Das Dilemma der Kreatur

Erfolg ist das Ergebnis von Teamarbeit. Auch im Körper des Menschen selbst. Nur die komplexe Logik von Millionen von Zellen hält den Organismus in Gang. Dass das funktioniert, ist eine Frage der Arbeitsteilung. Oder, wie der jüdische Philosoph Martin Buber postuliert: „Im Anfang ist Beziehung.“
Auf Beziehung und Arbeitsteilung basiert auch die Evolution: Einzelne Einheiten, etwa Zellen, schließen sich zusammen und bilden ein intelligentes System – ein Cluster – um eine bestimmte Aufgabe zu erfüllen. Die Arbeitsteilung in den Systemen multipliziert den Ertrag.
Für den Wiener Zoologen Rupert Riedl, 77, ist die Clusterbildung deshalb etwas Ur-Menschliches.




McK: Professor Riedl, die Ökonomen haben das Cluster entdeckt. Industrien wachsen zusammen, Unternehmen spinnen Netzwerke, Forschung und Praxis nähern sich einander an. Ist das ein Phänomen, dem Sie auch in Ihrer Wachstumsforschung begegnen?

Riedl: Ja, gewiss, und für meine Zunft ist das auch nicht neu. Cluster finden wir überall, in der Natur wie in der Zivilisation. Kleine Menschengruppen gehorchen Clustermechanismen ebenso wie Großverbände. Es gibt auch unangenehme Cluster – beispielsweise auf der Autobahn:
Ein Langweiler am Steuer zieht eine lange Schlange von Fahrzeugen als Cluster hinter sich her. Ein Stau ist nichts anderes als ein Cluster, das zur Ruhe gekommen ist.
Cluster funktionieren wie ein Gewebe- oder Organismusverband. Der Begriff Cluster ist ein Ausdruck dafür, dass irgendetwas miteinander zusammenhängt. Oder anders: Cluster sind räumliche Zusammenhänge, die einen funktionellen Zusammenhang aufweisen.

Das klingt nach einer willkürlichen Formation. Muss ein Cluster nicht Mehrwert erzeugen? Also eine Form sein, die als Ganzes mehr bedeutet als die Summe ihrer Einzelteile?

Natürlich, aber das gelingt nicht immer. Fest steht, dass sich Funktionen aus Funktionen zusammensetzen und Strukturen aus Strukturen. Die Welt ist hierarchisch geordnet: Organismen bestehen aus Organen, Organe aus Geweben, Gewebe aus Zellen und Zellen aus Zellorganellen. Das sind alles funktionierende Einheiten. Diese Einheiten sind zwar überwiegend räumlich organisiert – vor allem aber müssen sie funktionell sein, also miteinander wechselwirken.
Nehmen Sie zum Beispiel das Cluster eines Verbundes von Airlines, das sich rund um den Erdball zieht. Dieses Cluster erstreckt sich räumlich weit auseinander, hängt funktionell aber unmittelbar zusammen. Es muss Kontrakte geben, die Landeerlaubnis muss vereinbart sein und vieles andere mehr. Wenn wir dieses funktionelle Cluster auf einer Weltkarte in Form von Fluglinien nachzeichnen, haben wir auch das räumliche Cluster – im globalen Maßstab.

Warum hat sich die Natur für dieses Modell entschieden?

Die Frage ist falsch gestellt. Nicht die Natur hat die Clusterformation erfunden. Vielmehr ist unsere Fähigkeit, Cluster aufzufinden, eine Form, uns an die Welt anzupassen. In unserem Gehirn haben sich jene Lösungsmöglichkeiten durchgesetzt, die uns die Wirklichkeit so einfach wie möglich wahrnehmen lassen. Wir denken sozusagen in Clustern.

Damit erklären Sie zwar das Wie, aber nicht das Warum.

Das Warum können wir der Natur nicht entnehmen, wir müssen es in sie hineindenken. Immanuel Kant stellte fest, dass es Grundbedingungen des Denkens und der Interpretation der Welt gibt, die wir nicht aus unseren Erfahrungen entnehmen können, sondern die wir als Voraussetzung für jede mögliche Erfahrung in die Welt hineinlegen müssen. Daraus formulierte Kant seine Apriori, seine Erkenntnissätze. Es ist demnach ein Bedürfnis unserer Seele, Ursachen in die Welt hineinzulegen, um sie so leichter voraussagen zu können. Ich sage bewusst nicht verstehen, sondern voraussagen. Denn die richtige Prognose bedeutet Lebenserfolg.

Das Cluster ist also eine Art gedanklicher Erfolgsformel im Gehirn?

Genau, denn dadurch wird eine höhere Differenzierung erreicht. Das Säugetier dürfte dem Regenwurm überlegen sein, weil es komplizierter ist. Der Regenwurm wiederum ist den Bodenpilzen überlegen, weil die Bodenpilze keine Vorstellung von den Regenwürmern haben, von denen sie gefressen werden. Ich führe Erfolg auf höhere Differenzierung zurück.

Die Unternehmensberater bei McKinsey sprechen von drei Erfolgsfaktoren für ökonomische Cluster: Menschen, Ideen und Kapital.

Das hat schon Aristoteles beschrieben – allerdings identifizierte er vier Ursachen: die causa materialis, die causa formalis, die causa efficiens und die causa finalis. Diese Faktoren geben uns entsprechend der Struktur unseres Gehirns bis heute ein ausreichendes Verständnis über die Ursachenzusammenhänge der Welt. Deshalb können wir die Kontextfaktoren für ökonomische Cluster auch mühelos aristotelisch übersetzen: Die handelnden Menschen wären demnach die Substanz. Im Kapital, das verfügbar ist, steckt die causa efficiens. Und im Potenzial an Ideen, im Willen, ein Ziel zu erreichen, finden wir die causa formalis und causa finalis.

Wie spielen diese Ursachen konkret zusammen?

Nehmen wir an, Sie wollten ein Bauwerk errichten. Dann brauchen Sie zunächst einmal Material: Ziegel, Mörtel, Holz – die causa materialis. Dieses Material müssen Sie einkaufen, Sie benötigen also Geld – die causa efficiens. Aber Steine und Kapital machen noch kein Haus – Sie brauchen einen Bauplan. Das ist die Form, die causa formalis. Und dann muss es jemanden geben, der ein Ziel mit dem Bau verfolgt – die causa finalis.

In der Wirtschaft lautet das Ziel häufig Größe: Erfolg wird mit Wachstum gleichgesetzt.

Das ist ein Ergebnis der Evolution. Wir sind ja ursprünglich in kleinen Gruppen sozialisiert worden. Und da gibt es, wie in jeder Organisation, eine Wechselbeziehung zwischen Rang und Risiko.
Wenn etwa eine Pavianhorde von einer Großkatze angegriffen wird, dann werden auf keinen Fall die Schwächsten, die Kinder, vorgeschickt – das wäre nicht arterhaltend. Es muss der Alpha-Affe an die Front. Der würde natürlich gern kneifen, er darf aber nicht, weil er damit seinen Rang verlieren würde. Deshalb haben gerade Anführer ein hohes Interesse an Wachstum: In größeren Organisationen sind die Ranghöchsten am besten geschützt. Das Streben nach Wachstum ist also nichts anderes, als der Versuch, das persönliche Risiko zu minimieren. Größe ist eine Überlebensstrategie der Führer.

Das Interesse an Wirtschaftswachstum ist also eine Art Angstreflex?

Aber sicher: Je mehr Sie wachsen, desto höher Ihr Rang, desto geringer Ihr Risiko. Ich vergleiche das immer mit der absichtsvollen Schädigung des Nachbarn. Stellen Sie sich vier Größenordnungen vor: Die kleinste ist der Familienkreis, dort gilt die absichtsvolle Schädigung eines Angehörigen, des Nachbarn, als moralische Katastrophe. In der nächsten Dimension verkalkuliert sich etwa ein Kaufmann und schädigt hunderte von Menschen – dies gilt nur noch als Fahrlässigkeit. Wenn eine Großbank durch Verluste tausende ihrer Kunden schädigt, bedeutet das schon gar nichts mehr, das Kapital wird einfach aufgefüllt. Und wenn schließlich ein ganzer Staat seinen Nachbarstaat absichtsvoll zu schädigen trachtet, werten wir das mitunter sogar als Form der Vernunft, als Staatsräson. Es gibt also eine negative Wechselbeziehung zwischen Verantwortungsempfinden und Verantwortungsumfang. Das zieht sich durch unsere gesamte Kulturgeschichte.

Das bedeutet, eine Volkswirtschaft, die sich weigert zu wachsen, hätte keine Überlebenschance?

Sie würde aufgefressen von den Nachbarn, die weiterhin wachsen.

Und eine Weltwirtschaft mit Nullwachstum?

So etwas würde eine Weltvernunft voraussetzen, die sehr unwahrscheinlich ist.

Hat die Evolution unser Gehirn also doch nicht befähigt, die äußere Wirklichkeit optimal wahrzunehmen?

Alle Evolution operiert mit Kompromissen. Wir müssen fortwährend Nachteile in Kauf nehmen, um etwas Positives zu erreichen. Mein Wiener Lehrer, Ludwig von Bertalanffy, hat gesagt, dass erst mit der Vielzelligkeit der Tod in die Welt gekommen ist: mit dem Nervensystem der Schmerz, mit dem Bewusstsein die Angst und, wie ich hinzufügen möchte, mit dem Besitz die Sorge. Wir hätten uns den Tod, den Schmerz, die Angst und die Sorge in der Evolution ersparen können, wenn nicht das jeweilige Gegenteil von lebenserhaltender Bedeutung wäre.

Biologie erkennen, Menschen verstehen

Der 1925 in Wien geborene Rupert Riedl ist einer der international angesehensten Evolutions- und Verhaltensforscher.
Er studierte Anthropologie und Zoologie an der Universität Wien, wo er 1951 promovierte. 1990 gründete er das Konrad Lorenz Institut für Evolution und Kognitionsforschung in Altenberg an der Donau in Österreich.
Rupert Riedl ist heute Professor emeritus, Gestalter populärer Fernsehsendungen, Autor viel diskutierter Bücher und lebt in Wien.

Zum Weiterlesen:

Ausgewählte Bücher von Rupert Riedl

Die Spaltung des Weltbildes – Biologische Grundlagen des Erklärens und Verstehens. Parey, Berlin, 1985; 333 Seiten; 24,95 Euro

Wahrheit und Wahrscheinlichkeit – Biologische Grundlagen des Für-Wahr-Nehmens. Parey, Berlin, 1992; 214 Seiten; 24,95 Euro

Strukturen der Komplexität – Eine Morphologie des Erkennens und Erklärens. Springer-Verlag, Heidelberg, 2000; 367 Seiten; 39,95 Euro


Dieser Text stammt aus unserer Redaktion Corporate Publishing.