„Mehr Kunst als Wissenschaft.“

Harvard-Professor Michael E. Porter über seine große Clusterstudie und den Irrglauben vieler Regionen, mit einigen wenigen Hightech-Sektoren Jobs und Wohlstand zu sichern.




McK: Professor Porter, was sind Cluster, und warum sind sie wichtig für die Wettbewerbsfähigkeit einer Volkswirtschaft?

Michael E. Porter: Cluster sind eine Organisationsform von Industrien, die höhere Produktivität und mehr Innovationen erzeugen als räumlich weiter aufgefächerte Strukturen. In einem Cluster stehen sich auf relativ begrenztem Raum verschiedene Unternehmen und Institutionen gegenüber, die alle auf den Wettbewerb einwirken: Hersteller, Zulieferer, Dienstleistungs-Anbieter, Universitäten und andere Ausbildungsstätten.

Was hat das für Auswirkungen?

Ein Cluster beeinflusst den Markt auf drei Weisen. Erstens entsteht mehr Effizienz. Transaktionen können ohne hohe Logistik- oder Transportkosten erfolgen. Kommunikationswege werden kürzer, Marktteilnehmer können rasch aufeinander reagieren. Cluster erzeugen außerdem Güter, auf die dort angesiedelte Firmen relativ kostengünstig zugreifen können. Wer außerhalb der Region arbeitet, muss für den Zugang Handel treiben und bezahlen.
Ein gutes Beispiel sind Fachkräfte in einem Sektor. Man kann sie einfach anheuern, sie wechseln von einem Betrieb zum anderen. Anderswo muss ich sie erst einmal ausbilden. Das trifft auf eine ganze Reihe von Inputs zu: Arbeitskräfte, Marktkenntnisse, Technologie – in einem Cluster werden sie zu quasi öffentlichen Gütern, auf die jeder zugreifen kann. Zweitens forcieren Gelegenheiten Innovationen. Wenn viele Unternehmen und Marktteilnehmer auf engem Raum konzentriert sind, sieht man Marktlücken schneller. Neue Güter oder Dienstleistungen drängen sich einem förmlich auf, die technische Expertise liegt vor der Tür. Außerdem kann man solche Chancen schneller kommerzialisieren. Alle Elemente des Wertschöpfungsprozesses, von der Idee bis zum Produkt, können im Handumdrehen zusammengesetzt werden. Dazu kommt der bessere Zugriff auf Kapital. Finanzinstitutionen, die mit einem Cluster zu tun haben, besitzen branchenspezifische Erfahrung – vom Wein- bis zum Automobilbau – und können bei Risikokapital schneller und besser entscheiden.
Drittens schlägt sich ein Cluster in der Gründungsrate neuer Firmen nieder. Die Schwellen zum Markteintritt liegen niedriger – aus oben genannten Gründen. Man kann leichter Kapital auftreiben, wichtige Zulieferer und Abnehmer finden.

Konzentrationen von Branchen und Know-how gibt es seit jeher – von phönizischen Hafenstädten bis zu Stahlrevieren. Ist das Wort Cluster nicht nur ein modernes Etikett für eine Konstante der Menschheitsgeschichte?

Natürlich sind Cluster die moderne Ausprägung eines uralten Phänomens. Neu sind die Gründe für ihre Entstehung, ihr Charakter und die Art und Weise, wie sie im internationalen Wirtschaftssystem verwurzelt sind. Die ersten Cluster waren die mittelalterlichen Zünfte. Sie arbeiteten jeweils im selben Sektor, es ging nicht um Komponenten, sondern um identische Handarbeit mit einfachen Werkzeugen. Heutige Industrien sind komplexe Prozesse mit unzähligen Inputs, Maschinerie und Technologien. Ein modernes Cluster ist viel komplexer, stärker an Universitäten gebunden und hat mehr Teilnehmer. Viele der alten Cluster bedienten zudem einen regionalen, höchstens nationalen Markt. Heute sehen wir den internationalen Kontext. Mit dem zunehmenden Wegfall der Handelsschranken ist die Zahl der Cluster gesunken. Die übrig gebliebenen sind aus diesem Prozess noch komplexer, noch weltorientierter und gestärkter hervorgegangen. Das heißt: Strategie und internationaler Wettbewerb zählen mehr denn je – darüber haben sich Regionalforscher in der Vergangenheit viel zu wenig Gedanken gemacht.

Die Harvard Business School hat im Auftrag des US-Verbandes Council on Competitiveness fünf Clusterregionen in Amerika genauer untersucht. Warum gerade diese Handvoll Gegenden von Pittsburgh bis San Diego?

Es gibt eine ganze Reihe von Regionen in den USA, die sich seit Jahren sehr aktiv um Clusterförderung kümmern, von Massachusetts und Connecticut bis zu Arizona und Minneapolis/St. Paul. Dabei geht es allerdings weniger um Wissenschaft, eher um eine vage Kunst. Es gibt keine harten Standards, Cluster geografisch zu bestimmen oder ihre Erfolge zu messen. Die Definition liegt beim Betrachter. Und jede Initiative schreibt ihre eigenen Regeln. Gleichzeitig hat sich gezeigt, dass Washington als politisches Zentrum fast nichts mit Wirtschaftsförderung zu tun hat. Die Aktion spielt sich auf lokaler Ebene ab. So entstand die Idee, Cluster systematisch zu identifizieren, wissenschaftlich zu beziffern und daraus Handlungspläne abzuleiten.

Warum dann fünf Regionen und nicht zehn?

Wir haben diese fünf Gegenden ausgesucht, weil sie sich in unterschiedlichen Entwicklungsstadien befinden. Wichita in Kansas und Pittsburgh (Pennsylvania) haben eine alte Industrietradition, während San Diego (Kalifornien) oder Atlanta (Georgia) Neuzugänge sind. Wir wollten Regionen mit unterschiedlichen Sektorenkombinationen. In Atlanta dreht sich viel um Dienstleistungen. In Wichita geht es um industrielle Fertigung. San Diego und das Research Triangle (North Carolina) setzen auf technische Forschung und Entwicklung.

Gibt es bei all dieser Vielfalt Faustregeln für den Erfolg?

Gerade die Einzigartigkeit der Region kann ein großer Wettbewerbsvorteil sein. Dennoch haben wir eine allgemeine Clustertheorie identifiziert, die aus rund drei Dutzend Faustregeln besteht. Räumliche Nähe beispielsweise ist in einer globalen Wirtschaft lebenswichtig. In allen Clustern finden sich reichlich Belege dafür, dass die enge Nachbarschaft von Marktteilnehmern die Produktivität steigert. Trotzdem muss das Gebiet groß genug für die unterschiedlichen Funktionen sein. Dabei ist es Unsinn, zum Beispiel drei Landkreise zu einem Cluster zu erklären. Ein gutes Richtmaß ist vielmehr der Autoradius: Was ich an einem Tag bequem abfahren kann, begrenzt einen sinnvollen Wirtschaftsraum. Unsere Daten zeigen außerdem, dass eine Clusterentwicklung mindestens 20 Jahre dauert. Das sollten Planer im Hinterkopf haben.

Lassen sich diese Erkenntnisse aus Amerika auf Europa übertragen?

Sie gelten so gut wie immer auch für Cluster außerhalb der USA. Einziger Unterschied: In Europa erstrecken sich Regionen oftmals über Grenzen, jenseits derer nicht nur eine andere Sprache gesprochen wird, sondern sich auch die wirtschaftlichen Spielregeln ändern. Das führt dazu, dass Wirtschaftsregionen kleiner bleiben, als sie eigentlich sein könnten, oder sich aufspalten. Kansas City liegt in Missouri und Kansas, aber das macht keinen Unterschied bei Transaktionen.

Was raten Sie nach dieser Analyse Gebieten, die völlig neue Cluster auf der grünen Wiese ansiedeln wollen?

In einer reifen Volkswirtschaft lässt sich kein neuer Industriezweig aus dem Boden stampfen. Es muss schon einen Kernbestand bereits vorhandener Güter geben, aber selbst das ist noch keine Erfolgsgarantie. Ein armes Entwicklungsland kann eine Freihandelszone einrichten und Textilfirmen mit niedrigen Löhnen, Subventionen und Steuervergünstigungen anlocken. Daraus wird ein Textilcluster – aber das funktioniert nur in Ländern wie Nicaragua oder Indonesien vor zehn Jahren. Sobald man fortgeschrittene Cluster mit höherem Lohnniveau schaffen will, geht es nicht. Kein Unternehmen siedelt komplexe Aktivitäten in einem Gebiet an, ohne dass all die wichtigen Faktoren vorhanden sind: qualifizierte Arbeitskräfte, Technologien, Inputs.

Und woher nimmt beispielsweise eine alte Stahlregion den Kern eines zukunftsweisenden Clusters, wenn nur leere Werkshallen herumstehen?

Oft stammen die Keimzellen für neue gerade von alten Clustern oder anderen Segmenten derselben Branche. Japan ist ein Paradebeispiel dafür. Die Japaner fingen an, billige Transistorradios herzustellen und sind heute führend bei der Produktion von Videorekordern und DVD-Geräten. Das ist ein linearer Prozess, in dem ein Cluster für Verbraucher-Elektronik die nächste Stärke vorbereitet – von Studiengängen für Elektroingenieure an der Universität bis hin zu den Zulieferbetrieben. Es ist für Regionen eine sehr schlechte Idee, davon zu träumen, im Pool der Hightech-Industrien schwimmen zu können. Aber es ist Trend: Neuerdings will jede Region ein Biotech- oder Telekom-Cluster. Viele werden daran scheitern, weil sie über keine vernünftigen Startbedingungen verfügen.

Haben die Verlierer damit nicht automatisch ihre zweite Chance verspielt?

Keineswegs. Auch da zeigen unsere Studien etwas Überraschendes: Wenn man diese begehrten Sektoren – Biotech, Pharma, Medizintechnik, Informationstechnologie, Kommunikationstechnik und Luftfahrt – addiert, machen diese Cluster landesweit gerade einmal acht Prozent des so genannten Traded Employment aus und sogar nur 2,5 Prozent der Gesamtbeschäftigung in den USA. Selbst wenn eine Region alle diese Cluster gleichzeitig bei sich ansiedeln kann und damit dreimal mehr Arbeitsplätze schafft als der von uns berechnete Landesdurchschnitt – es wird keinen nennenswerten Effekt auf das Lohnniveau haben. Man kann seine Wirtschaftsförderungspolitik nicht darauf gründen, ein paar Hightech-Cluster als Rettung anzulocken. Sie werden nie groß genug sein. Stattdessen sollte man sich über seine Stärken klar werden, schauen, wo man bereits kritische Masse besitzt und diese Sektoren auf dem neuesten Stand halten oder auf Hightech-Niveau bringen.

Dann geht die Wirtschaftsförderungs-Strategie vieler Regionen, die Biotech- oder IT-Cluster hätscheln, also komplett an der Wirklichkeit vorbei?

Ich kann nur noch einmal wiederholen: Selbst wer in diesen Segmenten außerordentlich erfolgreich ist, erzielt keinen durchschlagenden Effekt auf sein Einkommensniveau. Das Problem ist, dass die Repräsentanten von Gebieten wie Research Triangle oder San Diego seit 20 Jahren diese Geschichte verkaufen und Gefangene ihrer eigenen Fantasie geworden sind. Aber die Zeiten sind vorbei. Regionen müssen ein neues Kapitel in der Wirtschaftsförderung aufschlagen. Viele Biotech- und Pharma-Cluster liefen am Anfang so gut, weil sie mit einem niedrigen Kostenniveau und guter Forschung werben konnten. Aber wer sich unter die ersten fünf vorarbeitet, muss sich gegen härtesten Wettbewerb aus aller Welt behaupten. Es ist ein Traum, dass in solch eng umgrenzten Sektoren die volkswirtschaftliche Zukunft liegt. Man muss den Blick ausweiten auf alle möglichen Branchen, sonst sitzt die Region nach Anfangserfolgen in einer Kostenfalle: Die Löhne hinken dem Landesniveau hinterher, während einem die Standortkosten davonlaufen – und unterm Strich sinkt der Lebensstandard.

Erfolgsmeldungen über Hightech-Landkreise und deren Industrieparks sind also mit größter Skepsis zu lesen?

Kommunen greifen oft zum gleichen Trick wie Unternehmen: Je enger man den Markt macht, desto mehr Marktanteil kann man hinterher verkünden. Was dabei unter den Tisch fällt, ist die Tatsache, dass die Firmen in einer so winzigen Region ständig mit vielen Marktteilnehmern im Umland in Kontakt stehen. Das muss berücksichtigt werden. Regionen in den USA begehen sehr oft den Fehler, dass sie ihre geografischen Grenzen zu eng fassen. Produktivität hat aber wenig mit Stadtgrenzen zu tun. Wer sein Blickfeld erweitert und mehr Landkreise in die Rechnung aufnimmt, schafft in Wirklichkeit mehr Wachstumschancen. Das Ergebnis ist eine diversifiziertere Wirtschaft, die örtliche Universitäten mit Unternehmern abseits vom Kern verbindet. In manchen Regionen herrscht ein bitterer Streit zwischen reicher Stadt und armem Umland.

Macht es Sinn, Forschung und Entwicklung im Kern und die Herstellung im preiswerteren Umland anzusiedeln?

So einfach ist es leider nicht. Es kommt auf die Industrie an. Für Bildungsinstitutionen, Krankenhäuser, Kunst und Unterhaltung oder Finanzdienstleister macht es sicher Sinn, im Stadtkern zu sitzen. Herstellungs-Cluster können in mehr ländlichen Gebieten liegen. Aber bei den verarmten US-Innenstädten kann sich das auch umkehren. Dort würde es sich wieder lohnen, Logistik und Back Office im Zentrum zu halten, wo es billige Arbeitskräfte gibt.

Drohen im Stadt-Land-Gegensatz keine Verteilungskämpfe, die der Cluster-Idee schaden, etwa wenn arme Landkreise das Etikett des reichen Zentrums nutzen wollen, aber bei der Standortwahl nicht mithalten können?

Es ist enorm wichtig für die wohlhabenden Teile einer Region, ihre gegenseitige Abhängigkeit von den ärmeren Teilen zu erkennen. Zentrum, Vorstädte, Umland und Industrieparks sind eng miteinander verknüpft. Wenn Unternehmen in reichen Gebieten keine gemeinsame Strategie mit ihren armen Nachbarn schaffen, wird die Schlacht in der Politik ausgetragen – und das führt in letzter Konsequenz zur Umverteilung über die Steuern. Wer glaubt, die armen Teile vernachlässigen zu können – etwa ein Ghetto in der Innenstadt – stiftet nicht nur politische Spannungen, die dem Wachstum schaden, sondern verzichtet auch darauf, die räumliche Verteilung in einer Industrie zu optimieren.

Das ist sicher ein Lernprozess, aber der Anfang scheint gemacht. Immerhin wird das Thema heute von Regionalentwicklern sehr ernst genommen.

Der Mangel an Verständnis dafür, was dieses Konzept für alle Beteiligten, vom Politiker bis zum Vertreter der örtlichen Handelskammer, wirklich bedeutet, beunruhigt mich. Selbst viele Unternehmer sind davon überzeugt, dass ihr Erfolg ausschließlich auf der eigenen Leistung beruht. Sie realisieren gar nicht, wie viele Vorteile sie aus einem gemeinsamen Geschäftsumfeld ziehen. Das kann auf Dauer zum Problem werden: Wenn sie nicht in ihr Umfeld investieren und sich nicht für die Region engagieren, schaden sie mittel- und langfristig ihrer Wettbewerbsfähigkeit.

Zum Weiterlesen:

Die wichtigsten Forschungsstationen von Michael E. Porter

1980:
Competitive Strategy – Techniques for Analyzing Industries and Competitors. Simon & Schuster; 432 Seiten; 37,50 Dollar
1985:
Competitive Advantage – Creating and Sustaining Superior Performance. Simon & Schuster; 592 Seiten; 37,50 Dollar
1990:
The Competitive Advantage of Nations. Simon & Schuster; 896 Seiten; 40 Dollar
1998:
On Competition. Harvard Business Review Book; 496 Seiten; 39,95 Dollar
2000:
Can Japan Compete? Perseus Publishing; 208 Seiten; 27,50 Dollar
Links
Michael E. Porters Cluster Mapping Project: 
http://clustermapping.us/home

Das Evangelium der sozial verantwortungsbewussten Wettbewerbsfähigkeit verkündet Porter in aller Welt. Bislang veröffentlichte der Wissenschaftler 16 Bücher und rund 75 Fachaufsätze in 17 Sprachen. Dabei nimmt er nicht nur Amerika unter die Lupe, sondern auch Länder wie Japan, Indien oder die Schweiz sowie einzelne Regionen von Katalonien bis Nordirland. Porter gibt gemeinsam mit seinem Harvard-Kollegen Jeffrey Sachs die jährliche Länder-Analyse Global Competitiveness Report heraus. Zu seinen Workshops zum Thema Wettbewerbsfähigkeit reisen CEOs multinationaler Konzerne aus aller Welt an. Porter berät außerdem Regierungen und Konzerne wie Royal Dutch Shell und Credit Suisse First Boston.


Dieser Text stammt aus unserer Redaktion Corporate Publishing.