Fabrik im Koffer

Künftig steht in jedem Haushalt eine kleine Fabrik – wenn sich die Vision des MIT-Forschers Neil Gershenfeld durchsetzt. Im Labor funktioniert die Privatproduktion bereits. Werden wir von Verbrauchern wieder zu Selbstversorgern?




Die Zukunft der Fertigung liegt im Tiefparterre. Der Mann, der weiß, wie sie aussehen wird, hält dort gerade ein Seminar darüber, wie beinahe alles funktionieren soll, Titel: How to Make Almost Anything. Glück hat, wer am Tisch von Neil Gershenfeld sitzen darf, und so hacken die paar Studenten emsig in ihre Laptops, was der Professor ihnen erzählt.

Neil Gershenfeld schwebt Grandioses vor. Er ist Gründer und Leiter des Center for Bits and Atoms am Massachusetts Institute of Technology in Cambridge, USA, und will der Welt einen „Personal Fabricator“ schenken – ein Universalgerät, das ähnlich einem PC die Kreation, Veränderung und Vervielfältigung von Gütern mit eingebauter digitaler Intelligenz erlaubt. „So wie heute ein PC einen Drucker hat, der Dateien ausspuckt, wird es in nicht allzu ferner Zukunft einen Personal Fabricator geben, der alle möglichen Gegenstände herstellen kann“, sagt Gershenfeld.

Er sitzt am Konferenztisch seines Instituts, einer Mischung aus Kommandozentrale und Marktplatz einer futuristischen Kommune, und redet wie ein Wasserfall über die Zukunft der Fertigung, in der analoge und digitale Prozesse ans Ende der Wertschöpfungskette rutschen. Zu jedem zweiten Satz projiziert er aus dem Computer eine passende Illustration als kurzen Videoclip auf die Wand hinter sich. Der PC, sagt er, hat die Herstellungsprozesse der gesamten Industrie auf den Kopf gestellt. Der Personal Fabricator werde Ähnliches bewirken.

Die Produktionswelt hat ein enormes Tempo angenommen. Man muss nur das jüngste Beispiel anschauen, den Vorstoß von Apple Computer in den Musikvertrieb. US-Kunden kauften in den ersten 16 Tagen des neuen Online-Musikladens iTunes rund zwei Millionen Lieder zu 99 Cent das Stück. Mit jedem Klick unterlaufen sie die über Jahrzehnte aufgebaute Wertschöpfungskette. Wer ein Album aus dem Netz lädt, erledigt allein und im eigenen Haus, wofür bislang Fabriken und Lkw notwendig waren: Beschaffung von Rohlingen und Plastiketuis, Brennen der Lieder auf eine CD, Gestaltung und Druck der Einschübe – der moderne Kunde ist selbstständig und kommt ohne den traditionellen Musikvertrieb aus.

„Noch viel größer als der so genannte digitale Graben zwischen Menschen mit und ohne Zugang zu Informationstechnologie ist die Kluft zwischen den Menschen, die Zugang zu modernen Herstellungsmethoden haben, und dem Rest der Welt. Bits sind nutzlos, wenn sie nicht den Weg zu den Menschen finden“, sagt Gershenfeld. Um diese Kluft zu überwinden, hat er im MIT Media Lab ein Zentrum für Bits und Atome eingerichtet, in dem Werkzeuge wie Fräsen, Drehbänke und Schneidemaschinen ebenso viel Aufmerksamkeit genießen wie Scanner und drahtlose Netze.

Wie man lernt, was alles möglich ist

Für knapp 10.000 Dollar hat seine Arbeitsgruppe aus 20 Dozenten und rund 40 Studenten bereits Startbausätze entwickelt, jeder für sich eine Art Universalmaschine, mit der sich eine ganze Reihe von Bauteilen und Gegenständen herstellen lassen: ein PC, eine Präzisionsbohrmaschine und ein Plotter, der Formen schneidet, statt sie nur auf Papier zu drucken. Mit diesen Minifabriken aus dem Koffer hat Gershenfeld gemeinsam mit Sponsorfirmen Fablabs (kurz für Herstellungslabors) in Cambridge, Norwegen, Costa Rica und Indien eingerichtet.

Mit etwas Training können die Nutzer eigene Technologien entwerfen und herstellen, fernab von Werken, Großhändlern oder dem nächsten Kurierdienst. Blaupausen oder Steuerprogramme schreiben die Anwender selbst oder holen sie aus dem Internet. Man spannt Kupferblech oder Plastik in einen Schneider – und heraus kommen Bauteile für kleine Motoren, Sensoren oder Schaltkreise.

Die ersten Feldversuche brachten erstaunliche Ergebnisse: Ein Fablab stellt Schaltkreise her, um den Zündzeitpunkt in Dieselmotoren zu überwachen. In einem anderen Projekt scannten Textilarbeiterinnen in einem Dorf alte Druckstöcke, die Stickmuster auf Stoffe übertragen. Die Universalmaschine stellte von den alten Mustern neue Blöcke her. In Norwegen fertigen Rentierhirten Funk-Chips für ihre Herden, um deren Standort jederzeit bestimmen zu können.

„Die größte Barriere für den Fortschritt besteht darin, dass Menschen nicht wissen, was alles möglich ist“, sagt Gershenfeld. Die zehn bis zwölf Studenten, die er jedes Jahr aus mehr als 100 Bewerbern für sein Seminar auswählt, sollen deshalb lernen, das scheinbar Unmögliche anzugehen.

Um eine Vorstellung zu bekommen, wie vielseitig individuelle Fertigung sein kann, müssen sie sich möglichst absurde Produkte ausdenken und sie dann entwickeln. Sinn der Übung ist die Loslösung von Bekanntem, Fertigem, auch vom Sortiment industriell hergestellter Waren. Die Idee dahinter: So wie man sich mittlerweile daran gewöhnt hat, Texte oder Fotos mit Hilfe des Computers beliebig zu verändern, zu vervielfältigen und zu versenden, wird es in Zukunft Verbrauchern möglich sein, Produkte nach eigenen Wünschen und selbstständig herzustellen.

Dieses „Just-in-time-Manufacturing“ – heute noch eine Kombination aus Rechner und Produktionsmaschine – ist ein erster Schritt auf dem Weg zur Zukunftsvision von Nano-Assemblern. Das sind sich selbst organisierende Maschinen in mikroskopischer Größe, die Gegenstände zusammensetzen, ein Kohlenstoff-Atom nach dem anderen. Unter Laborbedingungen wurden erste Erfolge erzielt, und der US-Kongress hat im März mehr als zwei Milliarden Dollar zur Finanzierung für die nächsten drei Jahre bewilligt.

Horrorvision: Wenn intelligente Maschinen gefährlich werden

Wenn diese ultimative Art der individuellen Fertigung Wirklichkeit werden sollte, kann ein unscheinbarer Kasten aus den in der Natur vorkommenden Kohlenstoff-Atomen Maschinen, Ersatzteile und – Albtraum der Kritiker – wieder neue Assembler bauen. Eric Drexler, Chefentwickler am 1991 gegründeten Institute for Molecular Manufacturing, beschrieb diese Vision in seinem Klassiker „Engines of Creation“ schon im Jahr 1986.

Was passieren kann, wenn persönliche Nano-Fertigung aus dem Ruder läuft und mikroskopische Maschinen die Erde überschwemmen, haben der Schriftsteller Michael Crichton in seinem Roman „Beute“ und Bill Joy, der CEO und Cheftechnologe von Sun Microsystems, in seinem Aufsatz „Why the Future Doesn’t Need Us“ für Wired ausgemalt. Crichton lässt Schwärme von sich selbst reproduzierenden Nano-Maschinen aus einem militärischen Labor entweichen; Joy befürchtet, die mächtigsten Technologien des 21. Jahrhunderts – Gentechnik, Nanotechnologie und Robotik – werden den Menschen zu einer gefährdeten Art machen.

„Der Sprung selbst von den Fablabs zu Nano-Maschinen ist gewaltig“, gibt Gershenfeld zu. Für ihn haben die mit heutiger Technik machbaren Personal Fabricators allerdings vor allem praktische Auswirkungen. Da sind einmal die Konsumenten in Industrienationen. „Für jemanden wie mich in einem Land wie diesem hat es wenig Sinn, alles Mögliche selbst herstellen zu wollen. Die Industrie befriedigt die meisten meiner Bedürfnisse. Persönliche Fertigung ist mehr ein Ausdruck persönlicher Kreativität.“ Aber auch das Symbol einer neuen Zeit, meint der 43-jährige Physiker und navigiert zu einem Bild seiner Zwillinge Grace and Eli. „Sie wachsen dank dieses Labors bereits anders auf. Wenn andere Kinder sagen: ,Ich möchte ein Spielzeug dieser oder jener Marke!‘, sagen meine Kinder: ,Wir wollen am Wochenende ins Labor gehen und ein neues Spielzeug bauen‘.“ Die beiden Sechsjährigen lassen sich vom Vater am Computer Puppenmöbel entwerfen, die eine Schneidemaschine danach aus Plexiglas anfertigt.

Die Option, eigene Produktideen umzusetzen, wird vertraute Lieferketten aufbrechen. Vom Puppenbett in Cambridge ist es nur ein kleiner Schritt zu der Idee, dass Firmen nicht mehr Produkte verkaufen – sondern Programme und Komponenten, die der Kunde selbst nach Belieben in Endprodukte umwandeln kann. „Unternehmen geben bisher noch eine Menge Geld für Produktentwicklung aus, dabei kann dieser Prozess durchaus an anderen Stationen der Wertschöpfungskette stattfinden. Die modernsten Fertigungsprozesse besinnen sich heute wieder auf traditionelles Handwerk, bei dem flexible Arbeitsgruppen rasch auf veränderte Bedürfnisse reagieren“, sagt Gershenfeld.

Wirtschaftlich selbstständig durch Werkzeug aus dem Internet

Mehr als bei den verwöhnten Verbrauchern der Alten Welt sieht der Forscher das wirkliche Potenzial für seine Fablabs in Entwicklungsländern, „bei den restlichen fünf Milliarden Menschen auf diesem Planeten“. Wer mit einer Ausrüstung für ein paar tausend oder später ein paar hundert Dollar seine eigenen Komponenten und Ersatzteile bauen kann, ist nicht mehr auf Lagerzentren oder Großstädte angewiesen. Gershenfelds Vision der postindustriellen Gesellschaft: „Persönliche Fertigung kann einige Exzesse der Verstädterung neutralisieren. Menschen fernab von Metropolen werden in der Lage sein, wirtschaftlich selbstständig zu leben. Orte außerhalb der herkömmlichen Lieferkette werden wirtschaftlich überlebensfähig.“

Damit wäre der historische Prozess der Fertigung, um eine digitale Komponente angereichert, wieder an seinem Ursprung angelangt. Was in antiken griechischen Texten als Oikonomia beschrieben ist, war eine nachhaltige Haus-Wirtschaft. Erzeugung, Verarbeitung und Konsum zielten vor allem auf die Befriedigung des familiären Bedarfs. Der Begriff entfernte sich über Arbeitsteilung, Manufakturen und schließlich Industrialisierung immer weiter von Kunden und Verbrauchern. Und nun sollen digitale Werkzeuge im Gefolge des Internets massenhaft individualisierbare Produkte möglich machen. Zukunftsmusik? Dass der Online-Händler Amazon sich an Lesevorlieben eines Kunden erinnert, ist nichts anderes als die virtuelle Variante vom Buchhändler, der seine Stammkunden kennt und sie auf interessante Neuerscheinungen hinweist.

Wer einen universellen Fabrikator zu Hause hat – ob in Indiens Bergregion, Brasiliens Regenwald oder Islands Einöde –, eröffnet sich eine neue Dimension der Autarkie. „Unser nächstes Ziel ist es, das Ganze im größeren Rahmen aufzuziehen. Für die persönliche Fertigung in Entwicklungsländern brauchen wir die Unterstützung der Weltbank oder einer Selbsthilfe-Organisation wie der Grahmin Bank in Bangladesch“, sagt Gershenfeld. Er will ein weiteres Fablab in Washington einrichten, um Politikern, Militärs und Hilfsorganisationen das Projekt anschaulich vorführen zu können. „Das ist so, als ob man Saatgut in Entwicklungsländer liefert statt Getreide. Hilfe zur Selbsthilfe, bei der am Ende sich selbst vervielfältigende Personal Fabricators herauskommen sollen.“

Die Hardware, hofft der MIT-Forscher, soll dabei ebenso frei kopierbar sein wie Open-Source-Software. Der offene Zugang sorgt dafür, dass sich die Technik fortpflanzt und jeder Nutzer Verbesserungen daran vornehmen kann – solange er die Baupläne mit allen anderen Nutzern weltweit teilt.

Was bedeutet diese schöne neue Welt der Mikro-Fertigung für mittelständische Firmen und multinationale Unternehmen? „Die Machtbalance wird sich ans Ende der Wertschöpfungskette verschieben“, sagt Gershenfeld. „In Zukunft wird eine der Kernkompetenzen der Industrie darin bestehen, Dinge herzustellen, die sich auf dem Land kaum fertigen lassen.“ In der neuen Welt sei nicht mehr die Größe eines Unternehmens entscheidend, glaubt er, sondern die Komplexität seiner Produkte. Magneten, Kugellager, Microchips oder spezialisierte Druckerkartuschen hält er für Produkte, die Teile der klassischen Wertschöpfungskette überflüssig machen werden. „Da sehe ich gute Chancen für kleine Unternehmen, die ihre Komponenten direkt an Abnehmer liefern statt an Unternehmen, die solche Einzelteile zusammenschrauben.“

Fünf Jahre, schätzt Gershenfeld, wird es noch dauern, bis seine Vision von funktionsfähigen Fablabs Realität ist. „Wir befinden uns bei dieser Technik auf einem ganz ähnlichen Stand wie Microcomputer in den achtziger Jahren: Die hatten Mainframes ersetzt, wurden aber ihrerseits von PCs abgelöst. Die Dimensionen sind vergleichbar: Eine Arbeitsgruppe erledigt Prozesse, die früher eine komplette Fabrik beschäftigt haben.“ Gershenfelds nächstes Seminar geht noch einen Schritt weiter: „Wie man etwas herstellt, das fast alles herstellt.“ Die Zukunft ist nah und wird sich, glaubt Gershenfeld, in einem wesentlichen Punkt von der PC-Epoche unterscheiden: „Es wird keine Industriebarone mehr geben, die diese neue produktive Revolution beherrschen.“

Links:

Center for Bits and Atoms:
http://cba.mit.edu

„Engines of Creation“ online:
www.foresight.org/EOC/

Literatur:

Bill Joy: Why the Future Doesn’t Need Us. http://www.wired.com/wired/archive/8.04/joy.html;


Dieser Text stammt aus unserer Redaktion Corporate Publishing.