, desto besser können sie die tatsächlichen Schadensrisiken einschätzen und auch mit niedrigen Prämien Gewinn machen. Also fragen die Versicherer der Insel alles ab, was der Risikostatistik dient. Ihr Datenschatz über Kunden und Mitbewerber wächst ständig – genau wie ihr Vorsprung im internationalen Vergleich. „Die Briten haben gelernt, Marktentwicklungen abzuschätzen“, sagt Thomas Sepp, Principal im Londoner Büro von McKinsey & Company. „Das erlaubt ihnen, ihre Angebote aktiv zu managen – anstatt auf Veränderungen bei Preisen nur zu reagieren.“

Auf dem Festland sieht die Situation ganz anders aus. Zwar versuchen inzwischen alle europäischen Anbieter, die heterogene Klientel mit individuellen Sondertarifen zu bedienen, im Vergleich zum Erfindungsreichtum der Briten schneiden die Schadenversicherer jedoch nur mäßig ab. Das gilt auch für die deutschen Assekuranzen, dabei wären gerade sie auf die Entwicklung lukrativer neuer Modelle angewiesen. Es geht um viel Geld: Mit einem Umsatz von gut 22 Milliarden Euro im Jahr 2004 entfällt hierzulande auf den Kfz-Bereich ein großer Brocken der Versicherungsprämien in Höhe von insgesamt knapp 152 Milliarden Euro. Zudem gilt die Autoversicherung als Türöffner: Wer bei einem Anbieter eine Kfz-Versicherung unterschreibt, kauft in der Regel bei ihm auch weitere Policen.

Zwischen 400 und 500 Euro geben deutsche Autofahrer im Schnitt pro Jahr für ihre Kfz-Versicherung aus – die Prämien aller anderen Schaden- und Unfallversicherungen addieren sich nur auf durchschnittlich rund 200 Euro. Damit ist die Autoversicherung nicht nur der größte, sondern auch der sensibelste Posten für deutsche Versicherte. „Folglich ist gerade hier die Preissensitivität und auch die Wechselbereitschaft am größten“, sagt Sepp.

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Wer seine Kunden halten oder neue gewinnen will, muss seine Tarife immer genauer auf die Bedürfnisse einzelner Zielgruppen zuschneiden – und sich den Autofahrern mit günstigen Angeboten empfehlen. Auch in diesem Jahr zeichnen sich zum Stichtag 30. November, dem Datum, bis zu dem die Versicherten hierzulande ihren Anbieter wechseln können, bereits deutliche Preisnachlässe ab. Die Branche rechnet mit Nachlässen von bis zu sechs Prozent gegenüber dem Vorjahr und offeriert eine Reihe neuer Tarife. Wer sein Auto in einer Garage parkt, kann ebenso auf Vergünstigungen hoffen wie Wenigfahrer, Beamte oder Besitzer einer Bahncard. Die Kölner Axa-Versicherung gewährt einen Sicherheitsnachlass von zehn Prozent für Fahrer, deren Wagen über ein automatisches Tagfahrlicht verfügt. In Berlin berücksichtigen Versicherer bei ihrer Tarifgestaltung den Wohnort des Kunden, dabei gilt die Postleitzahl als Indikator. Für Zustellbezirke mit statistisch niedrigerem Risiko gibt es Preisabschläge und umgekehrt.

Die Masse der Versicherer ist allerdings wenig innovationsfreudig. Anders als die Briten, die den Markt mithilfe eines professionellen Datenmanagements segmentieren und Preise entsprechend einer systematischen Marktbeobachtung festlegen, greifen deutsche Versicherungsmathematiker immer wieder auf persönliche Markteinschätzungen zurück. Ein systematischer Informationsfluss von Marketing und Marktforschung zu den Rechenexperten ist kaum etabliert. Nur die wenigsten Versicherer prüfen, wie genau und vollständig Kundendaten erhoben werden. Es mangelt an Informationen und an Transparenz – und damit auch an der Übersicht, in welchen Produkt- und Kundensegmenten tatsächlich verdient wird und in welchen nicht. „An den Standard in Großbritannien reicht im deutschen Versicherungsgeschäft noch niemand heran“, sagt McKinsey-Berater Sepp. Die Briten kennen nämlich nicht nur den Markt sehr genau – sie können auf Knopfdruck auch kalkulieren, welcher Preis im Einzelfall für Kunden und Unternehmen der richtige ist.

Hinter dem Vorsprung steckt jahrelange Erfahrung, die sich die Kfz-Versicherer in Großbritannien aneignen mussten, seit der Markt 1968 dereguliert wurde. Der Wettbewerbsdruck auf der Insel ist enorm. Mit 19,1 Milliarden Euro spielten die Autoversicherungen im Jahr 2004 zwölf Prozent aller Prämien ein. Aber es wollen viele ein Stück vom Kuchen: Unter den 67 verschiedenen Anbietern finden sich Banken wie die Royal Bank of Scotland und Organisationen wie die Farmer-Gewerkschaft. Wer in Großbritannien erst einmal von der Finanzdienstleistungsbehörde als Versicherer zugelassen ist, kann sein Geschäft ausrichten, wie er möchte: Er kann Versicherungen ausschließlich für Frauen, nur für unfallfreie Fahrer oder nur für Ältere anbieten. Auch in der Tarifgestaltung ist der Anbieter völlig frei. Das sorgte früh für Vielfalt – und für Differenzierungen, die der deutsche Markt erst langsam seit der Deregulierung 1994 erlebt.

Eine steigende Zahl von Direktversicherern setzt die Branche auf der Insel seit Jahren zusätzlich unter Druck. 1985 eröffnete mit „Direct Line“ die erste Versicherung, die auf ein teures Filialnetz und Broker verzichtete und ihre Kfz-Policen nur per Telefon und Internet verkauft. Etliche Anbieter kopierten das kostengünstige Modell, inzwischen werden rund 32 Prozent aller britischen Kfz-Policen direkt abgeschlossen. In Deutschland liegt der Anteil bei weniger als zehn Prozent. Hinzu kommt, dass britische Policen jeweils am Ende eines Jahres auslaufen und – im Unterschied zu Deutschland, wo sich der Versicherungsschutz automatisch verlängert – aktiv erneuert werden müssen. „Makler locken die Kunden in dieser Verlängerungsphase traditionell mit niedrigeren Preisen“, weiß McKinsey-Berater Sepp. Ein Preiskampf, den etliche Anbieter nur mit großen Verlusten überleben. Auf die gesamte Branche bezogen, schneidet die britische Kfz-Versicherungswirtschaft deshalb nicht einmal besonders gut ab. Trotz ihrer maßgeschneiderten Tarifgestaltung belegen die Briten im europäischen Vergleich nur einen Mittelfeldplatz. Die britischen Branchenführer allerdings können durchaus als Benchmark gelten, meint Sepp. „Weil die exzellenten Spieler auch in diesem extrem harten Markt profitabel operieren, und das aufgrund ihres permanenten Risikomanagements.“

Wer seine Kunden und ihr Fahrverhalten kennt, muss mit einem Standardtarif für verschiedene Risikoprofile nämlich nicht dauernd quersubventionieren. Der kann Fahrern mit extrem niedriger Unfallwahrscheinlichkeit, also „guten Risiken“, billige Tarife anbieten – und dennoch gut daran verdienen. Wer beispielsweise weiß, dass ein Kunde aufgrund seines Fahrprofils nur ein Viertel des Risikos von Normalfahrern trägt, kann selbst bei einer Halbierung der Prämie noch einen ordentlichen Profit einfahren – und sich im Konkurrenzkampf um die attraktiven guten Risiken einen Wettbewerbsvorteil sichern, den durchschnittliche Versicherer nicht erzielen.

Schaden lässt sich nicht verhindern – aber berechnen

„Dieses Preissetzungspotenzial lässt sich am besten realisieren, wenn das Pricing zwei Schlüsselkomponenten umfasst“, sagt Thomas Sepp, „dazu zählen die technische Kalkulation und eine marktbasierte Preisgestaltung.“ Die technische Kalkulation befasst sich im Wesentlichen damit, Versicherungsrisiken zu messen und darauf basierend Preise festzulegen. Das richtige Einschätzen eines Risikos ist für Versicherer essenziell und Voraussetzung für den Erfolg ihres Geschäftsmodells. Im Prinzip lautet es: Ich übernehme dein finanzielles Risiko, und du zahlst eine Prämie. Diese Rechnung geht nur auf, wenn die Kosten, die den Versicherer im Extremfall erwarten, den durch Prämien erzielten Nutzen nicht übersteigen. Deshalb ist im Versicherungswesen auch nicht die Gefahr an sich entscheidend, sondern die Vorhersehbarkeit und Kalkulierbarkeit des möglichen Schadens. Der Versicherer kann sich kein Unwissen leisten. Denn wie gering die Eintrittswahrscheinlichkeit eines Schadens auch sein mag: In der nächsten Sekunde kann es passieren, und dann muss ein Finanzpolster da sein.

Traditionell rechnet die Assekuranz mit Erfahrungswerten und mathematischen Wahrscheinlichkeiten: Wie oft kracht ein Mercedes gegen Leitplanken? Wie viel seltener setzen Frauen ihren Wagen in den Graben als Männer? In welchem Alter neigen Männer besonders zum Rasen? Je präziser das Wissen um die potenziellen Kunden, desto besser lässt sich das konkrete Risiko einschätzen. Ein Zusammenhang, den britische Versicherer seit Jahren durch immer bessere Instrumente der detaillierten Datenerhebung spezifizieren.

So ist in Großbritannien beispielsweise die Tarifgestaltung nach Postleitzahlen, mit denen einige Anbieter neuerdings in Berlin experimentieren, schon lange Standard. Wer im Zustellbezirk N5 1XG des Londoner Stadtteils Highbury wohnt, bezahlt beim Internetversicherer Elephant für seinen VW Golf 599,14 Pfund (889,80 Euro) jährlich. Nur fünf Kilometer weiter südlich, im etwas sichereren N1 7SH, gibt es die Versicherung für denselben Fahrer von Elephant für 514,50 Pfund (764,17 Euro) jährlich.

Auch bei der Individualisierung von Risikomerkmalen des Fahrers sind die Briten weit vorn, denn in der Befragung sind die Versicherer der Insel schon seit Jahren akribisch. Stellen die deutschen Anbieter ihren potenziellen Kunden zwischen zehn und 20 Fragen, will beispielsweise der britische Direktversicherer Admiral mehr als 30 verschiedene Details wissen. Besonders beim Beruf werden die Datensammler spitzfindig. Allein für die Kundengruppe Auto fahrender Journalisten unterscheidet der Versicherer „Lokalreporter, Korrespondent, Redakteur und Reporter“. Von einem Reporter wird angenommen, dass er viel unterwegs ist – und damit potenziell häufiger in einen Unfall verwickelt, seine Police ist daher teurer.

Trinken ist teurer als Rasen

Auch wer schon einmal wegen Trunkenheit am Steuer belangt wurde, bezahlt mehr als der Fahrer, der bei Rot über eine Ampel gebrettert ist und erwischt wurde. „Die Kategorien müssen nicht immer logisch sein“, sagt Sita Schwenzer, die bei Admiral im Bereich Business Development arbeitet. „Unseren Berechnungen liegen jeweils Schadensstatistiken zugrunde, die diese Ergebnisse zutage gefördert haben.“

Für jedes Risikoprofil ermitteln Versicherungsmathematiker spezifische Zu- oder Abschläge, sogenannte Loadings, sie richten sich jeweils danach, wie stark ein Merkmal ausgeprägt ist. Und auch hier gilt die Regel: Je detaillierter ein Versicherer die Ausprägungen eines Merkmals erfassen und analysieren kann, desto präziser lässt sich das tatsächliche Unfallrisiko abschätzen. Statt wie in Deutschland die Frage nach dem Alter des Fahrers auf die Antworten „junger Fahrer“, das heißt jünger als 25 Jahre, oder „alter Fahrer“ zu reduzieren, erfragen britische Versicherer deshalb häufig konkrete Ist-Werte. Zum Beispiel: 42 Jahre mit 22 Jahren Führerscheinerfahrung. Und sie ermitteln Zu- oder Abschläge für typische Kombinationen von Merkmalen. Das passiert beispielsweise immer dann, wenn sich Risiken nicht eindeutig einer einzelnen Ursache zuordnen lassen, weil sie oft gemeinsam mit anderen auftreten. So verlangen einige britische Versicherer zum Beispiel höhere Tarife für Fahrerinnen Mitte 40, weil die Erfahrung lehrt, dass bei weiblichen Versicherten dieser Altersgruppe häufig die gerade erwachsen gewordenen Kinder das Auto der Mutter mitbenutzen.

Milliarden Möglichkeiten – und ein Preis

Was die Prämie im Einzelfall kostet, errechnet die Assekuranz auf Basis von Punkten. Jede Antwort zu Familienstand und Alter, Autotyp und Parkplatz, Beruf und Wegstrecken hat einen spezifischen Punktwert. Ein Multiplikations- oder Additionsverfahren legt jeweils den individuellen Preis fest. Dabei werden bei britischen Anbietern kaum zwei Versicherte denselben Betrag zahlen müssen. Die Bandbreite theoretisch möglicher Preise ist nahezu unerschöpflich, ihre tatsächliche Zahl hängt davon ab, wie viele Variablen und Parameter der jeweilige Versicherer berücksichtigt.

Bei einem guten Anbieter existieren etliche Milliarden möglicher Kombinationen von Merkmalen, die die Versicherung in der Praxis in handhabbare Preissysteme mit einigen Tausend Preisen übersetzt. Professionelles Pricing im Versicherungswesen bedeutet deshalb nahezu grenzenlos viele Preisalternativen – und die Fähigkeit des Versicherers, die Schadenshöhe so konkret wie möglich mit Blick auf den Versicherungsnehmer zu kalkulieren.

Wo der Preis nicht auf Vermutungen, sondern auf Fakten beruht, müssen permanent Daten gesammelt und analysiert werden. Die Datenmanagementsysteme britischer Kfz-Versicherer umfassen die Informationen von mindestens zwei bis drei Jahren und werden ständig um Trends bereinigt: Autos werden teurer, und Kfz- und Personenschäden steigen in der Höhe. All das gilt es in der Datensammlung zu berücksichtigen. Jede denkbare Verschiebung, jede neue Information aus dem Markt fließt in das hauseigene Rechensystem ein. Das System weiß jederzeit, wann es warum welche Daten-Pools anzapft, es verknüpft Wettbewerbsanalysen mit den eigenen Schadendaten des laufenden Monats, berechnet die möglichen Risikomodelle neu und prüft ständig, ob Preisanpassungen erforderlich sind.

„Die britischen Versicherer arbeiten nach einem industrialisierten Prozess“, sagt Thomas Sepp. Insbesondere in diesem Punkt unterscheiden sie sich von den Deutschen. Hierzulande fehlen nicht selten selbst Basis-Informationen, weiß der Berater. Die Aufteilung in unterschiedliche Abteilungen, ein entsprechend zersplittertes Datenmanagement, fehlende Vernetzungen, die Grenzen der technischen Systeme sowie jene, die der deutsche Datenschutz auferlegt, lassen die Versicherungsmathematiker auf vergleichsweise unsicherem Grund kalkulieren.

Die Chancen, auf Entwicklungen mit flexiblen Tarifänderungen zu reagieren, sind in Deutschland deshalb in aller Regel begrenzt. Britische Versicherer hingegen können prompt auf neue Rahmenbedingungen eingehen: Während deutsche Anbieter ihre Tarife im Schnitt zweimal pro Jahr anpassen, ändert die britische Norwich Union ihre Preise mehr als 50-mal jährlich. Für Bestandskunden ändert sich dabei nichts, die neuen Tarife gelten nur für Interessenten, die erstmals eine Police abschließen.

Und was macht die Konkurrenz?

Wie potenzielle Neukunden auf die angepassten Preise reagieren, wird von den Versicherern natürlich auch penibel beobachtet. Diese Recherchen gehören zum zweiten Teil der Informationen, der neben der technischen Kalkulation die Basis der britischen Preiskalkulation bildet. Denn der technische Preis spezifiziert lediglich die Produktionskosten. Er deckt die Kosten des Risikos, der Verwaltung und des Vertriebs ab. Was bei den Versicherern hängen bleiben soll, berechnen sie aus Daten, die separat in die Preisgestaltung einfließen. Denn anders als die Deutschen hantieren die Briten nicht mit einer fixen Gewinnmarge: Sie machen ihr eigenes Plus stets vom Verhalten der Wettbewerber und ihrer Kunden abhängig.

Die Anbieter vergleichen die eigenen Tarife mit denen der Konkurrenz, beobachten Internet-Broker-Portale, die aktuelle Preis-Rankings aller Versicherer auflisten. Oder sie kaufen von Agenturen Preisspiegel, in denen etliche Tausend Kombinationsmöglichkeiten und Versicherungsvariablen durchgerechnet sind. Die Wettbewerbsanalyse hilft, den eigenen Standort zu bestimmen – und zeigt zudem, welche Ansätze die Konkurrenten bei der Preissetzung verfolgen. Welche Variablen benutzen sie? Mit welchem Detaillierungsgrad bilden sie Risiken in ihrer Tarifstruktur ab? Wie hoch ist ihre Umwandlungsquote, also die Zahl der Interessenten, aus denen am Ende Kunden werden? Führen Anfragen im zeitlichen Verlauf seltener zu Vertragsabschlüssen, ist das normalerweise ein Hinweis auf zu hohe Tarife im eigenen Haus. Und all das gilt es in die eigene Preispolitik zu integrieren. „Versteht ein Versicherer erst einmal, wie die Wettbewerber und Kunden ticken, kann er unnötige Preissenkungen vermeiden, möglichen Attacken entgegenwirken und die eigene Position am Markt stärken“, sagt McKinsey-Berater Thomas Sepp.

Nur ein starker Anbieter kann es sich auch erlauben, bei den Bestandskunden mit der „nachfrageorientierten Preisgestaltung“ zu experimentieren. Hinter diesem Begriff steht die Frage: Was ist mein Produkt meinem Kunden eigentlich wert? Denn nur wer das weiß, kann im Versicherungsgeschäft gezielt den Spielraum für Preiserhöhungen bei seinen Policen kalkulieren. Das genaue, empirisch fundierte Ausloten von Erhöhungsspielräumen sowie der entsprechenden eventuellen Abwanderungsraten von Kunden soll helfen, die optimale Balance zwischen einer niedrigen Storno-Quote und hoher Profitabilität zu treffen. Praktisch messbar machen Anbieter diese Preissensitivität der Bestandskunden im Rahmen von Tarifanpassungen.

Zur Hauptfälligkeit der Policen vergeben sie dazu an eine empirische Gruppe von mehreren Tausend Bestandskunden zufällige, unterschiedliche Preisaufschläge, die in der Regel zwischen 0 und 20 Prozent des bisherigen Preises ausmachen. Anschließend messen die Versicherer, wer kündigt und wer seine Police verlängert. Die Daten fließen in die Entwicklung statistischer Modelle ein, mit denen eine Versicherung die Kündigungswahrscheinlichkeit in Abhängigkeit von der Preiserhöhung für Kunden mit unterschiedlichen Profilen vorhersagen kann. Und die es ihr erlauben, verschiedene Szenarien zu analysieren. Plant ein Versicherer beispielsweise, die Preise bei seinen Bestandskunden im nächsten Jahr um durchschnittlich fünf Prozent zu erhöhen, kann er mit dem Modell errechnen, wie er die Preissteigerung auf einzelne Kunden verteilen sollte, um die Kündigungsquote zu minimieren.

Die Furcht vor Big Brother

In Deutschland stößt dieses Werkzeug auf wenig Gegenliebe. Skeptiker kritisieren die Taktik als Verdummung des Kunden und mahnen, die Branche werde auf diese Art das Vertrauen ihrer Kundschaft verspielen. Bei den britischen Anbietern gehört die nachfrageorientierte Preisgestaltung dagegen seit Jahren zum Standard ihrer Preispolitik. Kritik begegnen sie mit dem Hinweis darauf, dass sich nur dadurch zwangsläufig nötige Preisanhebungen mit Blick auf die Verträglichkeit für den eigenen Kundenbestand vornehmen ließen.

Ähnlich gelassen gehen sie mit hierzulande oft geäußerten Bedenken um, die detaillierte Datenerhebung sei nicht mit dem Schutz der Kundendaten vereinbar. So mutmaßten deutsche Versicherer beispielsweise angesichts der von Norwich Union getesteten Policen, die dank Satellitentechnik per Kilometer und Uhrzeit abgerechnet werden, vielen Autofahrern würde sicherlich der Gedanke missfallen, in ihrem Wagen stets per Satellit aufspürbar zu sein. Norwich Union konterte auch diesen Vorwurf pragmatisch: Das Unternehmen umwarb seine Police unlängst mit dem Hinweis, die gestohlenen Autos ihrer Kunden seien immerhin jederzeit wieder auffindbar. Damit sei das Angebot nicht nur günstig, sondern auch ein nützlicher Beitrag zur Diebstahlsicherung.


Dieser Text stammt aus unserer Redaktion Corporate Publishing.