Wenige machen mehr

Kombination. Expertise in einem Fachgebiet ist hilfreich und kann die Welt verändern. Die Chance dazu ist jedoch größer, wenn man Fragen in einen neuen Kontext bringt oder Antworten in fremden Bereichen sucht.
Im Santa Fe Institute im US-Staat New Mexico passiert genau das: Couragierte Wissenschaftler unterschiedlicher Fachrichtungen suchen gemeinsam nach neuen Antworten auf alte, komplexe Fragen. Ein Besuch vor Ort.




Als Geoffrey West Anfang 50 war, begann er, sich mit seinem Ende zu beschäftigen. Der Physiker beobachtete, wie sein Körper alterte, und plötzlich wurde ihm bewusst, dass auch er sterben wird. West wurde neugierig, wie sein Körper funktioniert, und formulierte die biologische Frage, warum wir sterben müssen, entsprechend seiner physikalischen Denke um: Warum ist der Rahmen menschlichen Lebens eigentlich auf rund 100 Jahre beschränkt?

Die Lebenserwartung ist genetisch bedingt, las West in diversen Biologiebüchern, die er – unzufrieden mit der Antwort – wieder zur Seite legte. West wollte mehr. Er wollte wissen, ob sich die Lebensdauer errechnen lässt. Die Frage ließ ihn nicht los, also begann er, mit den Biologen James Brown und Brian Enquist zusammenzuarbeiten. Gemeinsam analysierten sie die biologischen Skalengesetze, nach denen gilt: Je größer ein Tier, desto weniger Energie verbraucht es pro Gramm Körpergewicht. Ein Elch, der 200 Kilogramm wiegt, ist 10.000-mal schwerer als eine Maus, die 20 Gramm auf die Waage bringt, aber der Hirsch frisst nur 1000-mal mehr als der Nager. West lernte, dass der Grund für die Abweichung in der jeweiligen metabolischen Rate, dem Stoffwechsel der Tiere liegt: Das Herz des Elchs schlägt bedeutend langsamer, er verbraucht seine Energie weniger schnell als die Maus.

Der Physiker war zufrieden – für den Anfang. Er hatte die fundamentalen Daten, die er für seine Kalkulation brauchte und verarbeitete sie in einer Formel, mit der sich die Lebenserwartung ausrechnen lässt. Was sie aussagt? „Dass jedes Lebewesen in etwa dieselbe Gesamtanzahl von Herzschlägen in seinem Leben hat“, sagt West. Bei der kleinen Maus mit hohem Puls seien sie schnell aufgebraucht. Der größere Hirsch hätte dank seines langsameren Herzschlages länger zu leben. Bei einem riesigen Wal, dessen Blut in noch gemächlicherem Tempo durch den Körper fließt, sei die Lebenserwartung noch höher. „Ein mathematischer Zusammenhang, den bis dahin kein Biologe in eine Formel gegossen hatte“, sagt West. „Forscher aus nur einem Bereich hätten das auch nicht zu Stande gebracht. Die Formel war nur möglich, weil die Disziplinen Biologie und Physik zusammengearbeitet haben.“

Eine gewöhnliche Geschichte aus einem ungewöhnlichen Institut. Geoffrey West leitet das Santa Fe Institute im US-Bundesstaat New Mexico. Hier ist das Zusammenspiel unterschiedlicher Wissenschaften Alltag. Zur Fakultät der privaten Einrichtung gehören neben Physikern, Biologen und Chemikern auch Wirtschaftswissenschaftler, Historiker, Soziologen, Philosophen, Sprachwissenschaftler und Anthropologen. Und auch das ist nur eine Auswahl der bunten Akademiker-Mischung, die nicht nebeneinander, sondern miteinander arbeitet.

Das Santa Fe Institute (SFI) sieht sich nicht als klassische Forschungsstätte. Es will Botschafter einer neuen Sichtweise von Wissenschaft sein, in der traditionelle disziplinäre Schranken überschritten werden. Der Experte in einer Disziplin, davon sind sie hier überzeugt, kann so gut sein, wie er will. Er wird niemals leisten können, was die Vertreter aus unterschiedlichen Fachrichtungen gemeinsam zu Stande bringen. Weil nur die Kombination etwas Neues möglich macht: „Wir müssen alte Verbindungen brechen und neue herstellen, Fragen in einen fremden Kontext bringen und Antworten in anderen Bereichen suchen“, sagt SFI-Direktor Geoffrey West. „Forscher aus verschiedenen Disziplinen haben verschiedene Techniken, verschiedene Arbeitsweisen und unterschiedliche Denkansätze. Wenn man sie zusammenbringt, ist der Fortschritt meist groß.“

Was hat das Immunsystem mit Finanzmärkten zu tun?

Struktur und Dynamik komplexer Systeme stehen im Zentrum der Forschung am Institut, das als Hochburg der Komplexitätsforschung gilt. In diesem relativ jungen Zweig der Wissenschaften geht man davon aus, dass das Verhalten sehr unterschiedlicher Systeme, von Finanzmärkten bis hin zum Immunsystem, auf gemeinsamen, einfachen Grundprinzipien beruht. Das beginnt schon bei der Struktur: So wie das Gehirn ein Netzwerk aus Nervenzellen ist, sind Organisationen Netzwerke aus Menschen. Die globale Wirtschaft ist eine Verknüpfung nationaler Ökonomien, die ihrerseits eine Vernetzung von Märkten sind. Krankheiten und Gerüchte werden über soziale Netze übertragen, Computerviren über das Internet verbreitet. Ökosysteme lassen sich in einem Netzwerk darstellen, genau wie Beziehungen zwischen Wörtern in einer Sprache oder Themen in einem Gespräch. Energie wird sowohl im menschlichen Körper durch ein System komplexer Verbindungen verteilt als auch in Infrastrukturen, die Menschen gebaut haben.

Was aber können wir daraus lernen? Welche Gemeinsamkeiten gibt es beispielsweise zwischen den Berechnungsvorgängen im Computer und im Gehirn? Wie schlägt sich die Evolution in Wirtschaftssystemen nieder? Wo gibt es Ähnlichkeiten zur Biologie? Aus Sicht der Forscher in New Mexico führt die Allgegenwart von Netzwerken in Wissenschaft und Technologie zu einer Vielzahl von Phänomenen, denen man nur gemeinsam auf die Spur kommen kann. Wer in die Forschergemeinschaft am SFI aufgenommen werden will, muss deshalb bereit sein, mit den Kollegen nach Antworten auf eine Reihe von Fragen zu suchen.

Wie verbreiten sich Fehler in einem System? Was irritiert das riesige Elektrizitätsversorgungsnetz und was den weltweiten Aktiemarkt? Gibt es Ähnlichkeiten und Übertragbarkeiten zwischen den Systemen? Welches ist die effizienteste und stabilste Architektur von Organismen oder Organisationen, die auf einem Netzwerk basieren? Lassen sich aus der Interaktion im Immunsystem tatsächlich Hinweise auf die Vorhersehbarkeit von Krisen auf den Finanzmärkten ziehen? Welche Strategien aus physikalischen und biologischen Netzwerken kann man auf Computer-Netze übertragen, um sie stabiler und damit resistenter gegenüber externen Störungen zu machen? Störanfälligkeit und Robustheit sind wichtige Themen am SFI – und mit ihnen auch das Thema Innovationen.

„Denn Innovationen sind das Gegenteil von Robustheit“, sagt David Krakauer. Der Brite mit akademischen Titeln in den Bereichen Biologie, Mathematik und Informatik ist Fakultätsmitglied und Co-Leiter des SFI-Innovationsprogramms. Auch hier treffen sich Wissenschaftler verschiedener Disziplinen, um der Frage nachzugehen, wie das Neue in die Welt kommt. Und auch hier steht oft nicht nur das Neue im Zentrum der Überlegungen, sondern das Bekannte. „Wir wollen Strukturen erkennen, Zusammenhänge begreifen, Erkenntnisse in plausible Modelle fassen“, sagt Krakauer, „und sie auf neue Bereiche übertragen.“ Das Ergebnis all dessen ist dann mitunter eine Innovation. Sie war aber nicht das Ziel.

Nicht die Person schreibt Geschichte – sondern die Gruppe

Tatsächlich machen sich Krakauer und seine Kollegen daran, ganze Kapitel aus tradierten Forschungsgebieten neu zu schreiben. „Die Physik war die Wissenschaft des 19. und 20. Jahrhunderts“, sagt SFI-Chef Geoffrey West, „die Biologie ist die Wissenschaft des 21. Jahrhunderts.“ Sie wird der Gesellschaft in Zukunft notwendige Weichenstellungen ermöglichen, allerdings nur, wenn es gelingt, aus der Biologie eine ordentliche Wissenschaft zu machen. Das ist sie aus Wests Sicht bislang nicht. Ihr fehlt der enge Bezug zur Mathematik, sie müsste messbar, quantifizierbar und voraussagbar sein. Kurzum: Sie braucht die Kombination mit den klassisch-naturwissenschaftlichen Disziplinen.

Folglich braucht sie auch eine Vielzahl von Personen, die sich zusammentun, um ihr individuelles Know-how zu neuem Wissen werden zu lassen. Nur das gemischte Team, meint David Krakauer, könne leisten, was am Ende eine Innovation ausmacht: die Kombination aus bereits Existierendem. Der Einzelne, auch wenn das dem idealen Forscherbild widerspricht, würde so gut wie nie eine Idee oder eine Theorie im Vakuum ersinnen. „Nicht die Person schreibt Geschichte, sondern die Gruppe“, sagt Krakauer. Das sei zwar weniger romantisch, entspreche aber eher der Wahrheit.

Genau diese Wahrheit will sich das Santa Fe Institute zunutze machen, an einem Ort, der bestens dafür geeignet scheint. In der 65.000-Einwohner-Stadt mitten im „Land of Enchantment“, dem Land der Verzauberung, wie es auf den Autokennzeichen heißt, treffen vier Kulturen aufeinander. Urbevölkerung, Mexikaner, Weiße und Indianer. Eine bunte Gesellschaft. Im Gebiet um Santa Fe gibt es nicht nur die meisten Blitzeinschläge innerhalb der USA, sondern auch die weltweit höchste Akademikerdichte pro Quadratmeile. Viel Energie. Sie konzentriert sich zumeist in den Laboratorien von Los Alamos, wo einst die erste Atombombe entwickelt wurde.

Die räumliche Nähe zum SFI ist kein Zufall: Die Hochburg der interdisziplinären Forschung ging 1984 aus einer Reihe von Veranstaltungen in Los Alamos hervor. Zum Gründungskomitee zählten vor allem Physiker, darunter die Nobelpreisträger Murray Gell-Mann (Teilchenphysik) und Philip Anderson (Festkörperphysik). Wissenschaftler, die in ihrer Disziplin viel erreicht hatten – genug, um sich einen Blick über den Tellerrand leisten zu können. Das ist wichtig, ja sogar notwendige Bedingung, meint SFI-Leiter Geoffrey West. Denn wer sich in der weltweiten Forschungsgemeinde für Fragestellungen außerhalb seines Fachgebiets interessiert, riskiert seine Reputation, macht sich zumindest verdächtig. „Die Neugier wird gern mit Misstrauen bestraft. Die Kollegen glauben dann, dass man sich für sein Fach nicht mehr ernsthaft genug interessiere“, sagt West. Gerade deshalb sei es wichtig, einen Ort zu haben, an dem der interdisziplinäre Ansatz nicht verurteilt, sondern gefördert werde.

Das Santa Fe Institute nimmt nur Wissenschaftler auf, die in ihrer Disziplin schon alles erreicht haben. Weil nur sie sich üblicherweise getrauen, auch vermeintlich dumme Ideen zu verfolgen. Risikofreudig, nennt West die Grundhaltung: „Man braucht eine Institution, in der man den besten Wissenschaftlern der Welt die Gelegenheit gibt, zu tun, was sie wollen. Und man muss ihnen sagen: Folgt eurer Nase, wenn ihr eine Idee habt, wir werden euch unterstützen.“

Studieren ist gut, Reden ist besser

Freiheit in der Forschung zieht sich als Grundprinzip durch alles, was in New Mexico passiert, die Idee ist allgegenwärtig, auch Lage und Architektur des Instituts sind mit Bedacht gewählt. Oberhalb des Stadtzentrums auf einem sanften Hügel gelegen, umgeben von Weite und sattem Grün, reicht der Blick bei gutem Wetter fast bis zum 40 Kilometer entfernten Los Alamos. Im Gebäude gibt es „Caves & Common Areas“, Höhlen und Gemeinschaftsbereiche, auch sie unterstreichen, worum es hier geht. Jeder Forscher hat ein winziges Zimmer, manchmal nicht mehr als vier oder fünf Quadratmeter groß. Die Gemeinschaftsbereiche sind riesig: lichtdurchflutete offene Flächen auf mehreren Ebenen, verbunden durch kleine Treppen – wie Wasserfälle, die einen Strom durch unebenes Land fließen lassen. Architektur mit Botschaft: Das Studium in Abgeschiedenheit ist möglich. Sinnvoller und gewünscht ist der Austausch mit Kollegen. „Der herausragende Forscher, der den ganzen Tag in seinem Büro sitzt, bringt uns gar nichts, selbst wenn er einen Nobelpreis sein Eigen nennt“, sagt West. „Wir brauchen Leute, die an fundamentalen Problemen interessiert sind, Menschen mit Leidenschaft für ein größeres Ganzes.“

Wer sich persönlich weiterentwickeln will, und das will jeder am Institut, muss seine Zeit dort gut nutzen. Post-Doktoranden werden für zwei Jahre angestellt, für die vier oder fünf Plätze bewerben sich regelmäßig 250 bis 300 junge Akademiker. Forscher werden in der Regel für drei Jahre berufen. Sie können diese Frist auf maximal sechs Jahre ausdehnen, danach sind neue Leute mit neuen Ideen gefragt – in New Mexico soll Wissen wachsen und nicht die Abteilung, die sich irgendwann nur noch um sich selbst dreht.

Es gibt wohl keine institutionelle Forschungsgemeinschaft in der Welt, die nicht ähnliche Ziele verfolgt wie das SFI. Keinen Institutsleiter, der die Kraft des gemischten Teams negieren würde, keine Universität, die sich nicht auch als interdisziplinär versteht. Und doch gibt es weltweit wohl nur wenige Einrichtungen, in denen Wissen so ungehindert fließt wie in Santa Fe. Bereichsgrenzen aufzubrechen ist ungeheuer schwierig, das gilt für die Wissenschaft wie für die Industrie. In Santa Fe hat man sie deshalb erst gar nicht entstehen lassen – und setzt alles daran, dass das auch so bleibt. Die neuen Kollegen kämen oft mit einem ganz bestimmten Ziel, erzählt Geoffrey West, einer Fragestellung, die auch für das Institut durchaus spannend sei. „Kaum sind sie dann da, arbeiten sie an etwas ganz anderem.“ Kein Problem am SFI.

Die Mehrzahl der Fakultätsmitglieder ist ohnehin nur virtuell an die Institution angebunden, auch das soll die Flexibilität erhöhen und den Horizont aller Forscher erweitern. Nur 35 Wissenschaftler arbeiten das ganze Jahr vor Ort, 80 Kollegen zählen zur externen Fakultät. Sie sind an einzelnen Projekten beteiligt oder nehmen an Workshops teil, von denen das Institut rund 25 im Jahr anbietet. Auch aus diesen Diskussionen entwickeln sich häufig neue Forschungsideen, weil jede unerwartete Frage einen wichtigen Impuls liefern kann. Um den Input zu verstärken, werden deshalb bewusst fremde Themen aufgegriffen, Spezialisten für die jeweiligen Bereiche identifiziert und als Forscher ins SFI eingeladen. „Das sichert uns einen ständigen Strom an Ideen und hält uns an der Spitze der Forschung“, meint West.

Damit das so bleibt, will das Institut seine finanzielle Unabhängigkeit so weit wie möglich wahren. Nur ein Drittel des Programms wird mit öffentlichen Geldern finanziert, der Rest stammt aus privaten Quellen – nahezu ohne Bedingung. Ein enormer Vorteil, wie der Institutsleiter findet: „Bei der staatlichen Forschung gilt es, Ergebnisse zu liefern, sich an Zeitvorgaben zu halten. Das ist verrückt, denn der Weg von der Frage bis zur Erkenntnis kann lang und steinig sein.“

Wer gut ist, soll anderswo besser werden

Eric Smith, Fakultätsmitglied am SFI, hat oft beobachtet, wie gute Ideen in der Praxis verloren gingen. Weil die nötige Geduld fehlte oder der dauerhafte Glaube ans Ziel. „Im Konzern werden Projekte häufig mit viel Geld gestartet und 18 Monate später, unabhängig von den bis dahin erzielten Ergebnissen, wieder beendet, weil sich die Prioritäten auf der Verwaltungsebene geändert haben.“ Bevor der Physiker nach Santa Fe kam, führte er zehn Jahre lang ein Doppelleben. Tagsüber forschte er für die Wirtschaft („Jobs, die mich ernährten“), morgens und abends arbeitete er an privaten Projekten („meine wirkliche Arbeit“). Seine Veröffentlichungen über selbstorganisierende Systeme in der Physik fanden Aufmerksamkeit, deshalb kam Smith vor fünf Jahren ans SFI. Eine Offenbarung, nennt er alles, was seitdem passierte. Endlich konnte er tagsüber seiner richtigen Arbeit nachgehen. Ohne Zeitdruck. Am Institut gibt es keine Vorlesungen, die Fakultätsmitglieder haben kaum Lehraufträge. Ein Zeitgewinn, den die Forscher nicht nutzen, um besser zu werden, wo sie sowieso schon gut sind“, sagt Smith, „er hilft ihnen vielmehr, etwas Neues zu lernen.“

In Smiths kleinem Büro stapeln sich dicke Lehrbücher. Er ist an evolutionärer Biologie interessiert, an genetischer Prägung, er beschäftigt sich mit Philosophie und mit Computertheorien. Ein bis zwei Stunden am Tag diskutiert er mit Kollegen. „Die Literatur muss mit Gesprächen verbunden werden. Sie helfen, eine Vorstellung davon zu bekommen, wo man beim Lesen seine Schwerpunkte setzen sollte.“

Den Großteil seiner Zeit verbringt der Physiker mit dem Studium der Biochemie. Als er vor rund fünf Jahren damit begann, fragte er sich, ob seine Funde aus der Physik helfen könnten, die Frage nach der Entstehung des Lebens zu beantworten. Ist es tatsächlich zufällig entstanden, wie die herkömmliche Lehrmeinung besagt, oder vielmehr das zwangsläufige Resultat einer Entwicklung, die von Zufällen unabhängig ist? Smith las unzählige Biochemie-Bücher und traf über das SFI-Netzwerk einen Biologen, der seit 40 Jahren Regelmäßigkeiten in der Biochemie gesammelt und untersucht hatte – im Glauben, dass sie nicht Resultat eines Zufalls sein konnten, sondern ihre Ursache in der fundamentalen Physik haben mussten. 2002 starteten die beiden Forscher ein gemeinsames Projekt, seit zwei Jahren unterstützt sie eine Chemikerin. Einen Monat pro Jahr treffen sich die drei Kollegen im SFI, um intensiv an dem Projekt zu arbeiten. Daneben tauschen sie sich per E-Mail oder am Telefon aus, bislang noch ohne konkretes Ergebnis. Die größte Chance der Teamarbeit? „Nicht unbedingt direkt die richtige Antwort zu finden, aber endlich die richtige Frage zu stellen“, sagt Smith. Die größte Schwierigkeit? „Sich zu verstehen und ein gemeinsames Vokabular zu finden.“

Eine Herausforderung, die Smith in der Arbeit mit allen Disziplinen sieht. Auf Wirtschaftskonferenzen hätten seine Fragen die anwesenden Fachleute jahrelang stets hochgradig irritiert. „Das ganze Plenum stimmt schweigend zu, du machst eine ungewöhnliche Bemerkung – und fühlst dich sofort als unangenehmer Störenfried.“ Deshalb sei es so wichtig zu lernen, Fragen zu stellen, die der andere nicht nur versteht, sondern die ihn aus seinem bisherigen Referenzrahmen ziehen und in den Bereich locken, den man selbst für spannend hält. Eine Fähigkeit, die Smith inzwischen beherrscht, vor allem im Umgang mit Wirtschaftswissenschaftlern.

Das ist nicht unwichtig, denn ökonomische Fragestellungen bilden einen Schwerpunkt des Instituts. Und das schon seit Gründung des SFI. Dessen erste größere Veranstaltung, der Workshop „The Economy as an Evolving Complex System“, brachte 1988 Physiker und Ökonomen zusammen und ist eine der Wurzeln der Disziplin, die man heute Econophysics nennt. Sie untersucht, wie Methoden der Physik zum Verständnis ökonomischer Probleme beitragen können, etwa bei der Frage, ob sich wirtschaftliche Krisen voraussagen lassen. Der Austausch zwischen Wissenschaft und Wirtschaft hat sich verstärkt, seit das Institut 1992 sein Business Network gründete, bei dem Unternehmen für einen Jahresbeitrag von 35.000 Dollar Mitglied werden können.

Santa Fe will Anregungen und keine Lösungen geben

Die Beiträge finanzieren das Institut, das SFI bietet im Gegenzug Management-Workshops an. In den Veranstaltungen zu Themen wie „Komplexe adaptive Systeme und das Verhalten in sozialen Netzwerken“, „Auf der Suche nach Innovationen“ oder „Computer Sicherheit“ geht es weniger um praktische Verbesserungsvorschläge für die Industrie. Die Kurse sollen die Teilnehmer aus dem Management vor allem mit neuen Denkweisen vertraut machen. „Das SFI will Impulse geben, aber kein Think Tank sein, der konkrete Lösungen für die Praxis präsentiert“, macht Direktor Geoffrey West klar. Ob die Wissenschaftler des SFI an der Realität vorbei forschen? „Ganz und gar nicht, ich glaube, was wir tun, ist wichtiger: Wir bieten der Welt einen ganz neuen Blick auf die Realität.“

Sein Forschungsprojekt „Lebenserwartung“, das er mit Anfang 50 auf den Weg gebracht habe, meint West, sei ein gutes Beispiel dafür. Nachdem er sich mit den Skalengesetzen der Biologie beschäftigt hatte, sei die Sache weitergegangen, sagt West. Er habe sich neue Fragen gestellt: Gibt es ähnliche Phänomene in den Sozialwissenschaften? Wie verhält es sich mit Größe und Effizienz bei Städten oder Unternehmen? Wie hängt beispielsweise der Energieverbrauch einer Stadt, die Anzahl ihrer Restaurants und Universitäten von der Bevölkerungsgröße ab?

West tat sich erneut mit Wissenschaftlern anderer Disziplinen zusammen. Diesmal waren die Kollegen keine Biologen, sondern ein Städteplaner und ein Archäologe aus Frankreich, ein Sozialökonom aus Italien und ein Logistiker aus Deutschland. Sie bereicherten die Diskussion mit riesigen empirische Datensammlungen, mit fundiertem geschichtlichem Wissen über das Wachstum von Dörfern und Städten, die Rolle von Innovationen früher und heute und die Entwicklung von Industrien in Cluster-Regionen. „Jeder brachte seine Sichtweise ein und seine spezifische Art, Phänomene zu betrachten“, sagt West. „Was fehlte, war ein theoretischer konzeptioneller Rahmen, der es erlaubt, in einer quantitativ vorausschauenden Art zu denken.“

Gemeinsam haben sie ihn schließlich gefunden. Das Ergebnis der Teamarbeit waren Skalengesetze, die sich deutlich von denen der Biologie unterscheiden. Bei Lebewesen wachsen von der Körpergröße abhängige Variablen mit dem mathematischen Exponenten „dreiviertel“, also kleiner als eins – bei Städten ist der Faktor größer als eins. Während der Energieverbrauch bei Lebewesen also im Verhältnis zur Körpergröße unterproportional wächst, nimmt er bei Städten mit wachsender Größe überproportional zu. „Je größer die Stadt, desto mehr Wohlstand generiert sie pro Einwohner – und umso mehr Energie verbraucht ein Individuum.“ Auch der zeitliche Verlauf des Wachstums unterscheidet sich von dem der Biologie: Bei Lebewesen nimmt die Körpergröße in der ersten Lebensphase schnell zu, ab einem bestimmten Zeitpunkt sind sie ausgewachsen. Anders die Stadt: Ihr Wachstum ist theoretisch unbegrenzt.

Die Konsequenz? Geoffrey West versteht sie als Mahnung an Wissenschaft, Gesellschaft und Unternehmen. Das unbegrenzte Wachstum von Städten erfordert unendliche Ressourcen. Eine Voraussetzung, die die Realität nicht erfüllt. Deshalb seien Entwicklungen, die uns ermöglichten, Energie effizienter zu nutzen, überlebenswichtig. „Der Abstand zwischen den Innovationszyklen muss kürzer werden“, sagt West. „Sonst werden die Städte kollabieren.“ Das ahnten wir schon. Dank dem SFI wissen wir es jetzt.


Dieser Text stammt aus unserer Redaktion Corporate Publishing.