Die gläserne Klinik

Eine optimale Patientenversorgung lässt sich über gute medizinische Betreuung erreichen. Und über ein ausgeklügeltes IT-System. Denn Technologie kann helfen, den Krankenhausalltag effizienter und menschlicher zu gestalten. Ein Besuch in der Asklepios-Klinik Barmbek.




Die Architekten haben eine Märklin-Krankenhauswelt in groß gebaut. Die einzelnen Klinikkomplexe sind untereinander mit Brücken aus Stahl und Glas verbunden. Die Schwachen, Bettlägerigen, die über diese Lichtbrücken geschoben werden, wirken von unten, aus den großzügig angelegten Atrien, wie eine kalkuliert geplante Performance aus Technik und Ästhetik. Lautlos werden sie über vier verschiedene Ebenen von links nach rechts bugsiert. Im Geist ist man versucht, hier und dort noch ein Mini-Bäumchen oder eine Bahnschranke zu drapieren, so spielerisch wirkt die Szene. In den überdachten Innenhöfen wachsen perfekt ondulierte Echt-Bäume, tatsächlich so akkurat grün wie sonst nur auf einer Spielzeug-Eisenbahnanlage.

Keine Frage, der Neubau strahlt auf den ersten Blick Fortschritt aus. Dabei ist die eigentliche Innovation gar nicht sichtbar. Mehr als 700 Zugriffpunkte im Gebäudekomplex sorgen dafür, dass hier Daten durch die Flure schwirren wie sonst Bakterienwolken. Über diese W-Lan-Stationen wird nahezu jeder Vorgang in der Klinik digital erfasst. Von den Ergebnissen der Morgenvisite über die Befunde der Notaufnahme bis hin zu individuellen Essenswünschen – Bits und Bytes begleiten fast jeden Handgriff im Haus, selbst eine scheinbar nebensächliche Arztnotiz wird in der elektronischen Patientenakte gespeichert. Die Asklepios-Klinik in Hamburg will das modernste Krankenhaus Europas sein. In der Gestaltung, in der Medizin-Ausrüstung und der IT-Technologie. Vor allem aber in der Datenvernetzung.

Die lästige Sucherei hat ein Ende

Dienstagnachmittag, Notaufnahme. Sieben Patienten sitzen im Wartebereich. Ein achter steht an der Theke. „Auf einer Skala von eins bis zehn, wo würden Sie Ihre Schmerzen einordnen?“, fragt die Schwester. „Bei acht“, sagt der Mann. Minuten später sitzt der Leidende in einem Behandlungsraum und wartet auf einen Orthopäden. Draußen erscheint auf einer Anzeigetafel ein blaues Dreieck. Farbe und Form bedeuten: Raum 3 ist besetzt, der Patient ist jedoch alles andere als lebensbedrohlich verletzt. Bei Grün würden die Ärzte schon schneller sein, bei Orange und Gelb werden sie richtig flink, bei Rot flitzen sie. Die Tafel zeigt auch, wie weit Diagnose, Therapie und Belegung in den einzelnen Behandlungszimmern fortgeschritten sind. Sobald ein neuer Befund vorliegt, erscheint ein kleines Ausrufezeichen auf dem Monitor, der Arzt sieht: Das erwartete Röntgenbild ist nun abrufbar. Das frühere Hin-und-her-Telefonieren zwischen Behandlungs- und Untersuchungszimmern entfällt. Genau wie die Suche nach einem leeren Raum und unnötiges Warten. Jörg Focke, Leiter Innovation-Center im Krankenhaus Barmbek, schätzt, dass sich mithilfe der Technik mindestens 20 Prozent ehemals ineffizient genutzter Arbeitszeit einsparen lassen. „Es kann doch nicht sein, dass Ärzte bei zeitkritischen Behandlungen erst noch lange nach Ressourcen suchen müssen, wenn deren Verfügbarkeit und Zustand auch technologiegestützt dargestellt werden kann“, sagt er. Es kann natürlich sein. In den meisten deutschen Krankenhäusern ist das Realität. Unterschiedliche Studien belegen, dass Ärzte täglich ein Viertel ihrer Zeit mit Suchen von Befunden, Ergebnissen oder Kommentaren verplempern. Mit anderen Worten: Von vier angestellten Medizinern ist einer ausschließlich mit Suchen beschäftigt.

Weil die Arbeitszeit der Ärzte in Barmbek der Behandlung der Patienten zugute kommen soll, hat die Asklepios-Gruppe zusammen mit der Stadt Hamburg kräftig in die Infrastruktur investiert. 160 Millionen Euro hat der Neubau im Norden Hamburgs gekostet, gut 100 Millionen Euro übernahm die Stadt, der Rest fiel beim ursprünglichen Partner Landesbetrieb Krankenhäuser (LBK) an, der inzwischen Asklepios gehört. Die Zahl der Betten ist von einst 2400 auf 676 geschrumpft, zwei Drittel des ehemaligen Klinikgeländes, das 1913 gebaut wurde, sollen noch an private Investoren verkauft werden. Der verbleibende Rest will mehr sein als ein modernes Krankenhaus: Das „Future Hospital“ ist als Referenz-Modell gedacht. Für jede Klinik der Asklepios-Gruppe. Für moderne Medizin. Weltweit.

Überspitzt formuliert, könnte man das Projekt auch als Rechenzentrum mit angeschlossener Klinik und Hubschrauber-Landeplatz bezeichnen. In Barmbek sollen Patienten, die sich im Haus verlaufen haben, bald mithilfe von RFID-Armbändern aufgespürt werden, Funkchips auf den Blutkonserven sollen helfen, Verwechslungen auszuschließen. Jede relevante Information im Haus ist in Echtzeit verfügbar, das digitale Bildarchiv setzt einen neuen Standard, Computer mit enormer Leistungskraft unterstützen Verwaltung, Ärzteschaft und Pflege. Drei Terabyte Speicherkapazität nur für Filmaufnahmen liefern die Rechner im Keller des Gebäudes, allein die Radiologie sorgt für ein Datenwachstum von etwa einem Terabyte. Pro Monat.

Um die Informationsflut planen und bewältigen zu können, hat sich Asklepios zwei erfahrene Partner ins Boot geholt. Der Chiphersteller Intel sorgt für Rechnerleistungen und Netzwerkadministration, Microsoft liefert Programme und elektronisches Gerät. In Barmbek machen die Mediziner ihre morgendliche Visite „mobil“. Laptops ersetzen die alten Krankenakten-Wägelchen, der Arzt trägt Anordnungen und Notizen mit einem Stift ein, Kollegen und Schwestern können die Angaben zeitgleich auf ihren mobilen Computern lesen. So werden Fehler vermieden, die beim Abschreiben entstehen können.

Rund 150 Geräte sind permanent im Einsatz. Der Arzt kann sich aus jedem der insgesamt 3300 Räume des Hauses ins betriebseigene System einloggen und Befunde abrufen, erzählt Peter Paul Urban, Chefarzt der neurologischen Abteilung: „Kernspindaten, Ultraschallberichte, Dopplerbilder, alles ist jederzeit online verfügbar.“ Früher hat es oft Tage gedauert, bis alle Befunde an der richtigen Stelle waren. Heute können die Mediziner bei komplizierten Fällen sogar während der Visite eine Kurzrecherche im Internet machen oder dem Patienten seine neuesten Befunde im Rechner zeigen. „Das vereinfacht den Behandlungsablauf ungemein. Für die Patienten wird dadurch ihre Krankheit transparenter, das wiederum erhöht ihre Kooperationsbereitschaft“, sagt Urban.

Auch das Transportmanagement innerhalb des Hauses wird mithilfe der Technologie optimiert. Moderne Logistik heißt in Barmbek, jederzeit zu wissen, wo sich Mensch und Maschine befinden. In welchem OP, in welchem Behandlungszimmer ist gerade welches mobile Gerät? Und wo bleibt der Patient aus dem Aufwachzimmer?

Der interne Transport ist lückenlos dokumentiert

Anderswo kann es schon mal dauern, bis der Kranke das richtige Untersuchungszimmer findet oder im Bettentransport den OP erreicht. Der reibungslose Transport in einer Klinik scheitert am Aufzugsstau, an zeitlichen Verzögerungen, die sich durch Komplikationen ergeben oder auch nur daran, dass auf einer Station das Essen zu spät ausgeteilt wurde. All das passiert in Barmbek auch, allerdings wird hier jede Störung im Ablauf minutiös erfasst – und kann deshalb auch besser behoben werden.

Pfleger und Krankenschwestern im Haus haben einen Palmtop. Nach Prioritäten gelistet, werden auf dem kleinen Handcomputer stets die nächsten anstehenden Bettentransporte festgehalten. Wird der Transporteur irgend- wo aufgehalten, muss er den Disponenten informieren – er braucht für die Gesamtplanung den Überblick über alle Arbeitsabläufe. Wann und von wem wurde der Transportauftrag erteilt, wann ist der Pfleger auf der Station angekommen, wann ist der Patient übergeben worden, und wann wurde er am Ziel abgeliefert? Die permanente Dokumentation macht die Abläufe transparent und nachprüfbar. Lässt beispielsweise immer die Gynäkologie die Pfleger warten? Und warum braucht die Schwester aus der Inneren stets besonders lange von der Station zum OP?

Auch die 15 Operationssäle sind mit der neuesten IT-Technologie ausgestattet. Ein sogenanntes Videointegrations-System stellt sicher, dass Filmsequenzen aus dem Operationssaal mit Bildern und Dokumenten verbunden werden können. Ein großer Monitor an der Wand liefert dem Operateur die angeforderten Informationen, auch Raumlicht und OP-Lampen kann er vom Tisch aus steuern. Jeder Schnitt und jeder Handschlag wird außerdem auf Film festgehalten, so können eventuelle Komplikationen später besser nachverfolgt werden. Über das interne Kommunikationssystem kann der Chirurg während eines Eingriffs mit den Kollegen in anderen Räumen Kontakt aufnehmen, er kann aber auch eine Verbindung ins Ausland herstellen und beispielsweise einen Experten von Übersee zu Rate ziehen.

Neben der Technik sorgt in Barmbek eine kluge Architektur für effiziente Abläufe. Auf der Grundfläche von 100 mal 200 Metern greifen Bettenbereiche und Versorgungszentren ineinander. Die zehn klinischen Fachbereiche sind zu Zentren zusammengefasst und räumlich gebündelt. So liegen beispielsweise auf der vierten Etage alle Spezialgebiete, die sich mit Herz-Kreislauf-Erkrankungen beschäftigen, also nicht nur die Kardiologie, sondern auch die Abteilungen für Diabetes und Lungenleiden – inklusive der für die Fachbereiche notwendigen Untersuchungszimmer und Geräte.

Die Technologie sorgt nicht nur für Begeisterung

Für die Operationssäle wurde ein Zwei-Flure-System entwickelt. Während der gerade operierte Patient auf der einen Seite des Saals herausgerollt wird, bereiten die Teams auf der anderen Seite schon den nächsten Patienten für den Eingriff vor. In dem neuen Betrieb hat sich die Zeit zwischen zwei Operationen von durchschnittlich 50 Minuten auf knapp 20 verkürzt. Die Zahl der Eingriffe kann bei voller Auslastung um 40 Prozent gesteigert werden. Viel mehr Zahlen gibt es nicht, weder für den OP-Bereich noch für andere Stationen im Haus. Dazu ist es noch zu früh, die Asklepios-Klinik Barmbek wurde erst vor einem Jahr, am 10. Dezember 2005, in Betrieb genommen. Erste Untersuchungen und Studien, in denen Prozesse, Effizienz und Wirtschaftlichkeit gemessen werden, sollen erst Ende 2006 vorliegen.

So viel Moderne mag Beobachter und Betreiber faszinieren, für Ärzteschaft und Pflege hat die schöne neue Medizinwelt nicht nur Vorteile. Kurz nach der Eröffnung des Hauses stöhnte das Klinikpersonal nicht nur wegen des enormen Ansturms neugieriger Patienten – es kamen 30 Prozent mehr als von der Klinikleitung erwartet –, auch die Hightech-Ausstattung ließ die Stimmung vor Ort eskalieren. Die Ärzte fürchteten eine weitere Arbeitsverdichtung, schon dadurch, dass sie neben der generellen Dokumentationspflicht nun auch noch alles selbst in den Computer hacken sollen. Die Schwestern und Pfleger beschwerten sich in einem Protestbrief an die Pflegedienstdirektorin, Betriebsrätin Inge Kreffter wurde im Hamburger Abendblatt mit ihrer Kritik zitiert: „Pflegekräfte befürchten, dass sie aufgrund des Personalmangels und der Computerisierung der Pflege nicht mehr den Ansprüchen an Versorgungsstandards und Menschlichkeit genügen können.“

Für die Soft- und Hardware-Spezialisten des Future Hospital sind die ersten Reaktionen wenig überraschend. „Der Durchdringungsgrad mit IT ist im Medizinsektor geringer als in den meisten anderen Branchen“, sagt Christian Ganz, bei Intel für den Bereich Business Development Mobile Technology zuständig.

Seit Jahrzehnten an Zettel, schriftliche Notizen und Patientenakten gewöhnt, fällt dem Mediziner die Umstellung auf digitale Kommunikation und Dokumentation nicht leicht. Jens Dommel, Geschäftsbereichsleiter für Gesundheitswesen und Kommunen bei Microsoft Deutschland, der sich lange mit den Anforderungen seiner Klientel befasst hat, weiß warum: „Bisher war die Technologie den Bedürfnissen des Arztes nicht angepasst. Wer will, dass Mediziner neue Techniken nutzen, muss sie so gestalten, dass sie die Abläufe im Alltag unterstützen.“

Das beginnt bei der Software, die es dem Arzt über ein Multiple-Choice-Verfahren erlaubt, möglichst schnell und präzise seine Visiten zu dokumentieren. Wer Felder wie „ohne Befund“, „keine besonderen Vorkommnisse“ oder „dokumentierte Blutdruckwerte“ nur anklicken muss, gewinnt im Gegensatz zur schriftlichen Variante vermutlich Zeit. Auch Gewicht und Ladekapazität der Laptops sind im Mediziner-Alltag relevant. Wer dauernd mit dem Computer unterwegs sein soll, will keine schweren Geräte schleppen. Und er will sich nicht um den laufenden Betrieb sorgen müssen. Selbst mit zwei Akkus lässt sich ein Laptop nur sechs bis sieben Stunden betreiben, Arztschichten dauern häufig doppelt so lange. Es muss also genügend Aufladestationen geben. Darüber hinaus ist es für Mediziner-Hardware wichtig, dass Displays und Tastaturen desinfizierbar sind.

Für Microsoft und Intel ist die Asklepios-Klinik Barmbek mehr als ein praktisches Experimentierfeld. Jens Dommel sieht in dem Projekt die Chance auf einen künftigen Exportschlager, made in Germany: „Wir wollen zeigen, was man mit Standard-Produkten im Gesundheitssektor alles leisten kann“, sagt er. „Denn die Technik kann durch Harmonisierung und Standardisierung Kosten senken, Produktivität steigern, Fehlerraten reduzieren und die Innovationsgeschwindigkeit steigern.“

Auch Intel-Manager Christian Ganz hat – ausgehend von Barmbek – eine Vision: eine voll digitalisierte Patientenplattform, die sich von überall auf der Welt abrufen lässt. Eine Art Google für Ärzte. „Es ist doch nicht einzusehen, dass ich in irgendwelchen Dörfern in Georgia jederzeit Geld abheben kann, aber wenn ich in der Nachbarstadt auf einer Bananenschale ausrutsche, weiß das nächstgelegene Krankenhaus nicht, dass ich Bluter bin und keine blutverdünnenden Medikamente bekommen darf.“

Das Arzt-Portal, das ihm vorschwebt, soll über einen verschlüsselten Zugang jedem teilnehmenden Mediziner den Zugriff auf Patientendaten erleichtern, relevante Informationen bündeln, Doppeluntersuchungen verhindern helfen und Therapievorschläge machen. Zudem könnte es helfen, die bislang zumeist isolierten Stationen Arztpraxis, Krankenhaus und Rehabilitation enger miteinander zu verknüpfen. Bis 2007 soll zumindest der elektronische Datentransfer zwischen Barmbek und rund 200 umliegenden Arztpraxen möglich sein. Dann können die niedergelassenen Mediziner ihre Patienten online anmelden und auch gleich alle relevanten Befunde mitschicken.

Auch das erleichtert das Leben des Mediziners. Aber was ist eigentlich mit der Person, um die sich in einer Klinik alles dreht, dem Patienten? Findet der es bedrohlich, wenn der Arzt während der mobilen Visite mit dem Laptop zu ihm ans Krankenbett tritt? Wenn er jederzeit über ein RFID-Armband geortet werden kann? Wenn Blutkonserven mit Mini-Sensoren ausgestattet sind, die piepen, wenn sie sich dem falschen Patienten nähern? Einige sicher. Aber vor der ersten Dampflok haben sich die Menschen auch gefürchtet.


Dieser Text stammt aus unserer Redaktion Corporate Publishing.