Der Drache erwacht

Einst war sie Verbindungsstraße, dann Prachtmeile, am Ende kaum mehr als eine chaotische Verkehrsschlagader mitten durch die Stadt. Beraten von McKinsey, will die Regierung die Nanjing Road, Symbol der Boom-Stadt Schanghai, bis zur Weltausstellung 2010 zur Einkaufsmeile von Weltruf wandeln.




„Rolex? Omega? Very cheap!“ Wie Kletten hängen Uhrenfälscher auf Schanghais berühmtester Einkaufsstraße Nanjing Road an allen ausländisch aussehenden Passanten. Entkommen? Unmöglich. Morgens um neun, nachts um zehn, vorn, hinten, links und rechts Menschen, Menschen, Menschen. Zwei Millionen sollen es an Samstagen wie diesem sein. Vom Platz des Volkes drängen die Massen auf einer Strecke von rund anderthalb Kilometern erst durch die Fußgängerzone, dann über schmale Gehwege zum „The Bund“, der von Briten und Amerikanern gebauten Uferpromenade, und zurück. Geschichte atmen. Entlang einem exotischen Mischmasch aus europäischer Vorkriegsarchitektur und chinesischen Bauten, Konsumtempeln und Krämern, Hochglanzfassaden und bröckelndem Putz, Baugruben und himmelhohen Betonskeletten. Nachts bestaunen sie das Farbenspiel der Neonreklamen und die Skyline der neuen Hochhaus-Stadt Pudong auf der anderen Seite des Huangpu-Flusses.

An einer Mauer um eine der größten Gruben inmitten der Fußgängerzone erklärt die Regierung des Bezirks Huangpu das Gedränge: „Die Nanjing Road hat eine Geschichte von mehr als hundert Jahren. Sie ähnelt bei Tag und Nacht einem prächtigen Drachen.“ Obacht! Wenn in China die Mauern poetisch werden, weiß man, dass die Politik Großes vorhat. Richtig, erfährt der Passant, das Ziel der Hoch- und Tiefbauten im Zentrum der Stadt ist gewaltig: „Die Nanjing Road, die Ansammlung von Wundern, erlangt weltweiten Ruhm und ewigen Glanz.“

Unbescheidener formuliert die Bezirksregierung ihre Vision nur noch in einem Entwicklungsplan für die Straße: Der Ostteil der Route mitsamt der historischen Uferpromenade, dem Bund, soll bis zur Weltausstellung 2010 „zur berühmtesten, längsten, schönsten kommerziellen Destination für Fußgänger in der Welt“ werden. Damit der Traum Wirklichkeit wird, hat die Bezirksregierung – zum ersten Mal in der chinesischen Geschichte – einen kapitalistischen Berater ein Projekt dieser Größenordnung planen lassen. McKinsey & Company soll die Idee realisieren helfen. Es wird nicht gekleckert, sondern geklotzt: 20 Milliarden Yuan (1,9 Milliarden Euro) soll die Metamorphose vom kommunistischen zum kapitalistischen Konsumparadies zwischen 2001 und 2010 verschlingen. 95 Prozent der Investition sollen von privaten Investoren getätigt werden, der Rest kommt vom Staat. Der Umsatz des Handels wird sich dadurch auf 4,8 Milliarden US-Dollar verdreifachen, versprechen die Unternehmensberater.
Weltspitze.

Die Umsetzung der Vision überwacht eine Direktorin des Bezirks, Xie Yun. Sie empfängt Besucher in einem modernen Konferenzzimmer in der zehnten Etage des funkelnden Bezirksamtes Huangpu. Neben sich eine Tasse Tee, vor sich einen Kalender. Von revolutionärer Schwärmerei keine Spur, politische Parolen kommen der Genossin nicht über die Lippen, wenn sie über die Bedeutung der Nanjing Road und deren Probleme spricht. Funktionalität steht bei den Funktionären derzeit hoch in Kurs: „Die Nanjing Road ist ein Symbol Schanghais, wer sie nicht besucht hat, hat Schanghai nicht besucht. Doch in den neunziger Jahren verlor sie ihre Funktion als Haupteinkaufsstraße.“

Eine Tragödie. Die Nanjing Road! Sie galt in den wilden zwanziger und dreißiger Jahren als eine der sieben interessantesten Straßen der Welt. Hier rieben sich West und Ost, Reich und Arm, westlicher Imperialismus und chinesischer Patriotismus, Kulis und Kapitalisten. Dann kam der chinesische Bürgerkrieg, 1937 die Besetzung durch japanische Truppen, 1946 erneut ein Bürgerkrieg und 1949 Mao Zedong mit den Kommunisten. Pomp wurde durch Propaganda ersetzt, die Herrschaft des Kapitals durch die der Kader und Kulturrevolutionäre. 40 Jahre später waren Tanz und Gaumenschmaus verschwunden, geblieben waren Büros und staatliche Kaufhäuser. Die Prachtmeile war zu einer chaotischen, mit Fahrrädern, Taxis und Bussen verkeilten Verkehrsschlagader herabgesunken.

Als China Anfang der achtziger Jahre seine Öffnung begann, reichte der Abglanz alter Pracht zwar aus, Kunden und Touristen zu locken. Im modisch kollektivierten China galt die Meile noch immer als quirliges Einkaufsparadies.

Doch in den neunziger Jahren zogen andere Viertel innovative Boutiquen und Auslandskapital an – und damit der Nanjing Road Käufer ab. Schanghais Jugend feiert ihre modische Befreiung von Mao-Anzügen seitdem im Gebiet um die Huaihai Road. Ihre Seitenstraßen werden gesäumt von Platanen, europäischen Villen und Reihenhäusern, gebaut von Franzosen, die diesen Teil Schanghais vor dem zweiten Weltkrieg verwalteten. Kaufhäuser, kleine Läden, Kneipen, Restaurants und der Xiangyang-Basar machen den Bummel zum Erlebnis. Hier liegt das Paulaner Bräuhaus. Hier verrühren Köche die chinesische Küche mit japanischen, amerikanischen oder europäischen Stilen zu neuen In-Lokalen. Hier fühlen sich Ausländer wohl, aber auch die westlich orientierte chinesische Elite.

Eine Straße von Weltruf – und pro Kopf rund ein Euro Umsatz

Im Südwesten wurde das Wohngebiet Xujiahui in ein gigantisches Einkaufs- und Büroviertel umfunktioniert. Zehntausende Menschen wurden von der Bezirksverwaltung umgesiedelt. Gleichzeitig rückten Supermärkte und Kaufhäuser in Stadtteile, Vorstädte und die regionalen Metropolen vor. Der wieder erlaubte bourgeoise Luxus schmähte seine einstige Heimat und siedelte sich statt in der Nanjing, in der Nanjing West Road an. So wirbt vor dem Büro- und Konsumpalast Plaza 66 eine riesige Handtasche von Louis Vuitton um zahlungskräftige Kundschaft. In der Luxus-Mall ballen sich auf vier Etagen von Armani bis Zegna die Top-Marken der Welt, Deutschland ist durch Hugo Boss und den Küchenbauer Poggenpohl vertreten.

Düstere Aussichten für die Nanjing Road. „Wir erkannten, dass die Straße radikal reformiert werden musste, wenn sie ihre Stellung halten sollte“, sagt Bezirksdirektorin Xie Yun. Multifunktionalität hieß das Ziel: eine Straße nicht nur zum Einkaufen und Besichtigen, sondern auch für Büros und Galerien, ein Ort zum Essen und Verlustieren.

Die erste Verbesserungsidee der Regierung war die beste. 1999 verbannten die Bürokraten Autos, Busse, sogar die allgegenwärtigen Radfahrer aus dem Mittelstück der wichtigen Ost-West-Verbindung. „Die Einrichtung der Fußgängerzone hat die Grundlage für die weitere Entwicklung gelegt“, sagt Xie. Danach war die Stadt mit ihrem Latein am Ende. „Die Straße hatte nur ihr Aussehen verändert, nicht aber ihre Funktion.“ Zehn Yuan pro Kopf gab jeder Passant im Schnitt aus, eine Kaufkraft von etwa einem Euro oder drei Halbliter-Flaschen Oolong-Tee. „Die Leute sind gekommen und sofort wieder gegangen“, sagt Xie Yun, „sie konnten die gleichen Produkte ja bei sich zu Hause oder anderswo kaufen.“

Bezirksbürgermeister Xu Jianguo fasste schließlich einen mutigen Entschluss: Ein ausländischer Berater sollte den Plan für die Wiederbelebung der einstigen Prachtstraße entwerfen. Xie: „Wir brauchten internationale Consultants, um eine internationale Perspektive zu bekommen.“ Und Informationen aus erster Hand: „Chinesische Institute kopieren oft nur alte Informationen.“

Ende 2000 fiel die Wahl auf McKinsey. „Das Unternehmen hatte Erfahrungen auch in Entwicklungsländern und viele Erfolge“, erklärt die Spitzenbürokratin. Trotzdem waren die Widerstände in der Bürokratie zunächst stark. „Es war wirklich sehr teuer, zudem waren wir nicht sicher, ob die Berater-Vorschläge gut genug wären und ob sie den Charakter der Straße verstünden“, erinnert sich Xie. „Deshalb hatten wir uns auf ein Scheitern eingestellt. Xu Jianguo sagte: ,Falls das Projekt fehlschlägt, werde ich unter starken Druck geraten‘.“

Auch die Berater in China betraten Neuland: eine Lokalregierung als Kunden, die Entwicklung einer gesamten Nachbarschaft und die Begleitung der Renovierung über einen Zeitraum von fast zehn Jahren. „Es war wahrscheinlich das erste Projekt dieser Art in China“, sagt Jonathan Woetzel, Direktor im Greater China Office von McKinsey. Und es erwies sich als kompliziert: „Bei unseren Public-Sector-Studien in anderen Teilen der Welt sagen wir unseren Klienten, wie sie ihre Arbeit effizienter organisieren können“, so Woetzel, „bei der Nanjing Road geht es hingegen um Strategie bei der Einzelhandels- oder Wirtschaftspolitik.“

Und um einen Klienten mit geringer Erfahrung. Chinesische Regierungen, vom Dorf bis zur Zentrale in Peking, sind als Eigentümer von Staatsbetrieben zwar wichtige Wirtschaftsakteure. Die Einführung der Marktwirtschaft jedoch überfordert die meisten. Nach Jahren der Planwirtschaft sind die Diener des Staates geschult im Taktieren und Ausführen von Befehlen – strategisches Denken ist ihnen fremd. Eine Komplikation, deren Ausmaß sich auch den Beratern nicht auf Anhieb erschloss. „Wir waren auf die Großartigkeit des Projektes vorbereitet, aber es ist weit komplexer, als wir anfangs dachten“, gesteht McKinsey-Projektleiter Li Guangyu, gebürtiger Rot-Chinese, Kadersohn und über Montreal, London und Paris nach Schanghai zurückgekehrt. Dann lädt er zum Essen ein. „Ich möchte Ihnen etwas zeigen.“

Wenig später im renovierten Viertel Xintiandi. „Das ist für mich die Essenz Schanghais“, sagt Li. Die Verschmelzung von Ost und West. Chinas Beitrag zum Kosmopolitismus. Er zeigt auf die Fassaden der typischen Hofhäuser, den Shikumen. Davor stehen Stühle, Tische und Sonnenschirme, dahinter gibt es Starbucks Coffee oder moderne chinesische Küche. Abends ist es rappelvoll. „Westler lieben das chinesische Ambiente mit westlichem Lebensstil“, so Li, „Chinesen das fremde westliche Ambiente im traditionellen Umfeld.“

Geschaffen haben dieses Kleinod Investoren aus Hongkong. Bis auf einige Außenmauern rissen sie die Häuser ab und bauten dahinter neu. Die Höfchen wurden zu Plätzen, nur hier und da erinnert eine Gasse an die Enge der wirklichen Shikumen. Eine ähnliche Umwandlung des historischen Erbes schwebte McKinsey zu Beginn des Projektes auch für die Nanjing Road vor. Doch der Weg von der Idee bis zum Zehnjahresplan war weit.

Schritt 1: Zielbestimmung

2001 formten die Berater aus den vagen Vorstellungen der Regierung eine Vision. Es geht nicht länger nur um mehr Umsatz, die Straße soll Schanghais Anspruch als führende Weltmetropole des 21. Jahrhunderts untermauern.

Schritt 2: Identifikation der Akteure

Wer weiß was? Wer zieht welche Fäden? Im Dickicht der Zentral-, Stadt- und Bezirksregierungen mit ihren informellen Hierarchien und diversen Staatsunternehmen die wirklichen Entscheidungsträger auszumachen war der wichtigste und schwierigste Schritt. „Ohne die Hilfe der Regierung wären wir hieran vielleicht gescheitert“, sagt Li. Denn wer mit den offiziell vielleicht richtigen, in Wahrheit aber nicht entscheidenden Kadern verhandelt, hat in China schon verloren. Letztlich diskutierten 100 Leute mit. Power-Point-Präsentationen waren den meisten ebenso fremd wie projektorientiertes Arbeiten über Abteilungsgrenzen hinweg. McKinsey musste die Teilnehmer parallel zur Beratung trainieren. „Nicht typisch für uns“, sagt Li.

Schritt 3: Bestandsaufnahmen

Fußarbeit – die Teammitglieder interviewten rund 1000 Passanten auf der Nanjing Road.
Brainstorming – Architekten, Makler, Künstler, Filmregisseure und Werbefirmen steuerten ihre Ideen bei.

Benchmarking – was haben andere Straßen, was die Nanjing Road nicht hat? Welche Merkmale zeichnen Einkaufszonen in Top-Lage aus? Mithilfe der Kollegen weltweit analysierte McKinsey Schanghai die Erfolgskriterien der neun bekanntesten Einkaufszonen der Welt. Als Vorbild fungierten die Champs Elysées in Paris, die Mailänder Via Montenapoleone, Carnaby- und Oxford Street in London, Barcelonas Las Ramblas, die Ginza in Tokio, die Marina in Singapur, der Times Square in New York und die Michigan Avenue in Chicago.

Das harsche Ergebnis für China: Die Nanjing Road erfüllt nur die wenigsten Kriterien für eine Straße, die Publikumsmagnet sein will. Zwar genießt sie Weltruf, und die einmalige Architektur lockt Besucher zuhauf. Aber sie lockt weder etablierte Marken noch junge, erfrischende Anbieter; sie bietet kein angenehmes Umfeld und keine verkehrsgünstige Umgebung. Passanten beschweren sich über die altbackenen und langweiligen Sortimente der staatlichen Kaufhäuser, über Menschenmassen und den Mangel an Ruhezonen, Restaurants und Unterhaltung. Ihr Geld geben sie deshalb lieber anderswo aus.

Selbst die Regierung hält sich mit harscher Kritik nicht zurück – und rügt sogar Ikonen wie das Peace Hotel, das seit Urzeiten als der Kern des wichtigen Bund gilt. Auf seinen Tischuntersetzern nennt sich das Haus „das berühmteste Hotel der Welt“. Doch Genossin Xie schimpft auf den Eigner, die staatliche Jin-Jiang-Gruppe: „Das Peace Hotel ist verglichen mit anderen schlecht.“

Aus der Studie wird ein Zehnjahresprojekt

Rein optisch ist es eine Augenweide. Art-déco-Eingangshalle, überall edle Hölzer, Marmor, bunte Ornamente, vergoldete Stuck-Drachen. Hier hat sich die Händlerfamilie Sassoon ihr Denkmal gesetzt. Der Blick von der Dachterrasse über den Huangpu-Fluss auf die Skyline der neuen Hochhausstadt Pudong – unvergesslich.

Touristen und Geschäftsleute steigen dennoch lieber in den neu gebauten Ablegern der großen Hotelketten ab. Das Parkett der Ballsäle bleibt unbetanzt, die Dachterrasse selbst an Wochenenden halb leer. Den Angestellten ist kaum ein Lächeln zu entlocken. Telefone müssen Gäste schon mal selbst reparieren. Das Haus ist bekannt für schlechten Service und Ideenlosigkeit.

All das findet McKinsey innerhalb der ersten drei Monate heraus. Aus dem Projekt wird ein Mammut-Auftrag, begleitet von immer neuen Überraschungen, endlosen Diskussionen – und unerwarteten Kompromissen. So gaben die Berater beispielsweise in der Frage der riesigen Neon-Reklamen in der Fußgängerzone nach, die die Fassaden verschandeln. „Wir dachten, die seien passé“, erzählt Li, „die Beamten widersprachen, das sei nun mal typisch Schanghai.“ Sogar in den Medien wurde die Diskussion schließlich ausgetragen, ein Novum. Eine Umfrage löste die Gegensätze einvernehmlich. „Die Konsumenten mögen die riesigen Neonreklamen tatsächlich“, sagt Li. „Also gaben wir unser Okay für die Mittelsektion, aber nicht für den Bund.“ Abgemacht. Nächster Punkt.

„Es war eine riesige Übung – von der Kalkulation der Gesamtinvestition in den nächsten zehn Jahren über die konkreten Umsetzungspläne bis hin zu den Vorschlägen für Design und Material“, erinnert sich Jonathan Woetzel. Und es war höchste Zeit: Mit viermal mehr Publikumsverkehr als andere Top-Straßen in der Welt machten die Läden der Nanjing Road nur die Hälfte von deren Umsatz.

Nur mit einer Radikalkur würde sich die Realität mit der Vision in Einklang bringen lassen, entschieden die Berater. Und so klingt auch das Konzept. Der Begriff Nanjing Road wird auf die gesamte Nachbarschaft samt Seitenstraßen, Platz des Volkes und Bund erweitert. Danach heißt es: weg mit architektonischen Schandflecken, raus mit defizitären staatlichen Kaufhäusern, rein mit ausländischen Investoren und ihren Ideen.

Die Straße wird in drei Erlebniswelten aufgeteilt. „Weil man nicht alle Alters- und Einkommensschichten gleichmäßig bedienen kann“, erklärt Li. Der Ostteil der Nanjing Road mit dem Bund soll zum Luxusviertel umfunktioniert werden. Li nennt den Abschnitt eine der besten Lagen der Welt für die Hauptfilialen von Luxusmarken. Spitzenrestaurants, kleine, edle Boutiquen und Hotels sowie Apartments für Reiche sollen das Angebot abrunden.

In der Fußgängerzone wird man sich wie bisher auf die Mittelschicht konzentrieren. Restaurants, Modemarken, moderne Kaufhäuser und „Category-Killers“ wie das Kinderspielzeug-Kaufhaus „Toys ’R Us“ sollen die Massen in Spendierlaune versetzen.

Der Teil um den Platz des Volkes ist der Jugend und Kultur gewidmet. Die Regierung ist bis heute vom Konzept der Berater begeistert und zieht den Plan durch, nicht zuletzt bestärkt durch die Beförderung von Bezirkschef Xu zum Wirtschaftsleiter Schanghais. Beamtin Xie und Berater Li loben die gute Zusammenarbeit. „Es ist fast schon gefährlich verführerisch für Consultants“, sagt Li. Denn anders als so mancher Industrie-Klient setzen die Beamten das Gehörte oft schnell in die Tat um. Planwirtschaft hat auch ihr Gutes.

Erhalt und Wirtschaftlichkeit sind nicht länger ein Widerspruch

Die Kader wandeln sogar ihr Denken. „Das ist der eigentliche Erfolg“, meint Li. Die Beamten haben erkannt, dass sich der Erhalt des Alten lohnt – und rechnet. In der Bürokratie gibt es heute zwei Strömungen: Für die einen bedeutet Erhaltung die Aufrechterhaltung des Status quo. Sie wollen ihre Teigtaschen wie früher am Straßenstand kaufen. Die zukunftsorientierte Fraktion, inklusive McKinsey, will wie in Xintiandi das Erbe zum Zweck der Wertschöpfung weiterentwickeln.

Und feiert erste kleine Erfolge. So haben die Berater kürzlich ein Dutzend weiterer erhaltenswerter Stätten in Schanghai identifiziert, etwa die Lagerhäuser am Suzhou-Fluss. Die Regierung wollte sie abreißen, McKinsey drängte auf Umwandlung, weil Lagerhäuser durchaus wertvoll sein können. „Dass sie das gemacht haben, ist einer der größten Erfolge“, sagt Li. „Darauf bin ich sehr stolz.“ Vor fünf Jahren hätte niemand Erhalt und Wirtschaftlichkeit gemeinsam gedacht, inzwischen ist das Konsens.

Trotzdem: Bei der Modernisierung der Nanjing Road müssen jede Menge Hürden überwunden werden. Der Rechtsanwalt Bernd-Uwe Stucken, Partner der deutschen Kanzlei Haarmann Hemmelrath in Schanghai, kennt die wichtigste aus dem Effeff: „Bisher durften Ausländer in China nur Produktions- und keine Handelsgesellschaften gründen.“ Ausnahmen gab es bislang nur für einige wenige Konzerne wie den deutschen Großhändler Metro und die französische Supermarktkette Carrefour. Mit amtlichem Segen dürfen sie in China Läden bauen. Der Wettbewerb hingegen konnte bisher nur mühsam aktiv werden – mit Konstruktionen, die zwar nicht illegal, aber auch nicht hieb- und stichfest waren. Oft ziert die Unternehmen zwar ein westlicher Name an der Tür. „Aber de jure führt ein Chinese das Geschäft“, erklärt Stucken.

Die Behörden tolerieren das, nach der alten Maxime: Erst einmal schauen, was passiert. Läuft es gut, wird legalisiert, läuft es schlecht, wird reguliert, im schlimmsten Fall verboten. Asiatische Investoren haben mit dieser Praxis keine Probleme, solange der voraussichtliche Ertrag stimmt. Anders die Europäer, vor allem die Deutschen: „Die wollen auch in der Grauzone noch Sicherheiten“, sagt Stucken, „aber das ist der Punkt, an dem wir Rechtsanwälte passen müssen.“

Für Juristen wie Mandanten ist Besserung in Sicht. Im April dieses Jahres hat China die Bedingungen für Investitionen gelockert, um den Richtlinien der Welthandelsorganisation Genüge zu tun. Seit Juni sollen internationale Investoren auch in den Einzelhandel investieren dürfen – wenngleich noch bis zum 11. Dezember 2004 mit geografischen Restriktionen. Ob diese Öffnung auch de facto wirkt oder ob restriktive, bürokratische Genehmigungsverfahren die Investitionslust bremsen, wird sich zeigen. Die ersten Anträge liegen bereits in Peking. Sollte sich China wirklich öffnen, ist für Stucken klar: „Dann werden die Ausländer noch mehr Vorteile haben als bisher.“

Ihr Geld werden sie dennoch schwer loswerden. Die Eigentümerstrukturen an der Nanjing Road machen große Bauvorhaben kompliziert – und teuer. Zwar gehören die meisten Gebäude letztlich dem Staat, wie es sich für ein kommunistisches Land gehört. Die Eigentumsrechte sind jedoch verwoben – auf diversen Ebenen in verschachtelten staatseigenen Unternehmen.

Manche Häuser haben sogar mehrere Eigner. Das Peace Hotel beispielsweise gehört in Teilen der China Telecom. Und die Staatsbetriebe agieren nach kapitalistischen Motiven. Weil sich die Stadt- oder Bezirksregierung öffnet und nicht mehr befiehlt, wurden die Beteiligten von Anfang an von der Bezirksregierung in die Pläne einbezogen, zudem werden Marktpreise bezahlt, statt zu enteignen. Der neue politische Stil ist willkommen, aber er dauert länger und kostet mehr als früher. „Zu Beginn des Nanjing-Road-Projektes konnten die Firmen den Reiz nicht sehen, jetzt will jeder einen Teil abhaben“, sagt Li.

Prachtvolle Fassaden – und erbarmungswürdige Wohnungen

Auch die Umsiedlungen der Anwohner, die so manches Bauvorhaben stören, sind nicht mehr so einfach wie früher. „Heute ist es ein harter Job, weil wir die Menschenrechte der Anwohner schützen“, behauptet Bezirksdirektorin Xie Yun. Wurde früher Platz für ein Hochhaus oder eine Autostraße gebraucht, wies man den Anwohnern eine neue Wohnung zu, und weg waren sie. Inzwischen unterwirft sich die Regierung dem Markt. 200.000 Yuan (19.550 Euro) Entschädigung werden laut Xie für einen Umzug üblicherweise gezahlt, gerade genug, um sich in einer der neuen Trabantenstädte eine Einzimmerwohnung mit Küchlein zu kaufen. Für Bewohner der Nanjing Road blättert die Regierung nach eigenen Angaben schon mal 350.000 Yuan (34.200 Euro) hin, um sie zum Auszug zu bewegen.

Grundsätzlich stößt der Staat auf wenig Widerstand, weil die Wohnungen nicht selten in einem erbarmungswürdigen Zustand sind. Gleich hinter den Glitzerfassaden der ehemaligen Prachtmeile zieren malerische zweistöckige Häuschen eine schmale Straße, wie Wohlstandseuropäer sie zum Anschauen lieben. Im Erdgeschoss sind Blumengeschäfte und schmuddelige Restaurants. Oben hängt ein alter Herr seine Wäsche im Fenster zum Trocknen auf. Doch im Hinterhof vertreibt Frau Wang jeden Anflug von Sozialromantik. „Journalist sind Sie?“, fragt die 75-Jährige. „Kommen Sie mit. Die Welt soll sehen, wie wir leben!“

Frau Wang drängt vorbei an einem Mann, der gerade sein Geschirr wäscht, verschwindet hinter einer Tür, quetscht sich im schmalen Gang an einem Gaskocher vorbei und öffnet das Türchen zu ihrer Wohnung: „Schauen Sie, hier leben wir zu siebt.“

Der L-förmige Raum ist vielleicht 18 Quadratmeter groß. Etwa drei Meter breit, vier Meter hoch. Ein Ventilator verquirlt die stickige Sommerluft. Durch die aufgerissenen Fenster dringt der Geruch von Bratfisch. Zwei Hochbetten schaffen Liegefläche und ein wenig Platz am Boden. Zwischen Kommoden, Fernseher und einem abgenutzten Sofa ist trotzdem kaum Platz, um sich zu drehen. Die Küche? Wird mit den Nachbarn geteilt. Bad und Toilette? Sind irgendwo, weit weg, bis zu 300 Meter manchmal. Wer hier geblieben ist, schätzt Nachbarschaft und zentrale Wohnlage mehr als ein eigenes Klo mit Wasserspülung.

Frau Wang träumt davon, dass die Häuser renoviert werden und sie wohnen bleiben darf. Für wahrscheinlicher hält sie den Auszug, irgendwann. „Ich sorge mich, dass die Entschädigung nicht reicht, um eine Wohnung in der Nähe zu kaufen.“ Zwei ihrer vier Söhne sind ohne Arbeit. „Nach so vielen Jahren Kommunismus verbessert sich unser Leben nicht, es wird nur schlechter“, schimpft sie.

Erste sichtbare Erfolge – und viele ungelöste Probleme

Die ausländischen Investoren feilen derweil an ihren Bau- und Modernisierungsplänen. „Die Märkte nehmen das Konzept sehr gut auf“, sagt Berater Li. 2001 hat McKinsey das Nanjing-Road-Forum eingerichtet. „Das erste Jahr war schwer“, erinnert Projektleiter Li. „Wir mussten fast betteln, um Top-Leute zum Kommen zu bewegen. Im vergangenen Jahr haben die Leute uns bedrängt, damit sie teilnehmen durften.“

Bis das Mammut-Projekt Wirklichkeit geworden ist, wird es noch dauern, die ersten Erfolge sind heute schon sichtbar. Unter dem Platz des Volkes wurde eine unterirdische Shopping-Passage für Nippes, Schmuck und junge Mode eingerichtet. Auf der anderen Straßenseite hat sich das Raffles City Shopping Centre aus Singapur niedergelassen. Hier tummelt sich wie von McKinsey gewünscht die Jugend.

Auch der Mittelteil der Nanjing Road verbucht die ersten spürbaren Fortschritte. Ausländische Fastfood-Ketten wie Pizza Hut, Kentucky Fried Chicken, McDonald’s oder Yoshinoya aus Japan fertigen die Massen ab. Preiswerte asiatische Modemarken bereichern die Einkaufslandschaft. Japans Discounter Uniqlo hat sich einquartiert, Giordano aus Hongkong hat sogar seinen weltweit größten Laden in die Fußgängerzone gesetzt. Schräg gegenüber buhlt Rivale Baleno im Techno-Look auf vier Etagen um Kunden. „Die Nanjing Road ist die bekannteste Geschäftsstraße Schanghais, ein guter Platz für Touristen“, begründet der blond gefärbte stellvertretende Ladenchef Cao Liang die Ortswahl. Von den 18 Baleno-Läden in Schanghai mache dieser den besten Umsatz.

Selbst traditionelle Kaufhäuser wie das 1882 gegründete Caitongde-Haus, Schanghais älteste Apotheke für chinesische Medizin, spüren den Aufschwung. „Wir haben jetzt mehr Kunden als früher“, sagt Vize-Chef Lu Jinsheng. Doch das allein reiche noch nicht, meint er, die Nanjing Road brauche mehr spezialisierte Geschäfte und Restaurants, die Kaufhäuser müssten „ein Einkaufserlebnis bieten“. Auch Familie Cheng, sechs Personen, vier Generationen, aus der Exportmetropole Kanton bei Hongkong sieht noch Verbesserungsbedarf. „Zu wenig Platz zum Sitzen und Ausruhen, kaum Schatten“, schimpft Vater Cheng. „Der Service ist auch nicht gut, unhöflich. Unsere Beijing Road ist viel besser.“

Die größte Baustelle auf dem Weg zur Moderne ist jedoch das künftige Luxusviertel. Wie vor zehn Jahren reiht sich heute Laden an Laden. Schmierige Imbiss-Stände verkaufen Garnelen in den Torbögen zu den Hinterhöfen. Von den vier Spuren sind oft nur zwei zu befahren, weil die Kunden die Straße aus Platznot zum Gehweg machen. Dazwischen quetschen sich Autos, Busse und Fahrräder. Es gibt noch viel zu tun.

Immerhin ein Hauch von Luxus weht schon durch das Viertel. Im Restaurant „M on the Bund“ tafeln Konsule, Manager und neureiche Chinesen zur Fusion-Küche der Australierin Michelle Garnaut, die auch das legendäre Hongkonger „M on the Fringe“ betreibt. Gegenüber im Haus „3 on the Bund“ hat ein weiterer Gourmet-Tempel aufgemacht, „hochmoderne Perfektion, aber keine Seele“, raunt ein Connaisseur. Beide Läden sind für chinesische Verhältnisse teuer. Im „M on the Bund“ kostet ein Menü ohne Getränke pro Person mehr als 300 Yuan (29 Euro) – das Zehnfache eines Mittelklasse-Dinners, hundertmal teurer als ein Arme-Leute-Frühstück aus drei Baozi, etwa tennisballgroßen gefüllten Teigtaschen.

Eröffnungsfeier mit 70 Millionen Gästen

Auch die Haute Couture hat vorsichtig Einzug gehalten. Im Erdgeschoss von „3 on the Bund“ hat Armani kürzlich seinen ersten Shop in Schanghai eröffnet. „Es ist eine einmalige Lage“, erklärt Ophelia Zeng, die Ladenchefin, „sie trifft das Image unserer Marke perfekt.“ Die meisten Kunden, erzählt sie stolz, seien Einheimische, obwohl die italienische Mode wegen der Zölle und Mehrwertsteuer sogar 10 bis 15 Prozent teurer ist als in Hongkong. Ob sich das Geschäft rechnet, will Zeng nicht verraten. Nur so viel: „Ich würde es begrüßen, wenn sich hier mehr Marken ansiedeln würden. Wir brauchen mehr Verkehr.“

Neue Mieter müssen sich jedoch noch gedulden. Zwar werden Nummer 12 und 18 on the Bund gerade renoviert. Die Sanierung des Ostteils der Nanjing Road und des Bund soll jedoch erst zu den Olympischen Spielen 2008 in Peking abgeschlossen sein. „Einige Projekte sind sogar so kompliziert, dass wir als Deadline 2010 eingeplant haben“, sagt Bezirksdirektorin Xie Yun. Dann findet die Weltausstellung in Schanghai statt und soll die höchste Besucherzahl in der Geschichte anlocken: 70 Millionen Gäste sind geplant. Ein idealer Zeitpunkt, die Nanjing Road wieder in der Elite-Liga der Konsumparadiese zu verankern.

Die Geschichte der Nanjing Road
Von der Glitzermeile zum Revolutionsboulevard und wieder zurück

Bevor die Europäer und Amerikaner Schanghai zu ihrer Quasi- Kolonie machten, war die Nanjing Road nur eine Verbindungsstraße nördlich der Stadt. Noch 1870 säumten zweigeschossige Holzhäuser die staubige Straße. Dann gründeten Engländer und Amerikaner die so genannte Internationale Konzession direkt am Fluss nördlich des Zentrums, die Franzosen verwalteten das Gebiet westlich davon. Die Nanjing Road wurde zum Herzen des kapitalistischen Kommerzes.

Ein bunter Stil-Mix aus gotischen Türmchen, griechischen Domen, barocken Korridoren und spanischen Veranden ersetzte die Holzhäuser. Wie durch ein Wunder überlebten die Prachtbauten der westlichen Imperialisten den Krieg, die Japaner, die Befreiung durch die Kommunisten, die Wirren der Kulturrevolution und so manche ästhetische Verwirrungen von Architekten.

Selbst in der seit etwa 1990 grassierenden Bauwut machten die Bulldozer einen Bogen um die Zone. Von diesen unglaublichen Zufällen profitiert die Nanjing Road heute.


Dieser Text stammt aus unserer Redaktion Corporate Publishing.