Mutter!

Schön, dass es die moderne Technik gibt. Denn sie kann unsere größten Wünsche erfüllen.




Mutter hieß die Dame, aus der heraus ich an das Licht der Welt krabbelte. Sie war eine gute Maschine, Konvergenz pur: Sie transportierte, ernährte, wärmte, beschäftigte und schützte mich rund um die Uhr. Als ich sie verließ (eigentlich nur für wenige Minuten, um zu sehen, was draußen los war, aber sie ließ mich nicht wieder rein), begann der Ärger. Es war ein zäher, gradueller Prozess. Zuerst fiel Mutters 24-Stunden-Bereitschaftsmodus aus, dann häuften sich die Fehlermeldungen in ihrem Multifunktionsmenü, und schließlich war auch die Sprachausgabe defekt. Ich bekam Sätze zu hören wie: „Das kannst du allein, du bist alt genug.“ Oder: „Deine Wäsche kannst du selber waschen, du bist doch erwachsen.“ Und sogar: „Willst du dir nicht mal eine eigene Wohnung suchen?“ Ohne Gebrauchsanweisung und Schutzprogramme war ich dem Virus, der Mutter befallen hatte, wehrlos ausgeliefert. Deshalb verließ ich sie. (Nachdem sie das Schloss an der Wohnungstür ausgetauscht hatte. Ein traumatisches Erlebnis, wie damals, als ich aus ihr herausgekrochen war. Es ist ein Wunder, dass meine geistige Gesundheit nicht gelitten hat.)

Die folgenden Jahre waren hart, speziell für einen Menschen wie mich, einen mit Visionen. Ich träumte von Ordnung, Einfachheit und Schönheit (genau genommen träumte ich von einem Stuhl, den ich als Kind in einem Comic-Heft gesehen hatte, in den ein Fernseher, ein Radio, eine Leselampe und eine Minibar integriert waren und den man nie mehr verlassen musste), aber die Welt war für meine Ideen noch nicht reif (und der verdammte Stuhl wurde nie gebaut). Doch irgendwann spürte ich, dass sich etwas veränderte. Menschen wie ich hatten das Schicksal der Welt in die Hand genommen und etwas produziert, das ein Schritt in die richtige Richtung war: einen Computer. Ja, ich gebe zu, dass auch ich anfangs Zweifel hatte: Ein zuerst noch winziger Bildschirm, eine klapprige Tastatur und ein riesiger Kasten, der jedes Mal ärgerlich summte, wenn ich etwas von ihm wollte – konnte das wirklich Mutter ersetzen? Aber ich hatte keine Wahl (meine Klage war abgewiesen worden, Mutter war als Hauptmieterin nicht verpflichtet, mich in unsere Wohnung wieder aufzunehmen), und ich begriff schnell, was ein Computer bedeutete: eine Beschäftigung. 

Viel ließ sich mit den Maschinen anfangs noch nicht machen, aber zusammenbrechen konnten sie schon gut, und ich lernte zügig, die Schäden zu beheben. Bald fragten mich andere um Rat, und als ich für meine Hilfe Geld bekam, hatte ich plötzlich einen Beruf. (Das Jurastudium, das ich vor allem für Mutter begonnen hatte, brach ich ab, nicht zuletzt, weil ich bis dahin jeden Prozess gegen sie verloren hatte.)

Ich lernte, Programme zu schreiben, Netzwerke zu installieren und hatte eine E-Mail-Adresse, bevor es jemanden gab, dem ich eine E-Mail schreiben konnte. Dann kam das Internet, und ich wurde Mitglied in vielen Newsgroups, in denen sich vernünftige Menschen über wichtige Themen wie den Stasi-Schatz und das WeltIonisierungs-Programm austauschen. Meine aufwändigen und originellen Websites wurden mehrfach prämiert (auch wenn jene elende Affäre um www.Mutter-will-die-Weltherrschaft.de meine Karriere etwas zurückwarf, aber ich möchte hier noch einmal betonen, dass wir Netizens die Einschränkung unserer Freiheit nicht hinnehmen werden und es für uns bedeutungslos ist, dass Mutter den Prozess in allen Instanzen gewonnen hat), doch ich blieb bescheiden und arbeitete weiter am Fortschritt.

Das Schönste, was der Mensch erfunden hat

Die Mikrochips wurden immer kleiner und die Maschinen immer leistungsfähiger. Ich erinnere mich noch an meine Zahnbürste mit eingebautem Radio, so praktisch, das Radio spielte nur, wenn man bürstete (ich habe mir nie wieder so oft die Zähne geputzt). Mein Kugelschreiber mit eingebauter Taschenlampe sorgte dafür, dass ich endlich auch im Kino die Einfälle meines nimmermüden Hirns aufschreiben konnte (einige Leute fühlten sich davon gestört, aber ich habe den Prozess gewonnen und ein sattes Schmerzensgeld bekommen – das hat man davon, wenn man ein Genie verprügelt!). Ich kaufte mir eine Uhr, die meinen Puls messen konnte, und wenn ich vorher einige Minuten das eingebaute Computer-Game gespielt hatte, war der Puls viel höher – so lehrte mich die Technik auch immer etwas über mich selbst (nur was?). Aber das alles war nichts verglichen mit dem Schönsten, das der Mensch je erfunden hat: dem Handy.

Meines wiegt nur 35 Gramm und ist so klein, dass man es nicht bedienen kann, wenn mal die Spracheingabe ausfällt. (Oder wenn es ein Hund verschluckt hat, aber nach zwei Tagen war es wieder da, praktisch unversehrt, nur dass man es nicht mit Wasser reinigen darf, das war etwas unangenehm.) Trotzdem verbindet es mich mit allem, was für mich wichtig ist (außer mit Mutter, sie will mir ihre Geheimnummer nicht geben). Es informiert mich über die Situation in meinem Bluetooth-Haushalt, der aber auch gut ohne mich auskommt: Der Kühlschrank hat seine festen Einkaufslisten, der Herd weiß, wann er was zu kochen hat, und der Mülleimer kümmert sich um die Entsorgung, falls ich nicht zu Hause bin. Es hält Kontakt zu meinem Home-Entertainment-Center mit den 6000 Fernsehkanälen, das automatisch alle Sendungen aufzeichnet, die für mich interessant sein können, es hat 10.000 Stunden Speicherkapazität, von denen erst 15 Prozent verbraucht sind. Und es kommuniziert mit meiner individualisierten Suchmaschine, die Tag und Nacht das Internet auf der Suche nach wichtigen Informationen durchstreift, die Daten nach Priorität sortiert und das Material der Stufe eins sofort an mein Handy schickt, das es umgehend zur Endlagerung an den Kühlschrank weiterleitet, dessen Rechnerkapazität sonst nicht ausgelastet wäre, obwohl er inzwischen auch das Licht und die Heizung regelt (das muss ich übrigens ändern).

Es gibt nur eine Maschine, die mich noch glücklicher macht: mein Auto. Es ist ein Computer auf Rädern, es transportiert, wärmt, schützt und beschäftigt mich – würde es mich auch noch ernähren, würde ich es nie wieder verlassen (nicht mal für ein paar Minuten, so einen Fehler macht man nicht zweimal). Immer wenn ich zu Hause angekommen bin, zögere ich auszusteigen. Im Auto ist es so schön warm (in meiner Wohnung ist es immer etwas zu kalt, seit der Kühlschrank die Heizung reguliert). Insekten zerschellen an den getönten Scheiben, doch der Wagen ist gut isoliert, und so kann ich ihre Schreie nicht hören. Ich höre überhaupt nichts außer der sanften GPS-Stimme, die alle 45 Sekunden sagt: „Sie sind angekommen, bitte steigen Sie aus.“ Und ich denke: Das stimmt, ich bin angekommen. Warum also sollte ich aussteigen?

Ein gewagter Plan

Ja, mein Leben war fast perfekt. Bis ich letzte Woche im Stau stecken blieb. Das ist eigentlich nicht schlimm, mein Auto ist dafür ausgerüstet, es hat ein eingebautes Entertainment-Center, das in direktem Kontakt zum Entertainment-Center in meiner Wohnung steht, und so sehe ich Filme und Features, während ich darauf warte, dass es weitergeht, oder hoffe, dass der Stau für immer bleibt. (Ein Kollege hat mich mal gefragt, warum ich einen Fernseher im Auto habe, also habe ich ihm erklärt, dass ein Multitasker wie ich mit Unsinn wie Hörbüchern in einem Stau komplett unterfordert ist; er hat mich angesehen und gesagt: „Multitasker? Du?“, eine Woche später war sein E-Mail-Account von Viren überflutet, aber ich hatte damit nichts zu tun, das war der Fluch des bösen Wortes.)

Ich saß also in meinem Wagen, draußen war es dunkel, es nieselte, ich konnte nichts sehen außer den roten Rücklichtern vor mir, als jemand an mein Seitenfenster klopfte. Ich dachte sofort an einen entflohenen Psychopathen, der mich mit einer Axt zerhacken würde (in allen Newsgroups über urbane Legenden kann man erfahren, dass die Geschichten über Spinnen in Yuccapalmen oder einarmige Serienmörder durchaus keine Legenden sind, sondern echte Erfahrungen). Aber es war nur eine Frau. Sie war nass und etwas aufgelöst, ihr Wagen stand auf dem Seitenstreifen. Ob ich ihr helfen könnte? Natürlich versuchte ich sie abzuwimmeln, am Ende entschied ich mich dann aber doch, sie einsteigen zu lassen. Wir hatten gerade erst einige Sätze gesprochen, als sich mein Entertainment-Center einschaltete (das tut es automatisch im Stau) und fragte, was für einen Film ich sehen wollte. Die Frau bat, ihn aussuchen zu dürfen, und so sahen wir „Schlaflos in Seattle“. Ich musste weinen, es war sehr erniedrigend, aber es führte dazu, dass mich die Frau tröstete, und als wir uns wieder angezogen hatten, waren auf der Straße keine Autos mehr zu sehen.

Andrea ist eine Woche später zu mir gezogen. Sie ist 35 und hat eine biologische Uhr, die tickt. Ich finde das sehr interessant, auch wenn ich mich bisher nicht für Biologie interessiert habe. Einige Zeit habe ich mir überlegt, ob Andrea Mutter ersetzen könnte (ich habe sogar Mutter gefragt, sie hat geantwortet, man müsste mich entmündigen, nur schade, dass sie das gerade nicht kann, weil sie mit ihrem dritten Mann auf Weltreise ist, seit sie vor zwei Jahren im Lotto gewonnen hat), aber Andrea ist eigenwillig, sie spricht von Kindern, und ich will keine Geschwister. Inzwischen ist jedoch ein Plan in mir herangereift. Ich habe noch niemandem davon erzählt, und er ist gewagt, aber so ist das, wenn man wie ich immer ganz vorne ist. Ich brauche dafür lediglich eine Blutprobe von Mutter (sie ist gerade in Neuseeland, das ist ein Problem), aus der ich genug DNS isolieren kann, um einen Fötus zu bilden, den Andrea austragen kann. Das würde uns beiden helfen: Sie wäre schwanger. Und ich hätte Mutter geklont. Ach ja, ich vergaß zu erwähnen: Ich beschäftige mich jetzt mit Gentechnik.


Dieser Text stammt aus unserer Redaktion Corporate Publishing.