Forschung, Fleiß und Football

Derek Bok, langjähriger Präsident der Harvard University und ehemaliger Dekan der Harvard Law School, über das Erfolgsrezept von Elite-Universitäten, die Vielfalt des amerikanischen Hochschulwesens, die Gefahren gewinnorientierter Institutionen. Und warum weltberühmte Forscher noch lange keine guten Lehrer sind.




McK: Professor Bok, viele Europäer betrachten amerikanische Universitäten als die besten Hochschulen der Welt. Ist das eine realistische Einschätzung?

Derek Bok: Ja, aber Universitäten in den USA sind alles andere als perfekt. Selbst bei den besten besteht reichlich Verbesserungsbedarf. Und es gibt eine große Anzahl von Hochschulen, die kaum als qualitativ gut bezeichnet werden dürfen. Unsere besten Unis sind hervorragend, unsere schlechtesten sind fürchterlich. Man sollte nicht nur auf die Spitze schauen.

Was macht denn Ihrer Meinung nach eine Universität zu einer Weltklasse-Einrichtung – der Lehrkörper, die Auswahl sehr guter Studenten, das Budget?

Als herkömmliches Kriterium gilt in der Regel der gute Ruf der Professoren, und der resultiert aus der Qualität ihrer Forschungsarbeit. Also speist sich der Ruf einer Hochschule aus der Forschung. Die ist zwar wichtig, aber meiner Meinung nach ein sehr unvollständiger Maßstab. Die Güte der Lehre ist mindestens genauso wichtig, aber sie wird oft übersehen.

Warum zählt die Qualität der Lehre weniger?

Sie lässt sich schwer messen. Wer sich in einem Fachgebiet auskennt, kann die wissenschaftliche Kompetenz eines Professors von jedem Ort der Welt aus beurteilen, indem er dessen Bücher und Aufsätze liest. Ein wunderbarer Lehrer dagegen, der Seminare hält, in denen Studenten wirklich etwas lernen, wird kaum über die Universität hinaus bekannt. Mit guter Lehre lässt sich deshalb keine Reputation schaffen. Das könnte sich ändern, wenn man vermehrt Internet-Ausbildung anböte – dann stünden Harvards oder Yales Klassenzimmer plötzlich jedem offen. Heute können nur die Studenten urteilen – aber denen fehlen die Vergleichsmöglichkeiten.

Die Studenten spielen in Ihrer Gleichung offenbar keine Rolle. Sind sie für den Rang einer Universität nicht wichtig?

Natürlich spielt die Selektion der Studenten eine Rolle, aber die hängt wiederum mit dem Ansehen der Universität zusammen. Es ist ein Feedback-Kreislauf, der mit der Forschung beginnt: Die wissenschaftliche Reputation der Professoren begründet den guten Ruf der Hochschule.
Dieses Renommé zieht die Studenten an. So hält sich der Kreislauf selbst am Leben, und deswegen hat sich die Liste der besten Hochschulen in den vergangenen 50 Jahren auch nur wenig geändert.

Wie schafft es eine Universität wie Harvard, die Spitzenwissenschaftler anzuziehen, die sie braucht, um ganz vorn zu bleiben?

Die besten Unis können die besten Leute anwerben, weil sie rastlos nach ihnen suchen – ohne Beschränkungen, was Nationalität oder akademische Herkunft angeht. In Europa neigen die Hochschulen dazu, unter ihren eigenen Absolventen zu wählen. Das genügt aber nicht, wenn man die Besten der Besten haben will.
Wir suchen in der ganzen Welt nach Professoren. Mindestens ein Drittel des geisteswissenschaftlichen Lehrkörpers an Harvard wurde im Ausland geboren und dort ausgebildet. Da Englisch weit verbreitet ist, finden wir in fast jedem Land qualifizierte Fachleute.

Sie haben aber auch zig Millionen Dollar in der Kriegskasse, um Talente einzukaufen.

Das ist der zweite Grund. Wir haben das große Glück, finanziell sehr gut ausgestattet zu sein. Das erlaubt es uns, Fachleuten von Weltrang die Einrichtungen zu bieten, nach denen sie verlangen.

Nach welchen Kriterien sucht sich Harvard aus dem Berg von Bewerbungen seine Studenten aus?

Zuerst einmal wollen wir sicher sein, dass ein Student intellektuell qualifiziert ist. Dazu gibt es die üblichen Kriterien wie Schulnoten und die Ergebnisse von Eignungstests. Aber das reicht uns nicht aus. Wir suchen Menschen mit interessanten Begabungen, Menschen mit ungewöhnlicher Lebenserfahrung, Menschen verschiedener Rassen und Einkommensschichten aus unterschiedlichen Teilen Amerikas und der Welt.
Wir glauben, dass sich Studenten gegenseitig erziehen und bilden, was mindestens genauso wichtig ist wie die Erziehung durch Professoren und Bücher. Das ist an einer Hochschule mit Wohnpflicht auf dem Campus wie Harvard ein entscheidender Punkt, weil die Studenten ja rund um die Uhr miteinander leben.

Wohnpflicht? Das müssen Sie deutschen Lesern etwas genauer erklären. Wir sehen die Studienzeit als eher freie Lehr- und Wanderjahre an.

Alle Untersuchungen deuten darauf hin, dass Studenten, die auf dem Campus wohnen, mehr lernen und mehr von ihrer Zeit an der Uni haben als Studenten, die zu Hause oder im eigenen Apartment fern der Uni leben. Studenten treffen auf Kommilitonen aus Ländern mit anderen Religionen und anderem kulturellen und wirtschaftlichen Hintergrund. Dass sie alle zusammen lernen und zusammen leben, besitzt an sich bereits hohen Bildungswert. Hinzu kommt, dass in unseren Wohnheimen neben Erstsemestern auch Studenten im Hauptstudium und Professoren leben.

Ein für Europa unbekanntes Phänomen sind die gewaltigen Stiftungsvermögen oder Endowments der Universitäten. Harvard steht mit rund 20 Milliarden Dollar an erster Stelle. Ginge überhaupt irgendetwas ohne dieses Vermögen im Rücken?

Harvard und andere Privathochschulen wären ohne private Unterstützung nicht wiederzuerkennen. Viele unserer Gebäude sind Spenden – aber das lässt sich schwer in eine andere Kultur verpflanzen. In den USA existieren diese Stiftungsvermögen, weil das Land eine lange Tradition der großzügigen privaten Philanthropie besitzt, während die öffentliche Hand eher sparsam ist. In Europa sieht das anders aus, da besteht mehr Interesse daran, dass der Staat viele soziale Leistungen bezahlt.

Und doch hat auch eine reiche Schule wie Harvard offenbar nie genug Geld. Studenten zahlen jährlich bis zu 40.000 Dollar Studiengebühren, und trotzdem sind die Kosten für ihre Ausbildung damit nicht gedeckt.

Wir haben ein System geschaffen, das sicherstellt, dass das Geld immer knapp ist. Erstens fallen einem immer neue Dinge und Projekte ein, die man verfolgen möchte, man benötigt neue und bessere Geräte fürs Labor, neue Bücher, die Liste ist endlos. Zweitens ist das Hochschulwesen so wettbewerbsorientiert, dass wir unter ständigem Innovationsdruck stehen und investieren müssen. Drittens holt man sich als Top-Hochschule immer die klügsten Köpfe an Bord, denen gehen nie die Ideen und der Ehrgeiz aus. Es spielt also keine Rolle, wie hoch die Studiengebühren sind – es gibt immer neue Vorhaben, die zusätzliche Geldquellen nötig machen. Noch dazu, wenn man sich in einem permanenten Wettrennen mit den zehn anderen Spitzen-Universitäten befindet.

Dieser Wettbewerb treibt auch akademisch weniger wertvolle Blüten. Einige Hochschulen geben Unsummen aus, um aufwändige Fitness-Center mit Kletterwänden, Ballsäle oder Arenen für Studenten zu bauen.

Stimmt, aber das trifft nicht auf die besten Hochschulen zu, die immer genügend Bewerber haben, sondern eher auf Universitäten, die in der Rangordnung aufsteigen möchten. Sie konkurrieren miteinander aktiv um bessere Studenten und sind in den vergangenen Jahren darauf verfallen, teure Anlagen zu bauen. Der Grund dafür sind die Besichtigungstouren, die Eltern jeden Herbst mit ihren Kindern im College-Alter unternehmen. Einige von ihnen lassen sich offensichtlich von großen neuen Hallenbädern und ähnlichen Einrichtungen beeindrucken.

Sie werfen US-Universitäten in einem neuen Buch vor, zu sehr auf die kommerzielle Verwertbarkeit zu schauen. Was genau meinen Sie damit?

Wenn man einmal damit anfängt, Dinge für Geld zu tun, dann birgt das eine ganze Reihe von Gefahren in sich. Man bietet Kurse nicht mehr aus Bildungserfordernissen heraus an, sondern weil man Gewinn erwirtschaften kann. Man richtet Sportteams ein und führt Medikamententests oder andere Forschungsprojekte durch, weil sie sich rechnen.

Was ist falsch an unternehmerischem Denken bei Professoren und Dekanen?

Diese Haltung untergräbt langfristig die Qualität der eigenen Arbeit. Man macht einen Bogen um akademische Standards, nur um seine finanziellen Ziele zu erreichen. Das beste Beispiel sind Sportteams. An etlichen Universitäten nimmt man heute Studenten an, die akademisch weitaus schlechter qualifiziert sind als andere Bewerber, nur weil sie gute Football-Spieler sind.

Welche Folgen hat das für das akademische Klima an der Universität?

Es unterhöhlt die Moral der Professoren. Wenn sie sehen, dass man Studenten zulässt, weil ihre Eltern viel Geld spenden, oder dass man Forschungsprojekte annimmt, weil sie profitabel sind und nicht, weil sie eine wissenschaftliche Herausforderung darstellen, oder wenn Professoren Fernkurse geben müssen, weil ein Unternehmen seine Neueinstellungen durch einen simplen Buchhaltungskurs schleusen will – dann geht das Vertrauen der Professoren in das geheiligte Wertgefüge der Hochschule kaputt.

So ruiniert sich eine Universität aber doch ihren Ruf, oder?

Natürlich, wenn man sich in der Forschung in ein Dickicht von Interessenkonflikten begibt, in denen die Hochschule oder die Professoren finanzielle Vorteile erwarten, nehmen der Respekt und das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Universität Schaden. In John Le Carrés Roman „Der ewige Gärtner“ ist sehr treffend beschrieben, wie eine Universität ihre akademischen Werte für Geld zu Markte trägt.
Solche Geschichten verändern die Wahrnehmung in der Öffentlichkeit. Die Leute beginnen sich zu fragen, ob die Forschungsergebnisse oder der Kommentar eines Wissenschaftlers in einer Zeitung das sachliche Urteil eines Experten oder eine bezahlte Auftragsarbeit ist. Letztlich leiden unter solchen Praktiken die Wissenschaft und die Demokratie.

Zu viel Kommerzdenken an einer Hochschule gefährdet die Demokratie – das würden wohl nicht viele Ihrer Kollegen unterschreiben.

Verlässliche Informationsquellen sind heute wichtiger als je zuvor. Wenigstens die Wissenschaft sollte nach Objektivität streben. Wenn dieser Grundsatz in Frage gestellt wird, verliert die Öffentlichkeit eine der bedeutendsten Quellen, um sich über komplexe aktuelle Themen zu informieren. Kommerzialisierung, die zu weit geht, verursacht zudem enorme Kosten im akademischen Betrieb. Es zahlt sich nie aus, wenn fundamentale Werte missachtet werden, um schnelles Geld zu machen.

Aber viele US-Hochschulen sind seit Jahrzehnten auf Gewinn ausgerichtet und müssen die Ware Bildung verkaufen. Man könnte argumentieren, dass eine solche Marke im Zeitalter der Wissensarbeit aggressiv beworben und ausgedehnt werden muss – genauso wie Coca Cola oder Microsoft.

Eine Marke aufzubauen ist völlig in Ordnung – das ist nur ein anderes Wort für Reputation oder Qualität. Nicht jede Aktivität, die einen kommerziellen Aspekt hat, ist verwerflich. Im Gegenteil: Universitäten haben die Verpflichtung, mit der Wirtschaft zu arbeiten, um Entdeckungen in nutzbare Produkte und Prozesse zu übersetzen. Deswegen bekommen wir schließlich all die Fördermittel vom Staat. Wir wollen mit der Geschäftswelt zu tun haben, aber auf die richtige Art und Weise.

Was ist richtig?

Richtig ist eine Mischung und ein klarer Auftrag. Natürlich darf und soll es gewinnorientierte Universitäten geben, Wettbewerb hilft uns allen. Aber es wäre eine Schande, wenn das gesamte höhere Bildungswesen auf Profit ausgerichtet wäre. Eine solche Erziehung befriedigt vielleicht die Nachfrage der Kunden, aber wir wissen, dass die Menschen nicht immer die beste Ausbildung verlangen. Sie wollen Berufskenntnisse und sind weniger an einer Erziehung interessiert, die auch moralische Werte vermittelt oder sie zu aktiven Bürgern heranbildet. Diese Art von Lehre mag für Studenten keinen unmittelbaren Wert besitzen, sie ist keine Eintrittskarte zu einem besser bezahlten Job. Aber wenn es nur noch ums Geld ginge, würden Universitäten ihren gesellschaftlichen Auftrag vernachlässigen.

Die Hochschul-Landschaft in den USA

Rund 15,7 Millionen Studenten sind an etwa 4200 Colleges und Universities eingeschrieben (Deutschland: rund 2 Millionen Studenten an zirka 100 Hochschulen). Eine deutliche Mehrheit, 11,8 Millionen, studiert an öffentlich finanzierten Einrichtungen, 3,6 Millionen Studenten lernen an den teureren privaten Colleges (davon etwa 450.000 an so genannten For-profit Colleges).

Die durchschnittliche Studiengebühr beträgt an öffentlichen Hochschulen 2900 Dollar, an Private Colleges 18.000 Dollar, bei For-profit Colleges 11.000 Dollar. (Stand: akademisches Jahr 2001/2002)

Ein gutes Argument für das europäische Hochschulsystem, das weniger auf die schnelle, teure Vermittlung von umgehend vermarktbaren Fähigkeiten ausgerichtet ist, sondern mehr auf Bildung statt Ausbildung ...

Durchaus, ich verstehe allerdings nicht, wieso gerade Deutschland, die Geburtsstätte der Forschungsuniversität, so wenig in seine Hochschulen investiert und es zulässt, dass sie so überfüllt sind. Und dass das Land die Studenten obendrein auch noch ewig studieren lässt.

In Deutschland wird seit Monaten heftig diskutiert, ob Elite-Universitäten eingerichtet werden sollen, um wieder den Anschluss an die Weltspitze zu finden. Dabei wird Harvard oft als Vorbild angeführt. Lässt sich das US-Modell nach Deutschland exportieren?

Für eine Spitzen-Hochschule bedarf es einer ganzen Reihe von Zutaten. Die Tatsache, dass die Regierung genügend Mittel bereitstellt, ist eine notwendige, aber keine hinreichende Voraussetzung. Geld reicht leider nicht.

Was braucht es noch, um akademische Qualität zu erzeugen?

Mit voller Kasse muss man zunächst einmal dem politischen Druck widerstehen, mehr Studenten aufzunehmen. Das hat in Deutschland bisher nicht geklappt, warum sollte es bei diesen Elite-Unis funktionieren? Es müsste viel mehr Wettbewerb um die besten Lehrkräfte und Studenten unter den Hochschulen geben. Dann müsste Deutschland lange und ernsthaft darüber nachdenken, wie das Verhältnis zwischen Forschung und Lehre aussehen soll. Bislang hat Ihr Land diese beiden Funktionen getrennt – in Universitäten und in Einrichtungen wie die Max-Planck-Institute. Solange Forschung nicht integraler Bestandteil einer Hochschule ist, wird sie jedoch keine Spitzen-Universität sein. Wer Weltklasse-Institutionen will, muss die Forschung von Anfang an einbauen oder beispielsweise enge Beziehungen mit Max-Planck-Instituten vereinbaren.

In Deutschland wird auch diskutiert, ob man die Förderung eher bestehenden Hochschulen zugute kommen lassen oder stattdessen neue Elite-Universitäten aufbauen sollte.

Gegen letztere Variante wird es heftigen politischen Widerstand geben. Angenommen, man wollte eine neue Hochschule hochziehen und würde das in einer bestehenden Universität tun, dann hätte man zwar Gebäude und Büchereien, aber man müsste massiv Studenten abbauen und die schlechten Professoren loswerden. Das ist bei einer fest angestellten Professorenschaft sehr schwierig.
Daneben stellt sich die Frage nach der Verwaltung. In Europa gibt es Rektoren, die auf kurze Zeit von den Professoren gewählt werden, und die müssen sich die Verwaltung mit Juniorprofessoren, ja sogar Studenten und Angestellten teilen. Das politisiert die Amtsgeschäfte und zwingt zu Kompromissen, die es jedem recht machen, aber sicher nicht höchsten Ansprüchen genügen. Man muss Rektoren mehr Autorität und längere Amtszeiten geben. Ein Grund, weshalb die besten Universitäten in den USA gut wurden und geblieben sind, sind starke Führungspersönlichkeiten. Präsidenten bleiben lange genug im Amt, um wirklichen Wandel herbeizuführen. Wenn man seine Chefs für drei bis fünf Jahre wählt, passiert nichts. Charles William Eliot, Harvards wichtigster Präsident, der die Universität von einer Knabenschule zu dem machte, was sie heute ist, war 40 Jahre im Amt. Ich selbst bekleidete das Amt 20 Jahre lang.

Vielleicht sind Privathochschulen wie Harvard für Deutschland auch einfach die falschen Vorbilder. Besser geeignet sind möglicherweise staatliche Einrichtungen wie das University of California System, zu dem beispielsweise Berkeley und die UCLA gehören. Sie werden schließlich auch mit öffentlichen Mitteln gefördert und gelten als hervorragend.

Das sind zweifellos ausgezeichnete Hochschulen. Aber bevor Deutschland irgendetwas kopiert, sollte es sich meiner Meinung nach erst einmal eine grundsätzliche Frage stellen: Diskutieren wir neue Hochschulen, weil wir mit der Qualität unserer Forschung oder weil wir mit der Qualität unserer Lehre unzufrieden sind? Der Reformbedarf besteht meiner Meinung nach bei der Lehre. Hier könnten die geisteswissenschaftlich orientierten Hochschulen in den USA die besseren Vorbilder sein.

Welche Hochschulen sollten sich deutsche Reformer ansehen, wenn ihnen eine Verbesserung der Lehre am Herzen liegt?

Man sollte kleinere Hochschulen näher betrachten – etwa das Williams College oder Amherst College. An diesen Liberal-Arts-Hochschulen findet die Lehre die größte Beachtung. Forschung ist natürlich aufregender: Man wird berühmt, kann reisen, Preise gewinnen. Aber man muss wissen: Niemand kann ein herausragender Lehrer sein, wenn Forschungszwänge ständig nach Aufmerksamkeit verlangen.

Auch in den USA sind nur gut 100 der rund 4200 Hochschulen der näheren Betrachtung wert, wie Sie selbst gesagt haben.

Wir haben eine große Spitzengruppe, aber auch ein gewaltiges Feld von akademischen Schlusslichtern, die nach europäischen Maßstäben nicht einmal Hochschulen wären. Das beschert uns eine reiche Auswahl, und das ist in einem Land wie den USA sehr wichtig, weil ein großer Prozentsatz der Jugend aufs College geht. Für jedes Interesse gibt es eine Hochschule: klein oder groß, katholisch, karriere-orientiert, nur für Frauen – die Liste lässt sich beliebig verlängern. Diese Vielfalt ermöglicht eine Unmenge an Experimenten, Innovation und Diversifizierung.
Das war unsere Antwort auf die Frage, wie wir mit dem Massenansturm auf höhere Bildung fertig werden sollten. Das System, das früher nur eine kleine Oberschicht ausbildete, sollte plötzlich die Mehrheit der Jugend erziehen. Dank all der dezentralisierten Hochschulen konnten wir schnell reagieren. Es gab nie eine Hochschulkrise in den USA – während es in Europa zu wenige Universitäten gab, die man dann zu groß werden ließ. Diesem Fluch sind wir entkommen.

Derek C. Bok

absolvierte seine Ausbildung an drei Elite-Universitäten der USA – Stanford, Harvard und George Washington University –, bevor er zum Präsidenten der Harvard University aufstieg. Von 1971 bis 1991 bekleidete der promovierte Jurist somit eines der einflussreichsten akademischen Ämter der Vereinigten Staaten.
Nach seiner langen Amtszeit wechselte Bok als Dekan an die renommierte Harvard Law School – und die Universität benannte ihr Zentrum zur Verbesserung der Undergraduate-Lehre zu Ehren ihres scheidenden Präsidenten in das Derek Bok Center for Teaching and Learning um.
Dazwischen fand Bok immer wieder Zeit zum Bücherschreiben. „Universities in the Marketplace“, seine Kritik an der fortschreitenden Kommerzialisierung der Hochschulen, ist sein siebtes Buch. In seiner Winterresidenz in Florida arbeitet der Jurist zurzeit an einem weiteren Buch zum Thema Bildung und Ausbildung. In Harvard ist Bok zudem weiterhin als Professor und Fachbereichsleiter des Hauser Center für gemeinnützige Organisationen aktiv.

Literatur

_Derek Bok: Universities in the Marketplace – The Commercialization of Higher Education. Princeton University Press, 2003; 256 Seiten; 16,07 Dollar

_Eric Gould: The University in a Corporate Culture. Yale University Press, 2003; 243 Seiten; 30,28 Dollar

_Christopher Newfield: Ivy and Industry – Business and the Making of the American University, 1880–1980. Duke University Press, 2003; 296 Seiten; 23,07 Dollar

_David L. Kirp: Shakespeare, Einstein, and the Bottom Line – The Marketing of Higher Education. Harvard University Press, 2003; 336 Seiten; 29,95 Dollar


Dieser Text stammt aus unserer Redaktion Corporate Publishing.