Das Ruhrpott-Syndrom

Nichts prägte die deutsche Wirtschaft der vergangenen 150 Jahre so sehr wie das Industriewunder Ruhrgebiet. Der Glanz von Kohle und Stahl überstrahlt die wirklichen Stärken von Regionen bis heute.


Es ist das große Erwachen. Kein Ereignis in der Geschichte, auch nicht die Einführung von Computern und Mikrochips, hat den Lauf der Welt bisher so nachhaltig und schnell verändert wie die Ereignisse rund um die industrielle Revolution.

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts ist Deutschland ein Agrarland, zersplittert in dutzende Kleinstaaten, die wirtschaftlich und kulturell wenig miteinander gemein haben – von der Sprache mal abgesehen. Ende des Jahrhunderts ist Deutschland die führende Industrienation Europas. Einigung und Aufstieg der Kulturräume, die sich zur Einheit formen, sind ohne die industrielle Revolution nicht vorstellbar.

„Nach ihrer Bedeutung gestaffelt, stehen dem alten Kontinent an Energiequellen zur Verfügung: die Zugkraft von 14 Millionen Pferden und 24 Millionen Rindern, die (bei einem Viertel PS pro Tier) eine Gesamtleistung von rund zehn Millionen PS erbringen; an zweiter Stelle das Holz mit etwa vier bis fünf Millionen PS; weiter die Wassermühlen mit 1,5 bis drei Millionen PS; dann die Menschen selbst, das heißt 50 Millionen Arbeiter mit 900.000 PS; und schließlich die Segel mit maximal 233.000 PS, die Kriegsmarine nicht eingerechnet.“

Das ist die Energiebilanz des ganzen europäischen Kontinents im Jahre 1789, dem Vorabend der Französischen Revolution, wie sie der französische Historiker Fernand Braudel zusammengestellt hat. Weniger als 20 Millionen PS – weniger, als eine einzige deutsche Kreisstadt ein Jahrhundert später zur Verfügung haben wird. Das Zeitalter, für das Braudel seine Berechnung unternimmt, ist in Großbritannien bereits vom Takt der Maschinen bestimmt. Die 1730 in Kohlengruben eingeführte Newcomsche Dampfmaschine, die knapp 40 Jahre später durch den schottischen Erfinder James Watt ihre entscheidende Verbesserung erfährt, macht Großbritannien zum Industrieland, zum Mutterland der Massenproduktion, zur „Werkstatt der Welt“, wie es Zeitgenossen nennen.

Deutschland ist zu dieser Zeit kaum erwähnenswert. Die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert zeigt das politisch ungeeinte Land als Flickenteppich. Mehr als 80 Prozent der Bevölkerung sind Bauern, das Handwerk ist, wie seit dem Mittelalter, in wenigen Zentren konzentriert, vor allem im Süden des Landes. So haben etwa Augsburg und Nürnberg geschlossene ständische Handwerksordnungen, die keinen Zuwachs dulden, zeitweise sind mehr als 85 Prozent der städtischen Bevölkerung Augsburgs „ausgesteuert“, zu arm, um auch nur die geringsten Abgaben zahlen zu können.

Über Jahrhunderte verlief die Entwicklung von Wirtschaftsräumen gemächlich. Wo Energien und Rohstoffe zur Verfügung standen, entwickelten sich wirtschaftliche Zentren. In Schweden, im Harz oder in Tirol etwa, wo Eisenerze reichlich vorhanden waren und mit einfachen Mitteln abgebaut werden konnten, gab es nicht nur Experten für den Abbau und die Verarbeitung, sondern bald auch eine ansehnliche Zahl an Werkzeugmachern und Konstrukteuren für Maschinen. Die Mechanik der Werkzeuge inspirierte andere Handwerkszweige, die sich dem Bau von Textilmaschinen verschrieben oder frühe Automatentechniken mit den verfeinerten Rohstoffen entwickelten. Im 1556 erschienenen technischen Handbuch des Hüttenwesens „De re metallica“ von Georgius Agricola, zeigt sich ein vielfältiges Bild des Erzgebirges: als einer Region, in der neben dem eigentlichen Kern, dem Eisenhüttengewerbe, frühe Ingenieurskunst und neue Handelsformen dargestellt sind. Ohne Zweifel, man wusste um die Strahlkraft dessen, was wir heute Cluster nennen. Doch ihre Zahl war endlich.

Wo es keine Rohstoffe gab oder wo sich die vorhandenen mangels Wind- und Wasserkraft nicht fördern und bearbeiten ließen, stieß das Wachstum an seine natürlichen Grenzen. Eine Beschränkung, die auch die restliche Welt gut kannte, die mit Landwirtschaft ihr Brot verdiente: Die Natur ließ sich nicht oder nur unzulänglich organisieren. Die Cluster der frühen Neuzeit lebten von einer Symbiose aus Handwerkskunst und Wissenschaft – vor allem aber von der Gnade der Fürsten, die wissenschaftliche Entwicklung in ihren Reichen und Städten zuließen. Amsterdam, Prag und Leipzig wurden Zentren der Mathematik, der Optik und der frühen Physik, aber der Nutzen vieler Erfindungen verpuffte, weil sie sich vor Ort nicht umsetzen ließen.

Die Dampfmaschine änderte das radikal. Mit ihr konnten riesige Rohstoffquellen angezapft werden, von deren Existenz man schon viele Jahrhunderte wusste, die man bis dahin aber kaum nutzen konnte. Die Kohle beispielsweise, die im 19. Jahrhundert zum wichtigsten Grundstoff der Industrien wurde, hatte ihren Platz auch schon in der vorindustriellen Ökonomie. Sie war als Heizquelle praktisch, aber nur, wenn man sie vor Ort sammeln konnte.

Die Maschine ändert die Welt. Das lässt sich kaum besser nachvollziehen als an der Geschichte des bedeutendsten industriellen Clusters Europas – dem Ruhrgebiet. Am Ende des 19. Jahrhunderts ist die Region zwischen den Flüssen Ruhr und Emscher europaweit das Synonym für die Macht der Industrie. Zu keiner Zeit und an keinem anderen Ort Europas haben jemals so viele Menschen auf so engem Raum gearbeitet und der Industriegesellschaft des 19. und 20. Jahrhunderts ihren Stempel aufdrückt. Und nirgendwo sonst auf dem europäischen Kontinent wurde in nur wenigen Jahrzehnten so viel Expertise, Wertschöpfung und Marktmacht konzentriert wie in der Kohle- und Stahlindustrie dieser Region.

Zunächst ist die Ruhr-Region bedeutungslos

Die Voraussetzungen dafür sind im Grunde miserabel. Ende des 18. Jahrhunderts leben in der Gegend gerade mal 300.000 Menschen; Duisburg, die bedeutendste Stadt in der Region, zählt 5300 Einwohner, Bochum knapp 2000. Dass es hier Kohle gibt, ist lange bekannt. Schon im 13. Jahrhundert bedienen sich die Bauern des Rohstoffs, doch geordneter Abbau findet nicht statt, wozu auch? Der Grundstoff für die spätere Dampfmaschine ist ohne diese Erfindung relativ bedeutungslos. Und die Region liegt weitab von den politisch und wirtschaftlich bedeutenden Zentren des damaligen Europa. Hier ist es schwarz wie im Schacht.

Der Aufschwung kommt zögerlich in Gang. Der Staat Preußen kontrolliert halbherzig den Kohleabbau – ein Begriff, den das Verfahren kaum verdient: Jeder nimmt sich, was er braucht. Ganz anders in England. Auf der Insel regiert zu dieser Zeit, der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, in Schächten und Minen bereits die Maschine. Nur mit der Newcomschen Dampfmaschine – und der später von James Watt hinzugefügten Verbesserung des doppelwirkenden Systems – lassen sich die Wassermassen aus den unterirdischen Schächten abpumpen. Zuerst löst die Maschine unter der Erde das zentrale Problem des Zugangs zum Rohstoff. Über der Erde wird sie allmählich zur Energiequelle für die Weiterverarbeitung: zu Kohle, dann in logischer Folge zu Stahl, der mit Kohle gekocht wird.

In Bochum läuft erst 1801 die erste Dampfmaschine – und auf dem kulturell, technisch und technologisch unterentwickelten Terrain beginnen Innovationsmotoren anzulaufen. Es braucht Wissen, auf allen Gebieten des Abbaus, der Förderung, der Verarbeitung und der Veredelung. Vor allem aber braucht es Experten für den Untertag-Abbau, Ingenieure, Maschinenbauer, Entwickler und Chemiker. Alfred Krupp, der als 14-Jähriger im Jahr 1826 von seinem Vater ein de facto bankrottes Unternehmen übernimmt, ist einer der Pioniere, der die Region auf dem Reißbrett entwirft: 1833 hat Krupp 40 Beschäftige und einen Umsatz von 4000 Talern. 30 Jahre später ist die Familie die reichste in Europa.

Krupp forscht vor allem an intelligenten Endprodukten. Den Höhepunkt erreicht er im Jahr 1852, als er mit dem nahtlosen Radlauf für Lokomotiven schlagartig zum wichtigsten europäischen Industrieunternehmer wird. Die Voraussetzung dafür schaffen sich Krupp und andere Ruhrpott-Industrielle selbst. Nach englisch-französischem Muster errichten sie Gewerbefleiß-Vereine – Think Tanks, in denen ökonomische und technische Innovationen, Ideen und Perspektiven ausgeknobelt werden. Der Rohstoff Erz wird durch Friedrich Harkorts Puddeltechnik, dem Mischen des Roheisens, verbessert, und mit dem Bessemer-Verfahren zieht Hightech im Ruhrpott ein: Die Technik hilft Luft ins Eisen zu blasen, damit kann hochwertiger Stahl in großen Mengen hergestellt werden. Altes Eisen kann niemand gebrauchen. Dampfmaschinen brauchen exakte Stähle, hochwertige Grundstoffe; Lokomotiven, Schienen und Werkzeugmaschinen verlangen nach völlig neuen Werkstoffen aus Metall. Der Ruhrpott, noch vor kurzem Entwicklungsgebiet, liefert all das und die Expertise: Wie baut man richtig ab? Wie effizient? Wie lässt sich das Ausgangsprodukt veredeln? Was braucht der Markt? Und wen brauchen wir, um den Markt zu bedienen?

Aus aller Welt laufen in Essen und Bochum, Duisburg, Mülheim und Bottrop, in Gelsenkirchen und Herne Informationen zusammen. Facharbeiter werden gemacht, nicht das im übrigen Europa übliche Industrieproletariat. Spätestens in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts gibt es in der weltweiten Kohle- und Stahlindustrie keine Experten, die sich mit jenen des Ruhrpotts messen könnten.

Die Spezialisierung wird zum Problem

Das planvolle Wissensmanagement der zweiten Industriellengeneration und die Aufrüstungspolitik, die mit der Gründung des Deutschen Reiches 1871 begann und sich bis zum Zusammenbruch des Dritten Reiches 1945 zog, machte die Region reich. So sind die Regierungen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts an der Geschichte des Erfolgsmodells Ruhrgebiet beteiligt – und schaffen sich gleichsam einen Staat, der dem folgt, was von Krupp und anderen Großindustriellen vorgedacht wird.

Das Stahl-Cluster machte Staat, Parteien, Gesetze und Sozialordnungen, die bis heute wirken – und die einen hohen Preis forderten: Gewerbebetriebe, Selbständige und Facharbeiter erwiesen sich beim Einsetzen der Krise Mitte des 20. Jahrhunderts als so spezialisiert und untrennbar mit Kohle und Stahl verbunden, dass die Bemühungen um die Restrukturierung der Region bis heute andauern.

Vor, während und auch nach dem Wunder an der Ruhr existierten auch andere erfolgreiche Technologie-Cluster in Deutschland, aber keines konnte für sich einen vergleichbaren Ruf oder gar ähnlichen Einfluss auf Politik und Gesellschaft beanspruchen. Es sind die weithin unentdeckten Industrieregionen, die sich selbst immer wieder neu erfanden. Cluster, in denen die Strukturen langsam wuchsen und die sich mit Schlüsseltechnologien, die im Laufe der Jahrzehnte oder Jahrhunderte wechselten, für eine Zeit lang verbündeten. Oder anders: Cluster, die auf Rohstoff basieren, halten so lange, wie der Rohstoff gebraucht wird. Regionen, die auf Kundennutzen setzen, erneuern sich selbst. Es sind die wandlungs- und deshalb überlebensfähigen Modelle: Sie sind die wahren Vorbilder für die Wirtschaftsregion des 21. Jahrhunderts.

Die Geschichte der Stahl- und Kohleregion hat lange auch über die Erforschung früher industrieller Cluster in Deutschland ihre Schatten geworfen. Im Raum Solingen-Remscheid spezialisierten sich Eisenmacher schon früh auf spezielle Legierungen und Verarbeitungstechniken. Solingen-Remscheid galt – mit dem Harz – als deutsches Eisenzentrum. Die Solinger fertigten nicht nur Messer, sondern vor allem Spezialeisen und Stähle für die im 18. und 19. Jahrhundert langsam massenhaft produzierten Maschinen und die Instrumententechnik.

In Süddeutschland konzentrierten sich Textil- und Maschinenbau, in Esslingen, Pforzheim, Nürnberg und Augsburg. Vor allem in Augsburg gelang die Transformation des Know-hows aus der Textilfertigung und dem damit verbundenen Manufakturwesen in das Industriezeitalter. Die Gründe dafür liegen auf der Hand: Wer in der Lage ist, komplizierte Wirk- und Webmaschinen zu bedienen (und damit fast immer auch: zu warten und zu reparieren), der verfügt auch über die wichtigsten Grundkenntnisse des Maschinenbaus, der Wissenschaft, die sich im Lauf der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ausbildete. Im Gegensatz zum Ruhrgebiet konnten Städte wie Augsburg und Nürnberg zudem auf eine jahrhundertelange Handwerkertradition bauen, die später die Grundlage des Ingenieurs- und Facharbeitertums bildete. Im 18. Jahrhundert begann im Jura, in der Schweiz, die massenhafte Fertigung von Uhren in Heimmanufakturen. Nicht, weil es vor Ort eine entsprechende Handwerkstradition gab. Grundlage der Produktion bildeten die zahlreichen Heimarbeiter, die zuvor in der Textilverarbeitung tätig gewesen waren. Sie zählten zur Elite der Facharbeiter dieser Zeit, vergleichbar mit den Programmierern von heute. Die zunehmende Automation in der englischen Textilproduktion, Zölle wichtiger Handelspartner und ein Sinken der Binnennachfrage machte die Experten massenhaft arbeitslos. Bis liberale Unternehmer, die nach der fehlgeschlagenen Neuenburger Revolution von 1831 in Nachbarkantone flüchten mussten, die Etablissage-Fertigungstechnik organisierten, bei der in Heimarbeit Teile einer Uhr fertig gestellt wurden. Das Südjura und der Kanton Bern – bis dahin bitterarme Regionen ohne Rohstoffe – entwickelten sich zu einem Zentrum der Hochtechnologie-Fertigung jener Zeit. Die Produktion in der Etablissage war so effizient, dass erst zum Ende des 19. Jahrhunderts die industrielle, fabrikmäßige Fertigung von Uhren in der Schweiz Einzug hielt: Es waren amerikanische Ingenieure, die etwa die International Watch Company in Schaffhausen errichteten, die damals führende Uhrenfabrik. Uhren stellten im 18. und 19. Jahrhundert die exaktesten und technisiertesten Messgeräte dar, vergleichbar mit den Computern von heute. Die Schweizer Uhrenindustrie erzielte ein Maximum an Kenntnis in der Herstellung analoger Messinstrumente – und stand damit bis zur Digitalisierung am Ende des 20. Jahrhunderts unangefochten an der Spitze. In Deutschland war es die Region um Jena, die in den siebziger und achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts ihren entscheidenden Impuls bekam, die sie zum Optik- und Instrumenten-Cluster werden ließ. Ähnlich wie die Schweizer Uhrenindustrie konnte sich die Region damals auf eine ausgezeichnete Struktur an Feinmechanikern und Wissenschaftlern stützen. Die preußische Regierung lieferte schließlich die Initialzündung zum erfolgreichen Regionalwachstum, als sie 1884 in Jena ein glastechnisches Forschungslabor einrichten ließ. Hightech schlägt Schwerindustrie – das belegten schon bald erfolgreiche Unternehmer wie Zeiss, Goertz, Leitz, Goltz und Breutmann, die von Fernrohren bis zu Messinstrumenten alles erzeugten, was die neuen technologischen Branchen der Industrialisierung brauchten. Die Feinoptik-Cluster von Jena waren nur dort gefährdet, wo sie sich – wie die Stahlregion Ruhrgebiet – auf Niedrigpreisprodukte einließen, zu denen im 19. Jahrhundert bereits Brillen gehörten. Die konnte man nämlich überall – und fast überall billiger – fertigen.

Dieser Text stammt aus unserer Redaktion Corporate Publishing.