Die Preisfrage

Werber sagen: Der Preis ist heiß.
Markttheoretiker sagen: Der Preis ist gerecht.
Konsumpsychologen wissen: Der Preis ist nicht alles. Denn der Mensch kauft, handelt und entscheidet nur selten vernünftig.




Wir leben in einer Konsumenten-Demokratie, deren höchste Werte sind: Liberté, Egalité, Portemonnaie.

David Bosshart

Theoretisch ist alles ganz einfach: Der eine hat, der andere sucht, und wenn sie sich finden, wird ein Geschäft daraus. Das Modell ist so alt wie die Menschheit und so simpel wie der Mechanismus einer Kinderwippe. Betriebswirtschaftliche Lehrbücher verdeutlichen es gern anhand zweier Parabeln – Angebot steht an der einen, Nachfrage an der anderen, und der Punkt, an dem sich beide treffen, ist der Preis.

So weit die Theorie. Leider erklärt sie nicht, wie es passieren kann, dass Produkte immer billiger werden, obwohl sie doch einen bestimmten Wert haben müssten. Wieso denselben Verbrauchern, die bei Alltagsartikeln um jeden Cent feilschen, manche Dinge gar nicht kostspielig genug sein können. Warum Produkte scheitern, weil sie billig sind. Oder weshalb die Deutschen, obwohl die Teuerung seit Jahren auf rekordverdächtig niedrigem Niveau liegt, den Euro noch immer als „Teuro“ beschimpfen.

Was die Preisfrage in der Praxis so kompliziert macht, ist die Natur des Menschen. Er verhält sich einfach selten rational. Auch und gerade wenn es um Geld geht. Warum der Konsument beispielsweise kauft oder sich verweigert, welchen Preis er als gut oder überzogen empfindet, wo er sich fair behandelt oder über den Tisch gezogen fühlt, hat unter anderem mit Verfügbarkeitsheuristiken zu tun. Das sind Faustregeln, ohne die das Bewusstsein an der täglichen Flut von Eindrücken und Informationen ersticken würde. Die Welt ist viel zu komplex, um sie wirklich zu erfassen, und weil das so ist, greift der Mensch zu einem einfachen Trick: Singuläre Ereignisse werden generalisiert, etwas einmal Erlebtes als allgemeingültig interpretiert. So berichtet der Schriftsteller Jean Paulhan von einem Engländer, der in Calais zum ersten Mal französischen Boden betritt. Im Hafen sieht er eine rothaarige Frau. Daraus schließt er: Alle Französinnen haben rote Haare.

Der Mensch bildet sich immer ein Urteil, und wenn er wie Paulhans englischer Reisender nur über wenige Informationen verfügt, bildet er sich eben ein Vorurteil. Menschen sind Großmeister der Vereinfachung, und davon profitieren all jene, die mit ihnen ins Geschäft kommen wollen. Dank des Heuristik-Ticks reichen beispielsweise dem Elektronikkaufhaus Media Markt wenige, geschickt platzierte Tiefpreisangebote, um sich im Bewusstsein der Kunden dauerhaft als Billiganbieter zu verankern. „Ich bin doch nicht blöd“, souffliert die Werbung dem Verbraucher. Tatsächlich tapst er meist blind durch das Dickicht des Angebotsdschungels, orientierungs-, hilf- und haltlos. Im Grunde genommen hat er keine Ahnung vom Preis-Leistungs-Verhältnis des Gesamtsortiments, weil es unmöglich ist, zwischen all den Aktionen, Rabatten und Extras den Überblick zu wahren. Ersatzweise orientiert er sich an Faustregeln. Billig heißt in Wahrheit „billiger als der Preis, den ich mir beim letzten Mal gemerkt habe“ – und der mit der Realität nicht notwendigerweise etwas zu tun haben muss. Diese Einschränkung indes gestehen sich die wenigsten ein. Der Handel jedoch weiß um den Hang zum Selbstbetrug. Und nutzt ihn.

Das tut er beispielsweise, indem er den Spielraum manipuliert, innerhalb dessen Kunden ihre Kaufentscheidungen treffen. Framing nennen Experten jenen Entscheidungsrahmen, der mit darüber bestimmt, ob die Kasse klingelt oder zu bleibt. Ein Kunde etwa, der gerade beim Herrenausstatter einen Anzug für 800 Euro erstanden hat, ist durchaus gewillt, auch noch eine Krawatte für 70 und ein Hemd für 120 Euro mitzunehmen – Produkte, die ihm einzeln zu teuer gewesen wären, in Kombination mit dem teuren Stück aber vergleichsweise günstig erscheinen. Eine Variante desselben Kniffs besteht darin, ein ähnliches Produkt in drei unterschiedlichen Preiskategorien anzubieten. Der Kunde, so das Kalkül, wird sich für das mittelteure entscheiden und glauben, er habe gute Qualität zum guten Preis bekommen. Schließlich hat er nicht die billigste Ware genommen, sich aber auch nicht die teuerste andrehen lassen. So machen sich selbst Ladenhüter für einen Händler bezahlt.

Auch die Salami-Taktik ist eine Möglichkeit, den emotionsgesteuerten Menschen zum Erwerb von Dingen zu bewegen, die er im Paket vermutlich kaum in seinen Warenkorb packen würde. Wie gut es funktioniert, hochpreisige Produkte bausatzgleich in scheinbar billige Einzelteile zu zerlegen, macht der italienische Panini-Konzern seit Jahrzehnten vor.

Das Unternehmen brachte wie bei jeder Welt- und Europameisterschaft seit 1961 auch zur diesjährigen Fußball-WM wieder Bilder der Mannschaften, Stadien und Verbandswappen sowie ein entsprechendes Sammelalbum heraus. Das Tütchen mit fünf zufälligen Bildern kostet 50 Cent, das entsprechende Album in Deutschland nur einen Euro. Das klingt billig, addiert sich aber zu einer kostspieligen Angelegenheit. Um die 597 Bilder zu komplettieren, muss ein Sammler im günstigsten Fall 60 Euro investieren. Weil der Kunde den Inhalt der Tütchen aber nicht kennt, wächst mit jedem Kauf die Zahl der Dubletten. Erfahrungsgemäß investiert der Fan daher mindestens 120 Euro in ein Album, dessen Herstellungspreis bei weniger als fünf Euro liegen dürfte. Ein interessantes Preis-Leistungs-Verhältnis. Und doch wurden bis zum Endspiel weltweit rund 4,3 Milliarden Bilder abgesetzt. Die Panini-Druckereien mussten Sonderschichten einlegen, weil die Sticker so gefragt waren – auch bei Erwachsenen.

Wert ist, was der Kunde dafür hält

Dass sogar erfahrene Konsumveteranen den simplen Verkaufstricks auf den Leim gehen, ist einem Phänomen geschuldet, das schon der Konsumtheoretiker Werner Kroeber-Riehl beobachtet hat. „Nicht das objektive Angebot bestimmt das Verhalten der Konsumenten“, erklärt er in seinem Standardwerk „Konsumentenverhalten“ aus dem Jahr 1975, „sondern das subjektiv wahrgenommene Angebot.“ Bis zu dieser ernüchternden Erkenntnis mussten allerdings einige Jahrzehnte vergehen. Lange hatten in der Volkswirtschaftslehre Rationalisten das Sagen, die den Menschen als kühl berechnendes Wesen verstanden. In ihren Modellen führten niedrigere Preise ganz automatisch zu erhöhter Nachfrage – heute wundern sich viele Händler, wieso selbst ihre x-te Rabattaktion nicht mehr wirklich den Umsatz ankurbelt. Warum das so ist, erklärt der Psychologieprofessor und Nobelpreisträger Daniel Kahneman von der Princeton University, der nachwies, wie menschliche Entscheidungen systematisch anders ausfallen, als es die ökonomische Theorie vorhersagt.

Vernünftig und schlüssig ist beispielsweise die Annahme, dass Anleger in einen Investmentfonds investieren, weil er drei Jahre lang gute Gewinne erzielt hat. Kahneman hat analysiert, dass langfristige Entscheidungen jedoch häufig auf kurzfristiger Information basieren. Denn in Wahrheit denken viele Anleger: „Der Fonds hat im vergangenen Monat stark zugelegt, also schließe ich gleich einen Investmentplan für die nächsten zehn Jahre ab.“ Außerdem gilt: Wenn etwas leicht zu merken ist – „Aktien-Performance schlägt Anleihen-Performance“ beispielsweise – machen Menschen sofort eine Regel daraus. Auf diesem Prinzip fußt Werbung.

Die jüngsten gesammelten Erkenntnisse von Psychologen und Konsumforschern über Einkaufsverhalten und Entscheidungen der Verbraucher führen deshalb zu einer für manche ernüchternden Erkenntnis: Der Kunde ist nicht halb so clever, wie er glaubt. Und er lässt sich stets von Empfindungen leiten statt von nüchternen Analysen. Wie sehr, ließ sich trefflich anlässlich der Einführung des Euros vor vier Jahren beobachten. Kaum war die neue Währung im Umlauf, zogen die Deutschen her über den „Teuro“ und Händler, die die Umstellung für angeblich schamlose Preiserhöhungen genutzt hätten. Die Stimmung im Lande war derart aufgeheizt, dass Kunden die Preise gar nicht mehr genau prüften, sondern jede einzelne Preiserhöhung als Frühwarnsignal werteten für die gewaltige Teuerungswelle, die das Land zu überrollen drohte.

Seltsam nur: Weder Verbraucherzentralen noch das Statistische Bundesamt konnten die Aufregung nachvollziehen. Moderaten Preissteigerungen und Fällen von offensichtlicher Abzocke standen Preissenkungen bei anderen Waren und Dienstleistungen gegenüber. Die in Einzelfällen vorhandenen Preisreduktionen, so eine Sprecherin der Verbraucherzentrale Nordrhein-Westfalen, seien in diesem Klima überhaupt nicht mehr wahrgenommen worden. Die „gefühlte Inflationsrate“, das wissen wir heute, lag nach der Euro-Einführung bei sieben Prozent. Tatsächlich, das konstatierte das Statistische Bundesamt bei seiner Bilanz der Euro-Einführung, betrug sie 2002 nur 1,4 Prozent. Die Preissteigerungen fielen insgesamt sogar geringer aus als in den letzten Jahren der vermeintlich so stabilen D-Mark.

Wahrnehmung lässt sich korrigieren

Der Handel konnte trotz des Ärgers unbezahlbare Lehren aus dem Teuro-Irrtum ziehen. Die wichtigste lautete: Unterscheide zwischen Tatsachen und Wahrnehmung! Ebenso wenig wie eine Währung tatsächlich „teuer“ sein muss, um als inflationär verschrien zu werden, muss ein Händler durchgängig günstige Preise anbieten, um sich als Schnäppchenanbieter zu profilieren. „Es ergibt für einen Supermarkt überhaupt keinen Sinn, 300 Artikel zu reduzieren und zu hoffen, danach automatisch als günstiger Discounter wahrgenommen zu werden“, weiß Dieter Kiewell, Pricing-Experte bei McKinsey & Company in London. „Viel wichtiger ist es, insgesamt als ein günstiger Anbieter wahrgenommen zu werden, bei dem sich immer ein guter Deal machen lässt.“

Es reicht also, wenn der Händler jene zehn Preise reduziert, die im Fokus seiner Verbraucher stehen – bei Lebensmitteln beispielsweise das Pfund Kaffee oder das 400-Gramm-Glas Nutella. Diese sogenannten Eckprodukte verkauft er knapp über dem Einkaufspreis. Den notwendigen Gewinn fährt er bequem über all das ein, was die Kunden nebenbei noch mitnehmen, also zum Beispiel Grillsauce, Toastbrot oder Zahnstocher. Dort kann der Händler durchaus deftige Aufschläge durchsetzen – sein Risiko, von der Kundschaft deshalb als teuer eingestuft zu werden, ist gering. Wer kennt schon den Referenzpreis für Zahnstocher? Auf diese Weise kann der Supermarkt sogar insgesamt die Preise erhöhen und wird dennoch als günstig wahrgenommen.

Bei der nächsten Preisrunde geht der kluge Händler noch cleverer vor und rabattiert statt in einem einzigen großen in mehreren kleinen Schritten – weil er aus Erfahrung weiß, dass bei seinen Kunden nur die Tatsache hängen bleibt, dass hier ein Preis gleich mehrfach reduziert wurde, ergo: sagenhaft günstig sein muss. Dabei kann sich der Verkaufsstratege auf das Phänomen der kognitiven Dissonanz verlassen. Dieser „innere Widerspruch“ bedeutet, dass sich der Mensch einmal gefestigte Überzeugungen nur ungern durch Fakten wieder kaputtmachen lässt, selbst wenn sie noch so eindeutig sein mögen. Wer gerade für viel Geld ein teures Auto gekauft hat, wird den hohen Benzinverbrauch, unbequeme Sitze oder den beschränkten Platz im Kofferraum ignorieren und sein Augenmerk stattdessen lieber auf die Seiten des Wagens richten, die seine Kaufentscheidung als klug erscheinen lassen.

Genau genommen ignoriert das Gehirn die unbequemen Fakten nicht, es sortiert sie nur als weniger wichtig ein. Informationen, die getroffene Entscheidungen bestärken, werden dagegen als hoch relevant eingeordnet. Hat das Bewusstsein einen Anbieter erst einmal als konkurrenzlos günstig gespeichert, blendet es die möglicherweise besseren Angebote der Konkurrenz lieber aus, als sich die gerade gewonnene Gewissheit gleich wieder perforieren zu lassen.

Schlecht nur, wenn die wenigen Preisschwellen überschritten werden, die sich der Kunde gerade eingeprägt hat. Genau das droht aber mit der zum Januar 2007 beschlossenen Mehrwertsteuererhöhung, wenn auf die meisten Non-Food-Produkte drei Prozentpunkte Steuern aufgeschlagen werden. Daher werde der überwiegende Teil der Hersteller und des Handels die Preiserhöhungen auch vorsichtshalber nicht komplett an die Verbraucher weitergeben, prognostiziert Hermann Diller, Professor für Marketing an der Universität Erlangen Nürnberg. „Die Erfahrung der Euro-Einführung, als selbst vereinzelte Preiserhöhungen von den Konsumenten mit Ablehnung quittiert wurden, sitzt einfach zu tief. Lieber werden sich Hersteller und Handel die Verluste teilen; manche werden versuchen, sie mit höheren Preisen bei Produkten wieder hereinzuholen, die nicht so sehr im Verbraucherfokus stehen.“

Dabei kann ein hoher Preis sogar positiv wirken, zum Beispiel bei Produkten wie Kosmetika, deren Qualität Konsumenten unmöglich objektiv einschätzen können. „Bei solchen Warengruppen“, sagt Diller, „gilt Verbrauchern ein hoher Preis geradezu als Ausweis von Qualität. Nach dem Motto: ,Das ist teuer, das muss gut sein.‘ Dabei belegt eigentlich jedes Magazin der Stiftung Warentest das Gegenteil.“

Umgekehrt bleiben manche Produkte im Regal liegen, weil sie zu billig sind. Krups beispielsweise bot vor einigen Jahren einen Rasierer für sensationelle 25 Mark an – ein tolles Angebot und daher ein großer Verkaufserfolg, sollte man meinen. Genau das Gegenteil war jedoch der Fall. Damals wurde der Markt von Braun-Rasierern für rund 75 Mark dominiert. Den eklatanten Preisunterschied bewerteten die Verbraucher nicht als Schnäppchen: Sie zogen den Schluss, dass mit dem Krups-Rasierer ja wohl irgendetwas nicht stimmen könne. Erst als der Hersteller den Preis verdoppelte, zogen die Verkäufe an.

Der Konsument entscheidet willkürlich

Dieses Phänomen vollzogen Forscher des Bostoner MIT in einem Experiment nach, in dem sie BWL-Studenten eine Flasche Wein zum Kauf anboten. Der Preis, den die Wissenschaftler dafür verlangten, war nach einem völlig willkürlichen Faktor festgelegt worden: aus den Endziffern der Sozialversicherungsnummer jedes Kommilitonen. Endete die Nummer beispielsweise mit den Ziffern 3 und 4, betrug der Preis 34 Dollar, endete sie mit 9 und 3, forderten die Forscher für den Wein 93 Dollar. Welchen Preis sie tatsächlich zu zahlen bereit seien? Die Resultate waren verblüffend: Studenten mit einer hohen Sozialversicherungsnummer hätten deutlich mehr bezahlt. Sie bewerteten den Wein – einen 1998er Côte du Rhône Jaboulet Parallel 45 – im Schnitt mit 19,95 Dollar, während die Kommilitonen mit einer niedrigen Nummer für dieselbe Flasche lediglich 11,62 Dollar ausgeben wollten.

George Loewenstein, Mitinitiator der Studie, brachten die Ergebnisse ins Grübeln. „Wirtschaftswissenschaft beruht auf der Annahme, dass die individuellen Wahlhandlungen die wahren Präferenzen reflektieren, dass also die Entscheidung für A und gegen B bedeutet, dass das Individuum mit A besser fährt als mit B“, konstatierte der Professor für Volkswirtschaftslehre und Psychologie. „Wenn jedoch die Entscheidungen der Konsumenten zu einem Großteil willkürlich getroffen werden, dann wird die Behauptung der Ökonomen, dass freie Märkte die Wohlfahrt maximieren, stark relativiert.“

Loewenstein beschreibt das Verhalten der Versuchsteilnehmer seither mit der Episode aus Mark Twains „Tom Sawyer“, in der Tom den Zaun seiner Tante streichen soll. Weil Tom die Schadenfreude seiner Freunde fürchtet, tut er einfach so, als würde ihm die Arbeit Vergnügen bereiten und als wollte er um keinen Preis darauf verzichten. Toms Freunde fallen auf die Finte herein: Nicht nur, dass sie um den Platz am Zaun betteln, die Arbeit macht ihnen auch noch Spaß. Tom hatte, wie Mark Twain schrieb, „ohne dies beabsichtigt zu haben, ein bedeutendes Gesetz des menschlichen Verhaltens entdeckt: Um einem Mann oder einem Jungen eine Sache begehrenswert erscheinen zu lassen, muss man sie nur schwer erreichbar machen.“

Preis und Wert entkoppeln sich

Das war 1876. Heute ist Toms Trick die Geschäftsgrundlage der Luxusindustrie. Die Preise ihrer Produkte haben kaum etwas mit dem Material-, Herstellungs- oder Nutzwert zu tun. Der Kunde bezahlt, ohne mit der Wimper zu zucken, weil er mit dem Gegenstand auch ein Stück exklusiver Identität erwirbt – er hat das Gefühl, „one of a kind“ zu sein, wie der italienische Edelschneider Brioni für seine Anzüge wirbt.

Wenn die Luxusartikel Teil der Identität werden, schmerzt die finanzielle Einbuße auch kaum, denn letztlich investiert der Käufer in sich selbst. Je mehr er ausgibt, desto mehr ist er sich wert. Auf diese Weise entkoppeln sich Produktpreise gänzlich von den Herstellungskosten, was zählt, ist allein der „Value to Costumer“, also der Wert, den ein Produkt in den Augen seiner Käufer genießt. Eine hohe Investition kann sich da sogar ganz objektiv auszahlen. Die richtige Uhr am Handgelenk, das richtige Auto, der richtige Anzug oder eine Adresse im richtigen Viertel können entscheidend sein, um einen gut bezahlten Job oder einen attraktiven Partner zu erobern.

Die Gefahr: Aus „billig“ wird „gut“

Produkte, die es nicht in den Himmel der Luxusmarken schaffen, müssen sich dagegen in den Niederungen des Preiskampfs bewähren. Und der wird seit einigen Jahren mit nie gekannter Härte und Ausdauer ausgefochten. Der Trendforscher David Bosshart, Chef des Zürcher Gottlieb-Duttweiler-Instituts, hat unsere Zeit deshalb „The Age of Cheap“ getauft. Zunächst einmal wirke diese Ära wie eine Erlösung, meint Bosshart, schließlich ermögliche sie mehr Menschen als je zuvor Zugang zu einer nie da gewesenen Vielfalt von Produkten und Dienstleistungen. „Consumer Democracy macht die Menschen erst wirklich gleich, unabhängig von Klasse und Rasse“, sagt Bosshart. „Das bringt das Gefühl: Eigentlich ist alles da. Wir leben in der besten aller Welten. Wir brauchen es nur abzuholen.“

Wenn aber alles verfügbar ist, fällt die Entscheidung für das Richtige schwer. Das Sortiment eines durchschnittlichen deutschen Supermarkts umfasst heute mehr als 10.000 Produkte, in den USA sind es im Schnitt sogar 40000. Obwohl 150 genügen, um den größten Teil des täglichen Bedarfs zu decken. In dieser Unübersichtlichkeit ist der günstigste Preis das einfachste und zuverlässigste Entscheidungskriterium – und oft genug das einzige. „Billig“ entwickelt sich so zum Synonym für „gut“. Im Urlaub, beim Einkauf, im Alltag, überall. Recht ist im Zweifel immer das, was billig ist.

Diese Regel haben Produzenten und Händler dem Konsumenten in den vergangenen Jahren über Rabattaktionen und Aktionswochen derart eingebläut, dass sie nur noch schwer zu durchbrechen ist. Jenseits der Luxuswelten können Produzenten im Age of Cheap nur noch höhere Preise durchsetzen, indem sie innovative Produkte kreieren – für die sich im Verbraucherbewusstsein noch kein Vergleichspreis etabliert hat. Oder indem sie ihre bereits eingeführten Produkte so verändern, dass der Kunde darin einen Mehrwert erkennt.

Die Preisspirale dreht sich weiter

Innovationen, die neue Nischen besetzen und Brückenköpfe in bislang unerschlossene Preisregionen schlagen, sind allerdings ziemlich kostspielig. Allein Procter & Gamble, Heimat von Marken wie Ariel, Pampers oder Gillette, investiert Jahr für Jahr 1,6 Milliarden Euro in die Entwicklung neuer Produkte oder auch Gimmicks, die bei den Menschen neue Wünsche wecken oder alte, unerfüllte stillen sollen. Und weil jede Innovation von den Handelsmarken im Handumdrehen nachgeahmt und zu einem günstigeren Preis angeboten wird, sind Innovationen oft ein Wettbewerbs- und Preisvorteil von nur kurzer Dauer.

Für die meisten heißen die Alternativen deshalb Rabatt, Promotion und Discount, doch auch die Marketinginstrumente nutzen sich zusehends ab. Aktionspreise gehören längst zum Alltag, die Kunden sind schnäppchenverwöhnt und abgeklärt. Noch in den fünfziger Jahren gaben die Deutschen fast die Hälfte ihrer Einkommen für Essen und Trinken aus, in den siebziger Jahren waren es noch 30 Prozent. Inzwischen ist die Zahl auf unter 14 Prozent gesunken. Doch weil die Deutschen gelernt haben, dass es immer noch ein bisschen billiger geht, erwarten sie, dass auch künftig alles noch ein wenig günstiger wird, überall und gerade in diesem Segment.

Obwohl jedem halbwegs aufmerksamen Konsumenten klar ist, dass im Lebensmittelbereich Billigpreise nur zulasten der Güte zustande kommen können, ist das Schnäppchen auch bei der Nahrung oberstes Ziel. Eine frei herumlaufende Legehenne verursacht nun mal höhere Kosten als das Huhn in einer Käfigbatterie, das unter industriellen Bedingungen Eier am Fließband produziert. Natürlich weiß der Kunde, dass ein Öko-Ei gesünder ist und besser schmeckt – die meisten greifen dennoch zum billigeren Zehnerpack. Und blenden die Tatsache aus, dass sie damit Tieren, Umwelt, Preisen, Werten und letztlich natürlich vor allem sich selbst schaden. So tickt der Mensch. Wie war das doch noch gleich mit der kognitiven Dissonanz?

Literatur

Robert Frank: Luxury Fever. Princeton University Press, 2000; 326 Seiten, 26,95 Dollar

Werner Kroeber-Riehl: Konsumenten- verhalten. 8. Aktualisierte Auflage, Vahlen, 2003; 825 Seiten, 45 Euro

David Bosshart: Billig – Wie die Lust am Discount Wirtschaft und Gesellschaft verändert. Redline, Landsberg, 2004; 185 Seiten, 15,90 Euro

Harald Willenbrock: Das Dagobert- Dilemma. Heyne, München, 2006; 280 Seiten, 18,95 Euro


Dieser Text stammt aus unserer Redaktion Corporate Publishing.