Einfache Mathematik

Wer die Grundrechenarten beherrscht und auch nur ein einziges Flugzeug besitzt, kann jeder Airline Konkurrenz machen. Auch die Air Berlin hat mit wenig begonnen. Heute mischt sie im boomenden Markt der Low-Cost-Carrier mit einer klaren Nischenstrategie erfolgreich und beispielhaft mit.


Wir haben uns schnell daran gewöhnt. Die Ferienflieger transportieren uns schon mal für rund 60 Euro von Köln nach Mallorca. Und die Kids jetten zum Besuch von Freunden locker für 29 Euro von Hamburg nach Wien. Der Luftraum über Europa: ein Preisparadies für Flugreisende.

Am Boden allerdings die Bewährungsprobe für beinharte Rechner. Die 9,99-Euro-Sonderangebots-Tickets der Ryanair zu den Metropolen – oder doch zumindest zu deren Randgebieten – haben zwar der Branche Auftrieb gegeben und Hundertschaften von Reportern in Bewegung gesetzt, die prüfen sollten, ob es denn wahr sein kann. „Aber die Mathematik“, spottet Peter Hauptvogel, Marketingleiter von Air Berlin, „ist ja nicht neu erfunden worden.“

Die Basis der Billigflug-Preise ist ein Rabattsystem mit Aufholpotenzial. Und das funktioniert bei der Air Berlin im Prinzip ähnlich wie bei Ryanair oder Easyjet. Also bei der Boeing 737-800 mit 184 Sitzen beispielsweise so: Wird ein Flug ins System gestellt, kostet er 29 Euro. Sind die ersten 20 Plätze gebucht, wird der Preis in Zehnerschritten angehoben. Auf dem Monitor ist dann zu sehen, wie Buchungs- und Preiskurve sich auf einer Zeitskala sanft, aber entschieden parallel zueinander nach oben bewegen. Nach einer klaren Vorgabe: Zirka 69 Euro müssen bei einer einfachen Strecke pro Sitz eingenommen werden, damit die Kosten kompensiert sind. Dieser mittlere Sitzpreis entsteht aus einer Mischkalkulation aus fixen und variablen Kosten, die sich vor allem aus unterschiedlichen Flughafengebühren und Kerosinpreisen addieren.

Einfache Mathematik. Bis zum Preis von 59 Euro, für die ersten 50 Buchungen also, werden Minuszahlen addiert, insgesamt 1400 Euro. Die nächsten zehn Plätze bringen den kostendeckenden Preis. Reservierungen 70 bis 100 sind bereits im Plus und gleichen die Rabatte der ersten 50 aus. Ab Buchung 101 wird Gewinn gemacht. Die Rechnung bewegt sich inzwischen bei einem Sitzpreis von 119 Euro. Wird der Preis bis 179 Euro abermals in Zehnerschritten angehoben, ergibt sich bei 160 Buchungen ein rechnerischer Gewinn von 5100 Euro. Die 27 Boeing 737-800 der Air Berlin sind oft genug ausgebucht. Selbst bei einer Deckelung des Preises bei 139 Euro pro Sitz könnte die Gesellschaft also noch 60 Sitze mit 70 Euro Gewinn verkaufen und würde damit rund 4000 Euro Gewinn pro Flug erzielen.

Der Berliner Carrier, der 1991 mit wenigen Boeings abhob, hält 2003 an die 40 Jets in der Luft und wird wohl die 6,7 Millionen Passagiere des Vorjahres halten oder gar übertreffen können – obwohl die Umsätze bei den Reiseveranstaltern sinken und sich deren Buchungsrückgang auch bei den Billig-Airlines bemerkbar macht. Air Berlin wird schwarze Zahlen schreiben. Bei wenig höheren Preisen als die Ryanair und ähnlichem Service wie die Lufthansa.

Jährliches Wachstum von 20 Prozent

Damit ist Air Berlin ein eindrucksvolles Beispiel jener Nischenstrategie, die Lucio Pompeo, Partner bei McKinsey & Company und Experte für Travel & Logistics, als ein Erfolgskonzept im umkämpften Luftraum ansieht. „Wer seine Nische gut kennt und erfolgreich verteidigen kann“, meint Pompeo, „hat seine Chance.“ Mit seinem Kollegen Urs Binggeli hat Pompeo vor kurzem eine Studie über die Zukunft der Low-Cost-Fluglinien in Europa veröffentlicht und vor allem am Beispiel der Platzhirsche Ryanair und Easyjet die Chancen und Risiken dieses neuen Marktes ausgelotet, der mit Wachstumsraten von jährlich 20 Prozent rechnen darf. Ab 2007 allerdings wird aus dem Steigflug der Billigflieger, so die Berater, ein moderater Reiseflug, es wird Marktbereinigungen geben.

Joachim Hunold weiß das. Für den Air-Berlin-Chef kommen die neuen Entwicklungen kaum überraschend. Er hat sie schließlich mit beeinflusst. Kaum einer seiner derzeitigen Kontraktpartner tummelt sich schon so lange erfolgreich im Geschäft wie der 53-jährige Düsseldorfer. Und kaum einer sah so früh die Marktlücke, die weit war wie das platte Land: Hunold holte die Passagiere nicht nur in den Metropolen ab, sondern entdeckte die Provinz, machte Münster und Paderborn, Nürnberg oder Erfurt zum Einzugsgebiet für Reiseveranstalter. Das brachte Einsparungen. Und neue Kundschaft. Und Air Berlin eine erheblich bessere Auslastung seiner Maschinen für jeden Flugtag. Tatsächlich buchte jetzt mancher, dem der Weg nach Düsseldorf oder Köln zu weit gewesen war. Und die kleinen Provinz-Ports, vom neuen Ansturm animiert, mauserten sich zu veritablen Flughäfen.

Bei konkurrierenden Billigangeboten bleibt meist einer auf der Strecke

1998 begann Air Berlin sich von den Reiseveranstaltern zu emanzipieren und verkaufte auch Einzel-Tickets. Im ersten Quartal 2003 wurden bereits knapp 50 Prozent des Umsatzes mit Einzel-Flugreisenden ohne Anbindung an einen Reiseveranstalter gemacht. Tendenz: steigend. Die teilweise Emanzipation von den Reiseveranstaltern führte zu einer weiteren Konsequenz. „Wir mussten erkennen“, sagt Peter Hauptvogel, „dass wir für die Kunden nur interessant sind, wenn wir in verlässlichen Frequenzen fliegen.“ Die Folge ist ein Flugplan, der von den Air-Berlin-Startplätzen in Deutschland – derzeit 19 – meist mehrfach wöchentlich, im Sommer sogar oft mehrmals täglich Verbindungen zu den angebotenen Reisezielen anbietet. Der Mallorca-Shuttle der Air Berlin beispielsweise fliegt der Deutschen liebste Ferieninsel inzwischen von zwölf Flughäfen an, sommers wie winters.

Damit hat Air Berlin schon früh und fast unbemerkt von der Konkurrenz eine der wichtigsten Voraussetzungen für den Erfolg eines Low-Cost-Carriers geschaffen: ein Monopol auf bestimmten Strecken, das von den Mitbewerbern nur schwer zu knacken ist. Denn das haben die Unternehmensberater von McKinsey klar ermittelt: Bei konkurrierenden Billigangeboten bleibt meist einer auf der Strecke. Von 389 analysierten Strecken wurden 218 von dem einen oder anderen Billigflieger bestellt, auf 145 Strecken konkurrierte ein Billigflieger mit einer der traditionellen Fluggesellschaften. Aber nur 26 Strecken wurden von zwei Billigfliegern frequentiert. Pompeo: „Nur ein hohes Passagieraufkommen garantiert den Erfolg des Low-Cost-Prinzips.“

Die Erfahrungen mit dem Mallorca-Shuttle, der Air Berlin eine gewaltige Zunahme von Buchungen bescherte, war für die Airline außerdem ein schönes Training für die jüngste Übung, die Einführung des City-Shuttle. Von acht Flughäfen geht es täglich nach London-Stansted, von vier nach Wien, von Berlin und Münster nach Rom und so weiter. Air Berlin hat es fast aus dem Stand zu einem Streckennetz gebracht. Zwar wurden Routen wie Baden-Baden – London oder Münster – Bergamo wegen zu geringer Nachfrage schnell wieder gestrichen. Dafür konnte die Frequenz zwischen Berlin und Wien oder Berlin und Palma auf bis zu dreimal täglich erhöht werden. Mit einer Auslastung von deutlich mehr als 70 Prozent. Das ist ein Erfolg der Logistik. Und es erhält Substanz durch eine Marketingstrategie, die den Service-Aspekt zu Recht kommuniziert.

Die klassischen Airlines sind strukturell nicht bedroht

Es gibt ein ordentliches, kostenloses Catering an Bord, es gibt Kinder- und Jugend-Ermäßigungen, Bonusmeilen und eine Reservierung von gewünschten Sitzplätzen, kurzum: Air Berlin benimmt sich wie eine normale Airline und fühlt sich zwar in der Konkurrenz mit den No-Frills wie Easyjet oder Ryanair, positioniert sich aber deutlich näher an der Lufthansa. „Wir sind nicht billig“, kommentiert Hunold den Abstand zu jenen Fluggesellschaften, die ihren Passagieren nicht einmal ein Brötchen offerieren, „wir sind preiswert.“

Die wohl wichtigste Voraussetzung, so rasch und flexibel auf einen sich ständig ändernden Markt reagieren zu können, hat Hunold im eigenen Laden geschaffen. Bei der Berliner Airline wird deutlich, dass Low Cost nicht nur ein Argument beim Verkauf von Tickets ist, sondern bei der Unternehmensstruktur anfängt. Ein schlankes Management, schwächere Gehaltsstrukturen und das bessere Ausnutzen von Zeiten bewirkten eine höhere Produktivität, weiß Hunold. „Vor allem aber: Wir haben keine Gewerkschaften im Haus – wir haben keinen Betriebsrat, und keiner reißt sich darum.“ Damit hat die Air Berlin einen Partner nicht an Bord, der beispielsweise der Lufthansa die Bilanzen verwässert – und der auch für die unmittelbaren Konkurrenten ein schweres Handicap bedeutet.

Was Joachim Hunold recht ist, ist Hans Rudolf Wöhrl teuer. Der erfolgreiche Nürnberger Textilunternehmer hat die seit ihrer Gründung 1992 defizitäre Deutsche BA zum 1. Juli für den symbolischen Preis von einem Euro von British Airways übernommen, obwohl die Gewerkschaften in Gestalt der straff organisierten Pilotenvereinigung Cockpit mitreden.

Damit ist die nun DBA genannte Airline fast automatisch kein Low-Cost-Carrier mehr. „Das kann nicht gut gehen“, kommentiert ein wohl gesonnener Insider das Unternehmen, „der Kollege hat die Knebelverträge mit den Gewerkschaften und die Lufthansa als übermächtigen Konkurrenten, das ist nicht durchzuhalten.“ Gleichwohl hat Wöhrl im Sinn, seine Airline profitabel zu machen. Mit einer klar umgrenzten Tarifstruktur – Ticket-Preise zwischen 25 und maximal 175 Euro für die einfache Strecke – hofft er, ein interessantes, flexibles Angebot für Geschäftsreisende zu bieten. Wöhrl spricht von „Fair Fare“. Die Lufthansa wird dies, wie in der Vergangenheit, zu kontern wissen. Übers Jahr, spätestens, wissen wir mehr.

Den kostenbewussten Business-Reisenden hat auch eine nagelneue Airline im Fokus: der Germania Express. Mit einer pfiffigen Idee, die allerdings nicht einfach zu kommunizieren ist, hat Germania-Geschäftsführer Jürgen Branse, ein ehemaliger TUI-Manager, vor allem Reisende angepeilt, die häufiger zwischen bestimmten Destinationen pendeln, zwischen Wohn- und Arbeitsort, zwischen Wohn- und Feriendomizil. Sein Angebot: „Wir bieten Festpreise.“ Und die sind moderat: München – Mallorca 77 Euro, Berlin – Saloniki 88 Euro, München – Lissabon 99 Euro. Wer auf Billigtarife dressiert ist, mag das nicht interessant finden. Der vergisst aber auch oder weiß es nicht besser, dass die Low-Cost-Carrier im Schnitt mit vergleichbaren und auch deutlich höheren Preisen handeln. „Die anderen müssen bei den Spätbuchern doch erst den Rabatt wieder reinholen, den sie den Frühbuchern geben“, argumentiert Branse. Sein Sahnehäubchen: Umbuchungen, und das ist für Geschäftsreisende wirklich interessant, kosten nur 25 Euro.

Neben dem Festpreis-Marketing hoffen Firmengründer Hinrich Bischoff und sein Geschäftsführer Branse auf „einen gigantischen Vorteil bei den Kapitalkosten“. Zum Start hat Bischoff aus den Beständen der US Airways 19 Flugzeuge vom Typ Fokker F-100 erworben – für jeweils knapp sieben Prozent des Preises einer neuen Boeing 737-800. Die nur 100 Sitzplätze garantieren eine hohe Platzausnutzung und das Gefühl, nicht bei einem Massentransport dabei zu sein. Zudem hat Branse als Schlüssel für den Erfolg seines Konzeptes insbesondere das richtige Streckennetz und eine sinnvolle Verteilung der Flüge über den Tag ausgemacht. Morgens und abends will Germania-Express Business-Passagiere transportieren, am Tag und zum Wochenende Touristen und Heimflieger. Aber zwischen welchen Zielen? Noch mal Hamburg – Mallorca?

Harte Zeiten also für Billigflieger aus Deutschland. Ob die TUI-Tochter Hapag-Lloyd-Express im eigenen Laden richtig hochkommen darf? Ob Eurowings-Ableger Germanwings im Einflussbereich der Lufthansa optimal agieren darf oder einstweilen nur Startplätze besetzt hält? Der Markt bleibt in Bewegung und die irische No-Frills-Armada von Ryanair in Lauerstellung.

Die klassischen Airlines, so viel ist mittlerweile sicher, haben von den Billigfliegern strukturell wenig zu fürchten. In den meisten Fällen stellen sie fest, dass die Low-Cost-Carrier insgesamt das Geschäft angekurbelt haben. „Bei den klassischen Airlines besteht jedoch großer Handlungsbedarf, die Kostenpositionen weiter zu verbessern und die Produkte und Preise transparenter und kundengerechter zu gestalten“, so Lucio Pompeo.

Das wirkliche Phänomen der Billigflieger ist der Traum jeder Branche: Sie haben mit ihren Produkten den Markt in Bewegung gebracht und erweitert, nicht kannibalisiert. Mehr als 50 Prozent der Billigflug-Passagiere, so zeigen Analysen der neuen mobilen Bewegung, sind nie zuvor in die Luft gegangen, weil Fliegen ihnen zu teuer war. Und sie finden Vergnügen an der neuen Art zu reisen. Der Kuchen ist größer geworden. Aber das ist höhere Mathematik.


Dieser Text stammt aus unserer Redaktion Corporate Publishing.