Brett im Kopf

Ausdauer. Die besten Surfboards der Welt werden nicht in Australien, Kalifornien oder irgendeinem anderen Surfmekka gefertigt – sondern in Wolfsburg. Sie sind leichter, flexibler und robuster als alle Konkurrenzprodukte. Und das Resultat von 18 Jahren permanenter Entwicklungsarbeit. Die Geschichte der beiden unbeirrbaren Visionäre Sven und Rouven Brauers.




An Herbstnachmittagen wie diesen können die Wellen an der südfranzösischen Altantikküste bis zu 14 Meter hoch werden. Eigentlich genau das Richtige für einen leidenschaftlichen Surfer wie Rouven Brauers. Doch statt sich von der Brandung durchschütteln zu lassen, sitzt Brauers in Wolfsburg in einem Container aus Blech. Ein bedrucktes T-Shirt spannt sich über den muskulösen Oberkörper des 31-Jährigen, links neben ihm, an einem braun laminierten Tisch, raucht sein älterer Bruder Sven. Ringsum an den Wänden lehnen Surfboards, bei einigen hat die weiße Oberschicht Falten geworfen. Die Brüder werden ihre Formen einscannen und anschließend mit einer selbst entwickelten Technik leichtere, stabilere, flexiblere und umweltverträglichere Kopien dieser Boards bauen. Mühevolle Kleinarbeit, die sie mit Stolz erledigen. Denn die Besitzer der Bretter gehören zu den besten Surfern der Welt.

Dass ihre verknitterten Boards ausgerechnet hier, mitten in Niedersachsen, auf dem scharf bewachten Innovationscampus der Wolfsburg AG stehen, also fern ab von jeder Küste, ist der sichtbare Beweis: Der Traum der Brüder ist dabei, sich zu erfüllen. Ein Traum, dem die beiden Familienplanungen, Berufsausbildungen, finanzielle Sicherheiten untergeordnet haben. An dem sie festhielten, auch als Eltern und Freunde längst nicht mehr an ihn glaubten. Und der noch immer so unwirklich scheint, dass Sven Brauers sich im Container umschaut und sich duckt, wenn er sagt: „Ich denke, jetzt kann man sagen, wir haben es geschafft.“ Jetzt, nach 18 Jahren.

Die beiden wuchsen in Melle auf, einer westfälischen Kleinstadt, weit weg vom Meer. Bei einem Familienurlaub auf der dänischen Insel Bornholm hatten der damals 15-jährige Sven und sein zwei Jahre jüngerer Bruder Rouven das Wellenreiten für sich entdeckt. Das Problem nur: Auf den Baggerseen in Westfalen gibt es keine richtigen Wellen. Dafür im örtlichen Freibad. Sven und Rouven bettelten so lange beim Bademeister, bis er sie auch nach den offiziellen Öffnungszeiten ins Becken ließ. Ein bescheidenes Vergnügen, wie die beiden bald feststellten. Herkömmliche Surfboards waren nur für die großen Wellen an den Küsten vor Hawaii, Südfrankreich oder Australien konzipiert. Dass jemand auch auf der Nordsee oder gar im Schwimmbad Wellenreiten wollte, hatte kein Surfbretthersteller bis dahin bedacht. Die Bretter, die es zu kaufen gab, hatten zu wenig Tragfläche.

Also fingen die Brüder an, ihre eigenen Boards zu bauen. Sven und Rouven experimentierten mit Materialien aus dem Baumarkt, vor allem Holz und Styropor. Akribisch untersuchten sie die Fahreigenschaften ihrer Prototypen und studierten den Zusammenhang zwischen der Wölbung des Bretts und dessen Beweglichkeit. Rouven war es, der irgendwann feststellte: „Wenn man durch systematische Beobachtung Surfboards immer weiter optimieren kann, ist auch das perfekte Brett möglich.“ Und das, da war sich der Junge aus Westfalen ganz sicher, würde von ihm und seinem Bruder stammen.

Rouven begann eine Ausbildung als Einzelhandelskaufmann in der Zentrale der damals größten Kette für Surf-Bedarf, dem Surf-Löwen Funsport in Osnabrück. Tagsüber lernte er, wie das professionelle Surf-Geschäft funktioniert, in den Abendstunden feilte er an seinem Traum. In Südfrankreich bestellte er sich unbearbeitete Schaumstoff-Surfbrettkörper, so genannte Blanks, und bearbeitete sie in der alten Scheune seiner Eltern mit einem Hobel. Ähnlich wie ein Bildhauer einen Stein meißelt, so verkleinert, „shaped“, auch der Surfbretthersteller das unbearbeitete Blank – oft um 40 bis 50 Prozent. Rouvens Idee: breitere, weniger spitze Bretter, die schweren Nordeuropäern mehr Tagfläche für das Surfen auf kleinen Nord- und Ostseewellen boten. Seine erste echte Innovation. Er nannte sie Bufo.

Als Rouven Brauers seinen Zivildienst auf Sylt antrat, hatte er schon rund 200 Bufo-Boards verkauft, jedes einzelne in mühsamer neunstündiger Handarbeit gefertigt. In der damals noch kleinen deutschen Surfszene galten seine ungewöhnlich geformten Bretter bereits als Geheimtipp. Doch fern der kleinen Nordseebrandung, dort, wo die Wellen hoch und die besten Wellenreiter zu Hause waren, interessierte sich niemand dafür.

Ein Surf-Laie liefert den entscheidenden Hinweis

Ein Zufall sorgte – neben Rouvens beständiger Suche nach Verbesserungsvorschlägen – für den nächsten Entwicklungsschritt. Ein Kollege beim Zivildienst, der sich in seiner Freizeit mit Luft- und Raumfahrttechnik und mit Bionik befasste, der Wissenschaft, die versucht, Prinzipien aus der Natur auf technische Probleme zu übertragen, äußerte an den Bufo-Boards ernst zu nehmende Kritik. Rouven Brauers hatte ihm von der generellen Brüchigkeit eines Surfbretts erzählt – bei Wettkämpfen verbrauchen Profis manchmal pro Tag ein Board –, und der Kollege hatte das Sportgerät daraufhin genau inspiziert.

Wie alle Surfbretter hatte auch das Bufo-Board einen Körper aus Polyurethan-Kunststoff, eine stabilisierende Holzleiste in der Mitte und eine gehärtete, mit dem Körper verklebte Außenschicht. Die Analyse des Kollegen: Die Konstruktionsweise eines Surfboards ist von Grund auf falsch. Die Leiste in der Mitte ist überflüssig. Das Außenmaterial brüchig. Und der Kunststoff zu weich. Alles zusammen gibt dem Brett so wenig Spielraum, dass es unter Krafteinwirkung zwangsläufig zu einer Verformung des Innenmaterials kommen muss und zum Ablösen des Außenmantels. Sein Rat: „Orientiere dich an der Natur. Ein geknickter Grashalm findet immer wieder in seinen Urzustand zurück. Ein Bambusrohr ist zwar innen hohl, dank seiner Außenhaut aber extrem stabil.“

Die Folge dieser Analyse führt Sven Brauers heute per Video vor. Eine Strandszene in Holland, ein Motorradfahrer fährt mit Vollgas über eine Sprungschanze, die von einem der neuen Bufo-Boards gebildet wird. Jedes andere handelsübliche Surfbrett würde bei einer derartigen Belastung sofort zerbrechen. Dank seines speziellen Innenmaterials und einer bionischen Komposition aus Harzen für die äußere Beschichtung sind die heutigen Bufo-Boards nicht nur umweltverträglich hergestellt und im Schnitt um 30 Prozent leichter als die der Konkurrenz. Sie sind auch um ein Vielfaches robuster und flexibler.

Ähnlich wie bei einer Pflanze, wo das Verwachsen von Außenhaut und Innenleben Stabilität garantiert, ziehen sich auch beim Bufo-Board unzählige Fasern aus der Außenhülle des Bretts in den Innenraum. So hält das Brett selbst größten Belastungen stand – etwa wenn es unter meterhohen Wellen begraben wird oder auf dem Meeresgrund gegen Felsen stößt. Nach den breiten Brettern die zweite Innovation der Brüder. Es hatte Jahre gebraucht, bis es so weit war.

Nach seinem Zivildienst zog Rouven Brauers nach Den Haag, in die einzige Großstadt an der Nordsee mit einem surfbaren Strand. Während sein Bruder Sven in Hannover Design studierte, jobbte er als Bauarbeiter und Lkw-Fahrer – und surfte: vor der Arbeit, nach der Arbeit, an den Wochenenden. Er war so gut, dass er den lokalen Surfern auffiel. Und es sprach sich schnell herum, dass seine Virtuosität zwar mit Können, vor allem aber mit seinen besonders geformten Brettern zusammenhängen musste. Nur drei Monate nach seiner Ankunft in Den Haag gingen bei ihm so viele Bestellungen von breiten Bufo-Boards für schwache Nordseewellen ein, dass es zum Überleben reichte. Gemeinsam mit seinem Bruder fing Rouven Brauers an, sich mit Materialkunde, Luft- und Raumfahrtechnik zu beschäftigen – den Traum vom perfekten Surfbrett und den Tipp des ehemaligen Zivildienstkollegen immer im Hinterkopf.

Die Brüder sprachen mit Ingenieuren, Designern und Wissenschaftlern. Sie recherchierten im Internet und in Bibliotheken. Sie ließen sich von einem französischen Blank-Hersteller für verrückt erklären, als sie seine Surfbrettkörper ohne Holzleiste bestellten. Und immer wieder luden sie Freunde und Bekannte zu Testreihen mit ihren neuesten Prototypen ein. Meist mieteten sie dazu von ihrem Ersparten eine Wasserskianlage, notierten Gewicht und Schuhgröße der Testfahrer, die sie immer exakt dieselbe Strecke mit unterschiedlichen Brettern fahren ließen, und ermittelten so die unterschiedlichsten Werte, beispielsweise den Einfluss der Schuhgröße auf die Fahreigenschaften eines Surfbretts.

Die Akribie der Recherche war für die auf Lässigkeit und Coolness bedachte Surfszene ein absolutes Novum. Als Test galt in der Branche bis dahin, wenn ein Profi ein Brett im Freien ausprobiert und danach sein höchst subjektives Urteil abgegeben hatte. Auch dass die an den Testreihen beteiligten Surfer eine Geheimhaltungsvereinbarung unterschreiben mussten, das hatte es in der kleinen Gemeinde der Profi-Surfer bis dahin nicht gegeben.

Das Votum des Profi-Kunden sorgt für den Durchbruch

So näherten sich die beiden über die Jahre ihrer Vision vom perfekten Board. Endlich, im Jahr 2000, das erste Resultat: ein Brett, das von einer stabilen Außenhaut aus Kevlar gehalten wurde, dem Material für kugelsichere Westen. Der Werkstoff machte das Brett zwar in der Herstellung sehr teuer, dafür aber besonders robust. Nach anfänglichem Zögern ließ sich die Surf-Legende Robbie Page zu Testfahrten überreden – und wurde zum Promoter. 2001 konnten die Fans in der einflussreichen Zeitschrift Surf Europe Bilder bewundern, die den 96-Kilo-Mann Page beim Herumhüpfen auf einem Bufo-Board zeigten. Eine bessere Demonstration der Belastbarkeit ihres Bretts hätten sich die Brauers nicht wünschen können. „Wenn man einmal damit gesurft ist, will man nie wieder etwas anderes“, wurde Page zitiert. Die Boards wurden in der internationalen Surfszene schlagartig zum Hit.

Euphorisch versuchten die Brüder danach, ihre revolutionäre Kevlarhülle bei einem Patentanwalt schützen zu lassen – und lernten, dass die Jahre der mühsamen Forschung und Entwicklung nur der erste Schritt auf dem Weg zu einer marktfähigen Innovation gewesen waren.

Ihnen folgten frustrierende Erfahrungen mit Gründerberatern, Wirtschaftsförderern, Banken und privaten Geldgebern, wie sie wohl jeder junge Unternehmer mit einer ungewöhnlichen Geschäftsidee hier zu Lande macht. Rouven Brauers fasst sie heute knapp zusammen: „Erfinder gelten als durchgeknallt. Surfer können nicht mit Geld umgehen. Und Gründer haben keine Ahnung von irgendwas.“ Noch heute wird seine Stimme laut vor Wut, wenn er erzählt, wie sie nach einem dreistündigen Vortrag über den Wellenreitmarkt von einem der anwesenden Banker gefragt wurden: „Und wo genau montieren Sie die Segel?“

Die geniale Innovation ist der Anfang – am Ende entscheidet der Markt über den Erfolg

Die Brauers, durch die schon 15-jährige Entwicklungsphase in Geduld geübt, ließen sich nicht beirren. Und fanden Unterstützung beim Erfinderzentrum Norddeutschland, einer staatlichen Fördergesellschaft für junge Gründer. Sie gewährte den Brüdern 75 Prozent der rund 180.000 Euro teuren Patentkosten als zinsloses Darlehen. Ein erstes Mal 2002, ein zweites Mal im Jahr 2003. Das zweite Mal wurde nötig, weil es Rouven gelungen war, den starren, teuren Kevlar-Mantel durch die heutige bionische Konstruktion zu ersetzen, während Sven seine Zeit mit zähen Investorengesprächen verbrachte. Auf der internationalen Sportmesse Ispo in München gab es dafür den Ispo Brandnew Award. Ein Patentanwalt schätzte den Wert der Innovation auf viele Millionen Euro. Der Rechtsspezialist drängte darauf, das erste Patent so schnell wie möglich durch ein zweites zu sichern.

Als zweiter Förderer der Brauers erwies sich die Wolfsburg AG, eine Volkswagen-Tochter, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, innovative Unternehmen im Wachstum zu unterstützen. Durch eine Präsentation von Sven Brauers auf einer Venture-Capital-Veranstaltung war man dort auf die Bufo Boards GmbH aufmerksam geworden. Drei Monate lang überprüften Wissenschaftler der Fraunhofer-Gesellschaft und Vertreter von Volkswagen-Zulieferfirmen die innovative Surfbrett-Technik und schrieben Expertisen. Im April 2005 zogen die Brüder auf den Innovations-Campus, eingestuft in der höchsten Kategorie, als High-Potential-Start-up.

Mittlerweile ist es dunkel geworden. Rouven und Sven Brauers packen ihre Taschen für den Heimweg. Gestern erst sind sie von der World-Cup-Tour im südfranzösischen Hossegor zurückgekommen. Mal wieder waren alle von ihren extrem leichten, flexiblen und robusten Brettern begeistert. Und Tom Curren, auch eine Surf-Legende, hat ihre Bretter mehrere Tage getestet. Kostenlos. Große Surfbretthersteller bezahlen dafür schon mal um die 100.000 Euro. In diesem Jahr wurden die Brüder vom International Forum Design mit dem hoch angesehenen iF Material Award in der Kategorie Concepts ausgezeichnet, als erste Surffirma überhaupt. Mehr als 2000 Vorbestellungen hat die Bufo Boards GmbH schon für das nächste Jahr.

Dennoch: Es wird mindestens noch ein Jahr dauern, bis das zweite Patent weltweit anerkannt ist. Um ihre laufenden Kosten decken und die Nachfrage bedienen zu können, müssen die Brüder investieren – vor allem in Personal, aber auch in professionelles Marketing und in den Vertrieb. Und dazu brauchen sie Mittel. Träumten die beiden früher davon, das perfekte Surfbrett zu bauen, hoffen sie heute, dass sich ein Geldgeber findet, der die Firma nicht so schnell wie möglich verschachern will. Der Sinn hat für den komplizierten Markt, in dem sie sich bewegen. Und der dem Unternehmen Zeit gibt, sich auch weiter Schritt für Schritt zu entwickeln. Weil er weiß, dass Innovationen Zeit brauchen. Und ein Produkt nie fertig ist – auch wenn es gerade perfekt erscheint.


Dieser Text stammt aus unserer Redaktion Corporate Publishing.