Dein ist mein ganzes Herz

Ohne tüchtige Lieferanten hat Autobau noch nie funktioniert. Die Endmontage aber war für Fremdfirmen bislang tabu. Doch nun ziehen sie – wie bei Ford in Köln – immer häufiger auch ans heilige Band. Und betreiben das einstige Geschäft der Hersteller auf eigene Rechnung. Pay on Production heißt das Betreibermodell, das die herkömmlichen Produktionsprozesse auf den Kopf stellt – und den Druck auf die Zulieferer erhöht.




Alle 70 Sekunden tragen Stahlarme eine frisch lackierte Karosserie in die Halle Y. Am Fließband verschrauben Arbeiter Chassis, Achsen und alles, was sonst noch nötig ist, um das Metallskelett in einen Ford Fiesta zu verwandeln. Die einzelnen Teile kommen per Elektrohängebahn durch einen Tunnel aus der Nachbarschaft, wo Zulieferer die Elemente vormontieren. Türen und Instrumententafeln sinken genau dann zur Einbaustelle herab, wenn die Karosserie eintrifft, für die sie bestimmt sind. „Just in time, just in sequence“, sagt Karl Anton, der die Endmontage in den Kölner Ford-Werken leitet. „Hier kommt kein Teil zu viel an und keins zu wenig.“

Der exakte Takt ist selbstverständlich. Ungewöhnlich im modernen Fahrzeugbau ist, dass Ford sein Herz – das Produktionsband – an einen Dienstleister abgetreten hat. Tafeln mit rotem Namenszug markieren dessen Territorium: Eisenmann. Der Anlagenbauer aus Böblingen hat das etwa 80 Millionen Euro teure Band finanziert und gebaut. Außerdem kümmert er sich seit Betriebsstart im November 2001 um Wartung und Instandhaltung. Ford hat sich nicht mal an der Vorfinanzierung beteiligt, obwohl die Anlage auf dem eigenen Werksgelände steht. Der Autohersteller bezahlt Eisenmann für jedes Fahrzeug, das die Fabrik verlässt. Das Partnerschaftsmodell nennt sich Pay on Production.

Partnerschaft? Auf den ersten Blick hat das Modell vor allem Vorteile für den Auftraggeber. Er überträgt einen Großteil seines Risikos auf den Lieferanten und bindet weniger Kapital im Anlagevermögen. Außerdem spart er Personalkosten. So werden Mittel frei für das Kerngeschäft: die Entwicklung und Vermarktung neuer Modelle.

Der Zulieferer muss beachtliche Nachteile in Kauf nehmen. Er trägt ein hohes Risiko und macht sich dabei von Faktoren abhängig, auf die er keinen Einfluss hat: Verkauft der Auftraggeber weniger Einheiten als geplant, hat auch der Zulieferer ein Problem. Umsatzeinbußen werden anteilig an ihn weitergereicht. Ein Produktionsausfall kann seine Existenz bedrohen.

Doch das ist heute der Preis, den der Zulieferer für einen lukrativen Auftrag zahlen muss. Wer im Geschäft bleiben will, kommt an den neuen Produktionsmodellen kaum vorbei – und kann neben den Risiken auch Vorteile finden.

Weil der Zulieferer seine Anlage nicht an den Kunden übergibt, sondern selbst betreibt, erfährt er ständiges Feedback von den Mitarbeitern am Band und kann so Produktqualität, Bedienerfreundlichkeit und Produktivität seiner Anlage kontinuierlich verbessern. Das neue Know-how bringt Wettbewerbsvorteile beim Kampf um neue Kunden. Im Idealfall sorgt das Zusammenspiel von Auftraggeber und Lieferant für einen Prozess der ständigen Erneuerung – und löst damit herkömmliche, periodische Investitionen ab.

Allerdings, das Problem bleibt: Der Zulieferer muss die Produktionsanlagen aus eigener Tasche finanzieren, und das dürfte für die meisten finanziell arg bedrängten Lieferanten die größte Hürde auf dem Weg zur Partnerschaft sein. „Die Supplier müssen sich neu orientieren“, sagt Hans Schardt, Produktionsdirektor von Ford Europa. „Sie erhalten komplexere Aufträge.“ Nur, wie sollen sie die finanzieren?

Kleineren Unternehmen fehlen die Mittel für die Einstandsinvestition. Oder die Reserven, um die Zeit zu überbrücken, bis sich die Investitionen in neue Anlagen über die verkauften Stückzahlen refinanziert haben. Die Banken zeigen wenig Neigung, sich auf neue Großprojekte zu einzulassen. Und sind erst die strengen Kreditvergaberichtlinien von Basel II in Kraft, wird sich das Problem noch verschärfen.

Brutale Auslese: Nur ein Zehntel überlebt

„Noch sind die deutschen Automobilzulieferer die innovativsten der Welt“, sagte Peter Fuß, Partner der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Ernst & Young Mitte Mai in der Welt. Doch die Führungsrolle könnten sie einbüßen, wenn das Finanzierungsproblem nicht gelöst werde. „Es kann nicht im Interesse der Automobilhersteller sein, die Zulieferer im Bermuda-Dreieck der Finanzierung verschwinden zu lassen.“

Im Moment deutet manches darauf hin. Die Branche ist im Umbruch. Experten prognostizieren eine Konsolidierungswelle, die Betroffenen hoffen auf bessere Zeiten oder auf die rettende Fusion mit einem Wettbewerber. Wo das endet? Ford-Produktionsdirektor Hans Schardt beziffert die Zukunft der Zulieferer: „Von den 30.000 unabhängigen Unternehmen, die es 1990 gab, werden im Jahr 2010 etwa 3000 bis 3500 übrig sein.“

Es werde zurzeit viel gerechnet, sagen Wissenschaftler, die das Pay-on-Production-Modell auf seine Brauchbarkeit in der Praxis überprüfen – nicht nur in der Produktion, sondern auch in der Entwicklung. Sogar Leitfäden zu Betreibermodellen und neuen Produktionskonzepten sind schon geschrieben, aber das Hauptproblem ist ungelöst: Die Abnehmer haben oft Vorstellungen, die für den Zulieferer schwer zu verkraften sind. Die Risiken überwiegen, deshalb sind erst wenige Anlagen nach dem neuen Prinzip gebaut. Dabei scheint das Modell sinnvoll. Bei klar definierten Leistungsumfängen, meinen Experten, könne es für beide Seiten wirtschaftlich sein. Die faire Teilung von Gewinn und Risiko wird am Ende über den Erfolg entscheiden.

Auch Eisenmann hat die Vor- und Nachteile sorgsam abgewogen – und in der Finanzierung die entscheidende Hürde auf dem Weg zum Auftrag erkannt. Die komplexe Transporttechnik beim Umbau der Endmontage des Ford Fiesta und der Anbindung des Zuliefererparks sei nichts dagegen gewesen, erinnert sich Thomas Dehm, Leiter des Geschäftsbereichs Fördertechnik Automobil. „Das größte Problem war, eine passende Bank zu finden. Den Vertriebsleuten der Kreditinstitute fehlt oft die technische Kompetenz. Sie reagieren zurückhaltend. Viele Gespräche, die wir zusammen mit Vertretern der Ford-Werke bei den Banken führten, sind deshalb gescheitert.“

Die Finanzierung gelang am Ende durch eine Mischung aus Eigenkapital und Krediten – und kam wohl auch deshalb zu Stande, weil der Systemlieferant überzeugende Referenzen vorweisen konnte. Schon Mitte der neunziger Jahre hatte Eisenmann den Betrieb einer Anlage auf Herstellerterrain übernommen – eine Lackiererei für Seat. Die Reaktion auf eine akute Zwangslage des Kunden: Der spanische Autohersteller war in finanzielle Bedrängnis geraten. Und seine Not machte Eisenmann erfinderisch.

Seitdem haben die Schwaben das Partnerschaftsmodell mit dem Kunden weiterentwickelt und sich so vom reinen Anlagenbauer zum Dienstleister gewandelt. Inzwischen betreibt das Unternehmen auch in Frankreich, Brasilien und in den USA Lackieranlagen für Smart, Volkswagen und Caterpillar. Ihre Erfahrung mit dem Pay-on- Production-Modus stellen die Manager in Vorträgen als „Win-win-Situation für alle Beteiligten“ dar.

Not macht erfinderisch: Partner gesucht

Für Ford unterhält Eisenmann inzwischen neben der Kölner Endmontage auch ein Fördersystem im belgischen Genk, das einen Zuliefererpark mit der Endmontage des Ford Mondeo verknüpft. Thomas Dehm mag keine Zahlen nennen, erklärt aber, dass sich das Modell für seine Firma rentiert. Folgeaufträge seien bereits abgeschlossen. „Wenn wir draufzahlen müssten, würden wir das ja nicht machen.“

Dass Eisenmann weder einen Festpreis noch eine Volumengarantie erhalten hat und Ford den Betreibervertrag täglich mit einer Frist von zwölf Monaten kündigen kann, erzählt Thomas Dehm nicht. So wenig wie die Vertragspartner bei Ford über die Zwänge reden, die zur nutzbringenden Partnerschaft führten.

Ford musste nämlich mit einem Minus im dreistelligen Millionen-Euro-Bereich klarkommen und geriet – wie die anderen Autohersteller – zunehmend unter Druck. Die Ansprüche der Kunden steigen. Wer ein Auto kauft, verlangt heute Individualität, nicht das Einheitsmodell. Nur mehr kosten, bitte schön, darf das nicht.

Also muss der Hersteller die Produktivität steigern, die Kosten senken und sich zugleich den gestiegenen Ansprüchen der Kundschaft stellen. Das Umschwenken auf Pay on Production war deshalb Teil einer radikalen Umwälzung, die Ford nachhaltig schlanker und schneller machen sollte: sinkende Reaktionszeiten und Lagerbestände, höhere Modell- und Volumenflexibilität, mehr Liquidität für Investitionen.

Der Übergang von der Massenproduktion zur bedarfsorientierten Fertigung erforderte neben der Renovierung und Ausdifferenzierung der Produktpalette – Ford lancierte bis zum Herbst 2002 bereits mehr als die Hälfte der im Rahmen seiner Modelloffensive bis 2005 geplanten 45 neuen Modelle – auch die unmittelbare Einbindung der Zulieferer in die Produktion. „Wenn man unter dem Gesichtspunkt einer schlanken Organisation möglichst viele Modelle herstellen will, ist man nicht mehr in der Lage, sämtliche Einzelteile an der Linie vorrätig zu haben“, sagt Hans Schardt. „Vielmehr müssen die in der entsprechenden Reihenfolge ans Band geliefert werden. Das geht natürlich nicht, wenn der Zulieferer in Timbuktu sitzt, sondern nur, wenn die Teile aus einem Industriepark angeliefert werden, der in unmittelbarer Nähe der Fabrik liegt.“

Wie in Köln. Dort haben sich mittlerweile zwölf Firmen angesiedelt, die komplexe Fahrzeugkomponenten wie Instrumententafeln und Auspuffanlagen produzieren, unter anderem Benteler Automobiltechnik, Siemens, Faurecia und Rhenus. „Kurze Wege bedeuten für uns einen gewaltigen Kostenvorteil“, sagt Schardt. Und das nicht nur wegen des minimierten Lagerbestandes. Früher kamen die Hauptkabelstränge containerweise aus Fernost. Fehler führten zu dramatischen Verzögerungen der gesamten Produktion. „Wenn der Meister bei uns am Band heute ein Problem mit einem Modul hat, schwingt er sich auf sein Fahrrad, fährt in den Zuliefererpark und beschwert sich persönlich beim Hersteller. Das Problem kann sofort behoben werden.“

Konzentration: Weniger ist besser

Seit Ende 2001 versorgen die Firmen aus dem Industriepark die Herstellung der Modelle Fiesta und Fusion im Fertigungstakt mit unterschiedlich ausgestatteten Modulen. Die Produktionsplanung von Ford meldet den speziellen Bedarf für jedes einzelne Fahrzeug etwa 90 Minuten vor Einbau durch eine elektronische Nachricht.

Die Infrastruktur des Industrieparks wurde von der Münchner Hypo-Fondsbeteiligungen für Sachwerte GmbH finanziert. Die Tochter der HypoVereinsbank investierte 64 Millionen Euro in die rund 50.000 Quadratmeter großen Hallen. 51 Millionen Euro für Maschinen und Anlagen haben die Zulieferer selbst aufgebracht. Auch sie werden für jede Einheit bezahlt, die sie an Ford liefern. „Das ist mittlerweile gängige Praxis, auch bei anderen“, sagt Produktionsdirektor Schardt. „Bei der Installation von Anlagen auf unserem Werksgelände dagegen wird das Pay-on-Production-Modell nur individuell angewendet.“ Neben dem Transportsystem für Endmontage und der Fördertechnik für die Zulieferung haben die Kölner Ford-Werke auch den Betrieb einer Presslinie an eine Fremdfirma abgeben.

Andere Autohersteller gehen bei der Integration von Zulieferern in die Fertigung noch weiter. In der Smart-Fabrik im lothringischen Hambach etwa spiegelt sich der modulare Aufbau des Fahrzeugs komplett in der Produktion. Hier übernehmen die Zulieferer zentrale Aufgaben vom Hersteller, Smart selbst trägt nur noch die Gesamtverantwortung für die Produktion, kümmert sich um Planung, Modulintegration und Endmontage, um das Management des Fabrikparks und um die Qualität. Dadurch erreicht der Hersteller eine Fertigungstiefe von 20 Prozent – acht Prozent bei Smart und zwölf Prozent bei den Systempartnern. Undenkbar für einen Wettbewerber wie Ford. Schardt: „Ein so extremes Modell können Sie vielleicht auf der grünen Wiese umsetzen, wenn Sie eine komplett neue Fabrik in einem strukturschwachen Landstrich bauen. Uns hätten da allein schon die Sozialpartner einen Strich durch die Rechnung gemacht.“

Doch auch Ford hat alle Aufgaben abgegeben, die über die Kernkompetenzen Entwicklung, Herstellung und Vertrieb hinausgehen, und betreibt mit dem Kölner Werk eine der modernsten Autofabriken Europas. Die Halle Y wurde in den fünfziger Jahren gebaut. Was nach der Umstellung der Fiesta-Produktion von ihr übrig blieb, sind allein die roten Backsteinmauern. Die Fertigung der 1610 Fahrzeuge, die täglich vom Band rollen, ist effizienter und flexibler geworden. Wurde das Vorläufermodell noch mit 21 Arbeitsstunden gebaut, braucht der neue Fiesta heute nur noch 16 Stunden, bis er fertig ist. Auch die Qualität besserte sich. „Der Trick ist, den Anteil der Wert schöpfenden Arbeit zu erhöhen“, sagt Hans Schardt. Dazu werden Verschwendung und alle überflüssigen Prozessschritte eliminiert.

Und die Mitarbeiter zum Mitdenken aufgefordert. Wie das praktisch geht, hat Ford bei Toyota abgeschaut. An den einzelnen Stationen der Endmontage stehen „Yamasumi-Boards“, auf denen die Arbeitsabläufe jedes Monteurs sekundengenau mit blauen und rosafarbenen Kärtchen dargestellt werden. Blau steht für Wert schöpfende Arbeiten, Rosa für nicht Wert schöpfende. Jedes Team ist angehalten, den Rosa-Anteil auf den Boards eigenständig zu verkleinern.

Zudem fördert und honoriert Ford das innerbetriebliche Ideenmanagement. Allein im Jahr 2002 machten die Mitarbeiter fast 4500 Verbesserungsvorschläge, deren Umsetzung nach Werksangaben rund 18 Millionen Euro sparen half.

Vielleicht hat sich für den Ideengeber ja auch das neue Betreibermodell ausgezahlt. Für enorme Einsparungen sorgt es sicher – und für ein Umdenken bei Hersteller und Betreiber. Höhere Kosten, neue Technologien und steigende Ansprüche des Kunden werden die Wertschöpfungsarchitektur bei den Beteiligten in neue Formen zwingen. Das kann eine Chance sein. Wo einer ohne den anderen nicht kann, werden sich Partnerschaften neu definieren. Das heutige Pay-on-Production-Modell lässt sich sicher optimieren. Und besser werden kann man immer, das haben die Ford-Werker inzwischen verinnerlicht.

Wenn am Kölner Endmontageband etwas falsch läuft, ziehen sie an der Schnur, die den Produktionsablauf stoppt, und eine Melodie ertönt in der Halle. Die Mitarbeiter haben sie selbst ausgesucht und zum ironischen Motto für ihr Bemühen um Qualität gemacht: „Mission Impossible“.


Dieser Text stammt aus unserer Redaktion Corporate Publishing.