Live aus Bonn

Mit Simulationsprogrammen wie dem derzeit in Bonn erprobten „City Traffic“ versuchen Forscher, den Verkehrsfluss in Großstädten zu optimieren. Doch lässt sich der Verkehrsinfarkt überhaupt noch aufhalten?




Es ist kurz nach zwölf, als die Raupen auf Ulrich Bartlings Monitor ins Krauchen geraten. Unentwegt und unaufhaltsam waren sie den ganzen Vormittag über Striche und Pfeile gekrabbelt, die den Bildschirm des Mathematikers am Fraunhofer Institut für Autonome Intelligente Systeme überzogen wie Nahtlinien ein altes Burda-Schnittmuster. Jetzt aber, kurz vor Mittag, reihen sie sich plötzlich zu regenbogenfarbenen Endlos-Würmern. Schleichtempo. Stop and Go. Raupenstau. „Mittagspause“, erklärt Ulrich Bartling und lässt sich in seinen Sessel zurücksacken, „in den Ministerien machen sie sich jetzt auf den Weg in die Mittagspause. Da gerät da drüben alles ins Stocken.“

„Da drüben“, das ist die Stadt Bonn, genauer: der Bonner Stadtteil Hardtberg, in dem unter anderem die Ministerien für Verteidigung (Hardthöhe), für Verbraucherschutz und für Gesundheit sitzen. Es ist jene verlassene ehemalige Bundeshauptstadt, über die nach dem Regierungsumzug gelästert wurde, sie sei jetzt „halb so groß wie der Friedhof von Chicago, aber doppelt so tot“. Wahr ist: Rund um das ehemalige Abgeordnetenhochhaus Langer Eugen gingen etwa 8000 Arbeitsplätze verloren. Gleichzeitig aber kamen 14.000 neue hinzu. Deutsche Telekom, Postbank und Deutsche Post bezogen ihre Quartiere im ehemaligen Regierungsviertel, zwölf UNO-Niederlassungen sowie mehr als 200 internationale Einrichtungen und Wissenschaftsinstitutionen siedelten längs des Rheinufers. Und damit hat die Kommune mit rund 310.000 Einwohnern immer noch das, was jede halbwegs ernst zu nehmende Stadt auszeichnet: ein echtes Verkehrsproblem.

„Zu enge Straßen, zu viele Autos, zu wenig Parkplätze“, konstatiert Verwaltungsdirektor Bruno Lossau. Der Leiter der Verwaltungsabteilung im Stadtbauamt residiert in einem hässlichen Siebziger-Jahre-Klotz im Zentrum, dem so genannten Stadthaus. Von seinem Bürofenster im neunten Stock lässt sich hervorragend live beobachten, wie sich an diesem Donnerstagnachmittag Autos, Busse und Radfahrer um den City-Ring quälen. Und an der Peripherie sieht es nicht viel besser aus. Neulich habe mal wieder in der Lokalzeitung gestanden, die Ampelphasen würden die Autofahrer zugunsten von Straßenbahnen und Fußgängern benachteiligen, berichtet Lossau. „Das ist natürlich Quatsch“, schimpft der Verwaltungsmann. Das Schöne ist: Lossau kann seinen Kritikern demnächst beweisen, dass es Quatsch ist. Dafür wird Ulrich Bartling mit seinen Raupen sorgen. Denn am Fraunhofer Institut für Autonome Intelligente Systeme im benachbarten Sankt Augustin ist Bartling kurz davor, eine detailgetreue, exakte Kopie des echten Bonn fertig zu stellen. In den vergangenen Jahren haben Bartling und Kollegen ein gigantisches Verkehrstelematiksystem zusammengeschraubt, mit dem sich Infrastruktur und Verkehrsgeschehen kompletter Großstädte nachbilden lassen. Mit „City Traffic“, so der Name des bundesweit beachteten Modellprojekts, sollen sich Verkehrsströme intelligenter lenken und Staus vermeiden lassen. Die Entwicklungskosten von zehn Millionen Euro haben sich das Bundesministerium für Bildung und Forschung, die Fraunhofer-Gesellschaft und die Stadt Bonn geteilt. Denn Bonn ist das Testgelände von City Traffic und damit die erste deutsche Stadt, von der ein digitaler Klon existiert.

Und dann bevölkerten die Informatiker Bonn mit Raupen

Zu besichtigen ist er im klimatisierten Keller des Instituts, wo 50 nummerierte PCs, sorgfältig in Regalen geordnet und zu einem mächtigen Rechner-Cluster verdrahtet, bedächtig vor sich hin summen. Unter ihren grauen Plastikchassis verbirgt sich das digitale Bonn. Jede größere Straße ist auf ihren Festplatten gespeichert, jede wichtige Ampel verzeichnet, jede Ampelschaltung kopiert, jede Kreuzung nachgebildet, jedes Parkverbotsschild aufgenommen und jedes Parkhaus erfasst. Zwei Jahre benötigte eine Hand voll Geographen, um diesen digitalen Doppelgänger der echten Stadt anzufertigen. Sie zerteilten ihren Grundriss zunächst in 450 Einzelstücke, bis die ehemalige Bundeshauptstadt aus der Vogelperspektive anmutete wie eine Patchworkdecke. Sie pausten Straßenverläufe, Abbiegespuren, Haltelinien und Fußgängerüberwege am Computer von Luftbildern in digitale Pläne ab, die schließlich an klassische Schnittmuster erinnerten. Zählten in aufwändiger Feldforschung höchstpersönlich die 26.000 Parkplätze im Regierungsviertel (eine echte Überraschung für die Stadtverwaltung – dort hatte man immer geglaubt, im Quartier gäbe es maximal 10.000 Parkplätze), kartierten vor Ort die wichtigeren Straßenschilder, korrigierten veraltete Karten und fütterten sämtliche Daten in ihre Computer. Als sie damit fertig waren, kamen Informatiker und Mathematiker wie Bartling und erweckten die Kunst-Metropole zum Leben. Will heißen: Sie bevölkerten sie mit Raupen.

Induktionsschleifen und Schlauchmessgeräte

Jede Raupe steht für ein Auto, einen Bus oder einen Lkw, der gerade durch das echte Bonn da drüben kutschiert. Dass dort Fahrzeuge unterwegs sind, erfährt Bartling durch 2000 Induktionsschleifen, die im Asphalt vor den Ampelkreuzungen schlummern und jedes Mal eine Meldung abgeben, wenn sie überfahren werden. Über Schlauchmessgeräte, die die Abstände zwischen Achsen und Radgruppen messen, kann City Traffic sogar zwischen einem Motorradfahrer, einem Pkw, einem Lkw und einem Bus unterscheiden. Durch das Abhören der Fahrttelegramme weiß das System, wo Busse und Straßenbahnen sich gerade befinden.

Außergewöhnlich ist Bartlings Bonn-Kopie aber durch seine Lernfähigkeit: Jede Meldung aus der wirklichen Welt verrechnet die Software zu genaueren, realitätsnäheren Prognosen. „Wir schaffen hier keine virtuelle Realität“, betont Bartling mit Blick auf die kreuchenden Raupen, „sondern eine künstliche. Das, was Sie hier auf dem Schirm sehen, passiert da draußen tatsächlich. Und wenn wir mal einen Fehler machen – etwa, weil eine Induktionsschleife ausfällt oder weil ein Auto ins Parkhaus und damit aus unserem Modell entschwindet –, merkt es das System sofort. Und korrigiert sich selbst.“ Mit anderen Worten: Bartlings Software arbeitet wie ein Landschaftsmaler, der aus seinem Atelier immer wieder nach draußen flitzt, um zu überprüfen, ob sich sein Motiv verändert hat. So gesehen, ist City Traffic ein Reißbrett mit Realitätsbezug. Und solche Reißbretter sind derzeit mächtig en vogue.

Der Duisburger Verkehrsforscher Professor Michael Schreckenberg, der als Koryphäe unter den deutschen Simulationsforschern gilt, hat ein Prognosemodell für sämtliche Autobahnen des chronisch überfüllten Nordrhein-Westfalens entwickelt, das im vergangenen Herbst online ging. Anders als Stauinformationen im Radio, die – wie der Automobilclub von Deutschland (AvD) herausgefunden hat – zum Zeitpunkt ihrer Ausstrahlung im Schnitt bereits 50 Minuten alt und damit zumeist nicht auf dem neuesten Stand sind, können Autofahrer unter www.autobahn.nrw.de sowohl die aktuelle Lage als auch eine 30-Minuten-Vorschau der Stausituation abrufen. Es ist – wie alle Prognosen – ein Zukunftsbild mit Löchern, Webfehlern und falschen Schlussfolgerungen. Aber es ist immerhin eine Prognose.

In Bartlings Bonn, so viel wissen die Forscher nach mehreren Wochen Testlauf, liegt die Software mit ihren Stauvorhersagen in 90 Prozent der Fälle richtig. An zwei wichtigen Einfallstraßen in Hardtberg haben die City-Traffic-Betreiber Mitte Juli ferngesteuerte Hinweistafeln aufgestellt, auf denen die aktuelle Verkehrssituation sowie Alternativrouten piktogrammartig dargestellt werden. Sind die Straßen grün eingefärbt, bedeutet das „freie Fahrt“. Gelbe Routen sind dicht befahren. Bei roten geht gar nichts mehr.

Ähnliche Tafeln sollen, wenn City Traffic Ende des Jahres für das komplette Stadtgebiet freigeschaltet worden ist, in ganz Bonn folgen. Denkbar wäre, dass sich Pendler eines Tages online oder per SMS informieren können, wie die Verkehrslage auf ihrem Arbeitsweg gerade aussieht und welche Alternativstrecke schneller wäre (ein System, das in Tokio seit längerem praktiziert wird, siehe dazu Seite 112). In der Verkehrsleitzentrale werden dann Bonner Beamte prognostizieren können, welche Auswirkungen ein Unfall auf Straße A auf die Verkehrslage in den Straßen B, C und D am entgegengesetzten Ende der Stadt haben wird, indem sie ihre Modellstadt mitsamt Millionen gespeicherter Erfahrungswerte einfach eine halbe Stunde „vorspulen“. „Die Leitzentrale könnte dann beispielsweise die Grünphasen verlängern, das Tempolimit verändern oder einzelne Fahrspuren schließen“, so Bartling, der mittlerweile mit Kollegen ein Spin-off namens ARTec (für Artificial Reality Technology) gegründet hat. Viele Staus ließen sich auf diese Art auflösen, bevor sie überhaupt entstanden sind.

„Das Wichtigste“, meint Johannes Orlowski, Marketingchef bei ARTec, „ist die Glaubwürdigkeit. Wenn Autofahrer einmal den Eindruck gewonnen haben, unsere Prognosen seien falsch, können wir das Ganze vergessen.“ Deswegen sind die Verkehrsforscher so versessen auf exakte Daten: Auch die intelligenteste Simulation ist nur so gut wie die Parameter, die ihr zugrunde liegen. Stimmt die Vorlage nicht, hängt auch das Abbild schief. Mindestens genauso viel Energie wie fürs Programmieren wenden die professionellen Simulanten deshalb dafür auf, das schwer kalkulierbare Verhalten von Menschen zu ergründen. Sie filmen die Bewegungen von Fußballfans und Konzertbesuchern, um Gesetzmäßigkeiten zu finden. Sie werten Videoaufnahmen von Straßenkreuzungen und Autobahnstaus aus, um aus Vergangenem ein Stückchen Zukunft zu konstruieren. Sie durchforsten psychologische Standardwerke und Untersuchungen wie jene eines eidgenössischen Verkehrsingenieurs, der das Verhalten von Fußgängern in Bezug auf Alter, Geschlecht, Tageszeit, Klima sowie alle erdenklichen Komponenten untersucht hat. Aus dieser Fleißarbeit wissen sie unter anderem, dass sich ein 20-jähriger Deutscher im Durchschnitt mit 1,6 Metern pro Sekunde fortbewegt, ein 80-jähriger hingegen nur 67 Zentimeter schafft. Ihre virtuellen Doppelgänger, die so genannten Software-Agenten, lassen sich zudem mit menschlichen Macken wie Trödelfaktor, einer Unentschlossenheitskonstante oder eingeschränktem Blickfeld (eine typische Folge von Panik) immer vorbildgetreuer modellieren.

Apathische Autofahrer und selbstzerstörerische Prognosen

Pixel für Pixel gleichen die Modellbauer auf diese Weise ihr virtuelles Spiegelbild dem Original an. Das Dumme ist nur: Es bleiben immer Unbekannte, die sich hartnäckig jeder Nachbildung widersetzen. Simulieren können die Modellbauer nämlich nur, was sie berechnen können, und häufig handelt der Mensch eben unberechenbar. Faktoren wie Kreativität, Sympathie oder Antipathie beispielsweise lassen sich einfach nicht kalkulieren. Niemand kann daher voraussagen, ob Bonner Bürger eine Fußgängerüberführung oder einen Tunnel, den City Traffic als theoretisch optimale Verkehrsführung berechnet hat, in Wirklichkeit vielleicht einfach nicht mögen.

Auch weiß niemand, wie Autofahrer auf Routenempfehlungen reagieren. Sicher ist nur: Sie handeln ziemlich irrational. Jene automatischen Hinweistafeln, die seit einiger Zeit den Weg nach Düsseldorf je nach Verkehrsdichte über die eine oder andere Strecke weisen, werden beispielsweise von nur zehn Prozent der Autofahrer beachtet. Immerhin ließen sich in einer Studie, bei der Schreckenberg gemeinsam mit dem Bonner Wirtschafts-Nobelpreisträger Reinhard Selten die allmorgendliche Denkübung des Pendlers nachstellte, drei Typen von Autofahrern heraussieben: Die einen disponierten erstaunlicherweise immer gerade dann um, wenn sie meinten, eine optimale Route gefunden zu haben. Die zweite experimentierfreudige Gruppe wechselte mit schöner Regelmäßigkeit die Route. Eine dritte Gruppe hingegen reagierte auf Routenempfehlungen genauso ignorant wie Raucher auf die Warnungen der Gesundheitsminister auf der Zigarettenschachtel.

So ärgerlich die Apathie der Automobilisten für Verkehrslenker sein mag – auch das beste Stauwarnsystem kann paradoxerweise nur dann zur Verhinderung von Staus beitragen, wenn seine Warnungen von den meisten Autofahrern ignoriert werden. Würde ihnen ein Großteil der Fahrer folgen, wäre auch die Alternativroute sofort verstopft.

Noch schwerer wiegt das Phänomen der sich selbst zerstörenden Prognose: Wenn Autofahrer einem drohenden Stau ausweichen oder später losfahren, entsteht er möglicherweise erst gar nicht. Und das macht vielleicht die Autofahrer glücklich, die Staupropheten aber völlig unglaubwürdig. „Der Autofahrer“, klagt Dirk Helbing, Verkehrsforscher an der TU Dresden, „ist schwerer vorauszuberechnen als das Wetter. Das kann schließlich nicht denken und sich aufgrund der Voraussage noch einmal ändern.“

Alle Routen auf Rot

Ulrich Bartling, der derzeit Städte wie Rom und Istanbul im Mobilitätsmanagement berät, ficht das kaum an. „City Traffic“, sagt er ganz ohne Ironie, „ist ein Gesamtkunstwerk.“ Eines, mit dem sich beispielsweise Baustellen und deren Folgen besser planen lassen. Eines, mit dem Bonns Verwaltungsdirektor Lossau seinen Kritikern live und in Farbe vorführen kann, wie die Bonner Ampelschaltungen in Wirklichkeit funktionieren und dass mit den geforderten Alternativen die Staus noch länger würden. Eines, mit dem Stadtplaner die Alternativen für den renovierungsbedürftigen Bonner Bahnhofsvorplatz durchrechnen können: Man muss nur die 310.000 Klon-Bonner ein paar Tage die verschiedenen, von Architekten entworfenen Neugestaltungsszenarien durchfahren lassen – schon weiß man, welche Option (zumindest theoretisch) den Verkehr am flüssigsten fließen lässt. „Was meinen Sie, was das für Geld spart!“, schwärmt Bartling und erzählt von einer 90.000 Euro teuren Ampelanlage im rheinischen Linz, die nach nur drei Tagen in Betrieb wieder demontiert werden musste, weil die Planer irgendeine Linksabbiegespur nicht berücksichtigt hatten. Doch auch die intelligenteste Verkehrssteuerung gerät irgendwann an ihre Grenzen. Zehn Prozent Kapazitätszuwachs, glauben Verkehrsforscher, ließen sich noch aus den Straßen herausholen, vielleicht zwanzig. Dann ist Schluss. Deutschlands Verkehrsadern leiden an Arterienverkalkung, und weil gleichzeitig immer mehr Blut hineingepumpt wird, kommt es immer häufiger zum Infarkt. So werden sich laut einer Esso-Studie in ein paar Jahren mehr als 48 Millionen Autos auf unseren Straßen drängeln. Allein bis 2015 soll der Personenverkehr im ohnehin verstopften Ruhrgebiet um 20 Prozent, der Güterverkehr sogar noch einmal um 50 Prozent wachsen. Damit bleibt für Mobilitätsmanager wie Bartling immer weniger, was sich noch managen lässt. „Bevor wir alle Routen auf Rot schalten“, meint der 50-Jährige trocken, „können wir sie genauso gut auch ganz abschalten.“

Websites der City-Traffic-Entwickler:

www.city-traffic.de
www.artec-gmbh.biz

Stauvorhersage für die nordrhein-westfälischen Autobahnen:

www.autobahn.nrw.de

Ein intelligentes Transportsystem soll den Verkehr in ganz Japan lenken

„Vorsicht! In 500 Metern steht ein Wagen auf der Standspur. Bitte passen Sie auf.“ Japanische Autofahrer haben sich mittlerweile daran gewöhnt, dass ihr Wagen mit ihnen spricht. Bevorzugter Gesprächsstoff sind Verkehrsinformationen, denn das Land ist ein Mekka der elektronischen Verkehrssteuerung. Allein in Tokio erfassen fast 17.000 Sensoren die tägliche Blechlawine. In der Verkehrsleitstelle werden Staus und freie Fahrt auf einem 25 Meter breiten und fünf Meter hohem Triptychon aus 144 Bildschirmen angezeigt.

Die Computer in der Leitstelle steuern Ampelphasen, senden Informationen an Leuchttafeln und alle fünf Minuten per Funk oder über Infrarotbaken an die Navigationssysteme der Autos. Auf den Bildschirmen der DVD-gestützten Navigationssysteme leuchten dann in Rot die verstopften und in Grün die freieren Straßen auf. Bei gehobenen Systemen warnt der Sprachcomputer vor Hindernissen. Richtungstafeln an den Straßen zeigen nicht die Kilometer zum nächsten Stadtteil der 12-Millionen-Metropole, sondern die voraussichtliche Fahrtzeit dorthin an. Hinter all dem steht das Kommunikationssystem Vics (Vehicle Information and Communication System). Im April 1996 gestartet, erfasst es bis auf einige Flecken alle Autobahnen und Hauptstraßen Japans. Es ist allerdings nur ein Teil eines noch größeren Plans. Der Staat will ein vernetztes intelligentes Transportsystem (ITS) entwickeln. Vom Auto bis zum Zug soll es alle Verkehrsteilnehmer umfassen.

Nebenbei wollen Staat und Industrie das Auto zur rollenden Geldbörse machen. So wie derzeit schon die Autobahnmaut elektronisch erfasst und abgebucht wird, soll demnächst auch die automatische Bezahlung von Tankrechnungen und Parkgebühren möglich werden. Wie in den besten Zeiten der wirtschaftlichen Aufholjagd testen Konsortien aus Autoherstellern, Elektronikfirmen, Wissenschaft und Ministerien derzeit die verschiedenen Zukunftsideen. „Darin nehmen die Japaner teilweise schon die dritte und vierte Generation der ITS-Entwicklung vorweg“, sagt Olaf Hebert, Repräsentant von Deutschlands größtem ITS-Systemanbieter, DaimlerChrysler Services, in Tokio. Sein Unternehmen ist in Deutschland gemeinsam mit der Deutschen Telekom für das weltweit größte elektronische Mautsystem für Lkws verantwortlich.

Japan kleckert nicht, der Staat klotzt. Während anderswo auf der Welt gerade mal erste Pilotprojekte liefen, pumpte allein die Polizei von 1996 bis 2003 7,2 Milliarden Euro in den Ausbau ihrer ITS-Infrastruktur. Motor des ehrgeizigen Projekts ist die Platznot. Während sich der Verkehr in den vergangenen 20 Jahren um 47 Prozent erhöhte, wuchs das Straßennetz nur um 3,3 Prozent. „Wir können das Straßensystem kaum mehr erweitern“, sagt ein Polizist in der Verkehrsleitzentrale.

Japan ist bergig. In den bewohnbaren Tälern und Ebenen müssen 127 Millionen Menschen mit Äckern und Autos um Raum ringen. In Tokio fällt selbst der Luftraum als Expansionsgebiet aus, viele Hauptstraßen, Flüsse und Kanäle sind bereits in mehreren Etagen überbaut. Vics soll die Lasten effizient verteilen, außerdem die Nebenwirkungen motorisierter Mobilität wie Luftverschmutzung und Unfälle verringern und nebenbei einen riesigen Zukunftsmarkt eröffnen.

Bei den Japanern fällt das Angebot auf fruchtbaren Boden. Schon vor Vics waren Navigationssysteme beliebt, denn nur wenige Straßen tragen Namen. Adressen sind für Uneingeweihte undurchschaubar nach Wohnviertel, Block und Haus nummeriert. Die Navigationssysteme kennen die Codes und meist auch die dazugehörige Telefonnummer. Oft muss nur die Rufnummer eingegeben werden, um per Satellit punktgenau ans Ziel geführt zu werden. Im vorigen Jahr wurden deshalb zwei Millionen Vics-kompatible Navigationssysteme verkauft.

Doch auch Hightech kann das Verkehrschaos auf Japans Straßen nur lindern, nicht beheben. Und so nennt Shigenobu Fukumoto, Vize-Direktor der Abteilung für Verkehrsmanagement der nationalen Polizeibehörde, als größten Erfolg: „Der Verkehr hat um die Hälfte zugenommen, die Verkehrsdichte ist jedoch gleich geblieben.“ Immerhin sind nach Tests seiner Behörde Fahrer mit einem Vics-kompatiblen Navigationssystem 12,4 Prozent schneller am Ziel als Fahrer mit einfachen Navigationssystemen. Taxifahrer, die die Schleichwege kennen, schlägt Vics zwar nur um 2,3 Prozent. Aber wenn man trotz Fahrhilfe im Stau steht, hilft Vics auch psychologisch: Wer weiß, wie lange er warten muss, ist weniger gestresst.


Dieser Text stammt aus unserer Redaktion Corporate Publishing.