Projekt Deutschland: neu denken

von Michael Jung und Jürgen Kluge




Seit November 2005, ein gutes dreiviertel Jahr also, regiert sie nun unser Land, jene große Koalition, die eine Kompromisslösung war, natürlich. Und auf der doch so viele Hoffnungen ruhten: Würde sie sich als Motor für Reformen erweisen? Würden jene viel beschworene neue Nüchternheit, die gemeinsame Verantwortung in bewegungsfähiger Mehrheit und der parteienübergreifende Zwang zu solidem Fortschritt das Politikversagen der vergangenen Jahre überwinden? Würde alles gut werden? Wird es zumindest besser?

Nach dem Wechselbad der vergangenen Jahre waren die Erwartungen hoch. Erleichtert wollten wir uns von einer Reformpraxis verabschieden, bei der es zwischen rhetorisch radikalen Reformkonzepten und politischer Pragmatik zu wenig mehr als zum Klein-Klein inkrementaler Schritte reichte. Die Sehnsucht nach dem großen Wurf, dem Ruck – würde sie sich in einer Politik der kleinen Schritte erfüllen, diesmal aber auf einem sicheren Kurs?

Momentan bieten die beschlossenen Programmpakete im politischen Kernbereich von Wirtschaft, Arbeitsmarkt und Sozialpolitik noch wenig mehr als ein Re-Arrangement vorhandener Requisiten. Faktisch navigiert die große Koalition in eng begrenzten Handlungsräumen, der „Sozialauftrag“ des Wahlausgangs hat sie nicht vergrößert.

Dabei lässt der Druck nicht nach. Die Schere zwischen oft prosperierenden Einzelwirtschaften und einer erodierenden Gesamtwirtschaft geht weiter auf. So wie wir aufgestellt sind, nimmt uns die Globalisierung mehr Arbeitsplätze, als sie gibt. Demografische Ungleichgewichte kommen näher. Die kapitalmarktgetriebene Wirtschaftsdynamik produziert in Deutschland mehr Verlierer als Gewinner, so scheint es. Hoffnungen auf eine konjunkturelle Befreiung des Arbeitsmarktes haben keine Basis. Die Sanierung der Staatsfinanzen ist ohne Alternative – und beschneidet Möglichkeiten. Nachhaltig hohe Arbeitslosigkeit, der schrittweise Kollaps der sozialen Sicherungssysteme, weiter abnehmende staatliche Handlungsfähigkeit – wie kommen wir da in die Offensive?

Unser Befund: so nicht! Das System Deutschland mag noch eine Weile „halten“, unter den extrem günstigen weltkonjunkturellen Bedingungen dieses Jahres 2006 mögen wir an den Wiedergewinn von Stabilität glauben dürfen. Aber machen wir uns nichts vor: Die Lösungsräume, die wir der Wirtschafts- und Sozialpolitik derzeit zugestehen, sind zu klein, als dass man in ihnen das Land erneuern könnte. Um in einer sich rasch verändernden Welt wieder vorn mitspielen zu können, um Führung zu übernehmen, brauchen wir mehr und anderes.

Gut neun Monate nach Beginn dieser Legislaturperiode lohnt es sich deshalb, den Möglichkeitssinn zu schärfen: Welche Entwicklungen bestimmen das Spiel? Welche Interpretationen führen weiter? Wie groß könnten Lösungsräume sein? Was könnte gehen?

NEU DENKEN. STRUKTURWANDEL VERSTEHEN

Anders als früher beobachten wir derzeit mehrere Bewegungsdynamiken gleichzeitig: Globalisierung, Technologie, Kapitalmarktlogik, Demografie, geopolitische Spannungen, zunehmend fokussiert auf Energieressourcen. Damit können auch die zentralen Fragen nicht mehr mit den traditionellen Strategien nationaler Politik beantwortet werden: Wie wachsen? Wie soziale Solidarität ermöglichen? Wie wieder Einfluss auf kollektives und individuelles Verhalten gewinnen?

Nationale Wirtschaftspolitik, Sozialpolitik und Bildungspolitik finden in einem offenen Feld statt, dessen Bewegung nicht auf ein Grundmuster, einen Regelsatz reduziert werden kann. Der Erfolg politischer Initiative hängt davon ab, ob sie die Felddynamik richtig erkennt, die eigenen Aktionen in diesem Feld richtig fokussiert, die Wirkungswege richtig abschätzt.

Nehmen wir, pars pro toto, das Phänomen der Globalisierung. Ein Bündel von Trends wirkt hier im Zusammenspiel auf Deutschland. Die globale Verschiebung der Zentren wirtschaftlicher Aktivität ist für jeden spürbar. In sehr kurzen Zeiträumen werden Milliarden neuer Konsumenten „relevant“, bestimmen die Dynamik der Märkte. Mit hoher Geschwindigkeit passen sich Industriestrukturen an die rapiden Veränderungen von Angebots- und Nachfrageseite an. Globale Giganten und schnelle Zwerge konkurrieren und koalieren. Wertschöpfungsketten fragmentieren und integrieren. Alte Raumordnungen verlieren an Bedeutung.

Für Deutschland und die deutschen Unternehmen ergeben sich daraus Chancen wie Risiken. Weitsicht und Agilität entscheiden letztlich das Spiel. Der jetzt beschleunigte Umbauprozess, die Internationalität der deutschen Großkonzerne sowie der beeindruckende Erfolg unserer fokussierten Mittelständler belegen das. Aggressives Management setzt sich durch, Private Equity setzt hier Maßstäbe. Umsetzungsstärke und die Fähigkeit, die besten Talente aus einem zunehmend globalen Pool zu gewinnen, entscheiden über Sieg oder Niederlage. Für die jetzt 20- bis 30-jährigen Deutschen mit Spitzenausbildung waren die Chancen nie größer.

Die „alten“ Staatsgebilde jedoch geraten immer stärker unter Druck. Einerseits müssen sie sich an die Regeln des Neo-Merkantilismus halten: im Standortwettbewerb vieles anbieten, im Steuerwettbewerb auf viel verzichten. Andererseits sind sie „Stillhalter“ in einem Prozess mit mächtigen externen Effekten, insbesondere in Form wachsender Erwartungen an Sozialpolitik (der neuerdings globale Reichtumsausgleich durch das Marktgeschehen erscheint uns in seinen Folgen ja als inakzeptabel). Sie werden mehr noch als früher gefordert im Ausbau neuer Infrastrukturen, besonders bei intangiblen Ressourcen wie Bildung und Forschung oder auch Kultur. Die steigenden sozialen Kosten des freien Handels, die demografische Dynamik, die enormen Investitionsbedarfe in Wissen – die alten Staaten und ihre politischen Systeme sind in ihrer momentanen Aufstellung überfordert.

Zurzeit treibt Wirtschaft Gesellschaft, keine Frage. Entfesselte Märkte mit wenigen Profiteuren und vielen Verlierern bestimmen scheinbar das Spiel – ohne demokratische Willensbildung. Das macht Angst. Und lässt uns übersehen, dass Deutschlands Chancen, im Globalisierungsprozess zu gewinnen, eigentlich nicht schlecht sind, noch immer nicht! Wollen wir sie endlich nutzen, müssen wir uns jedoch auf den Strukturwandel einlassen und auch auf das Tempo, mit dem er sich vollzieht.

Wir müssen hinschauen.

Die alte Produktionsfunktion war bestimmt durch Boden, Arbeit und Kapital. In der Moderne erwächst Mehrwert aus den positiven Antworten auf neue Fragen: Gibt es Ideen, die etwas auslösen und eine Nachfrage, die dieses Neue unterstützt? Haben wir Gesetze und eine Kultur, die dafür sorgen, dass der Einzelne nicht nur kann, sondern auch will?

Jürgen Kluge

WO STEHEN WIR?

Strukturwandel der Produktion
Technischer Fortschritt, zunehmend immaterielle Güter und Arbeitsinhalte, global vernetzte Märkte und die Verknappung natürlicher Ressourcen verändern die Gestalt der mikro- und makroökonomischen Produktionsfunktionen. Damit verschieben sich auch originäre und organisierte Knappheiten von Produktionsfaktoren. Knapp und teuer wird vor allem der global mobile Faktor „Talent“ – während austauschbare, einfache Arbeit von immer mehr Menschen weltweit erledigt werden kann und im Preis sinkt.
Mit „kaufkräftiger Konsumnachfrage“ und „Steuer- und Regulierungskontexten“ kommen zudem neuartige standortrelevante Erfolgsfaktoren ins Spiel. Deutschland hat den Umstieg auf diese neue Produktionsfunktion teilweise verpasst. In der Realkapitalbildung liegen wir weit hinter den Vereinigten Staaten und Großbritannien. Dort haben tiefe Kapitalmärkte und dynamische Immobilienmärkte das kontraktive Muster der deutschen Binnenwirtschaft verhindert. Mit Blick auf das Humankapital haben wir unsere einst unstrittige Spitzenposition verloren. Der zu komplexe Steuer- und Regulierungskontext belastet.
Wo führt das alles hin?, fragen wir uns. Und verlassen uns gern auf den Markt. Der Markt kann die Grundlage seines eigenen Erfolgs aber nicht schaffen. Denn die Basis sind Werte, Einstellungen und Verhaltensweisen. Und die können wir nur gemeinsam definieren.

Michael Jung

Neue Raumlogik
Kreisläufe, die in einst nationalen Räumen definiert wurden, verlieren an Bedeutung, genauso wie lokale Fiskal- und Sozialpolitik. Drei Typen von Clustern bestimmen die neue Wachstumsdynamik: erstens Ballungsräume und Metropolen mit überregionaler Anziehungskraft wie etwa London oder Südkalifornien. Zweitens industrielle Cluster, die sich derzeit vielfach ein neues Dienstleistungsprofil erarbeiten. Drittens beobachten wir das Entstehen von Mega-Unternehmen mit globalem Radius, die sich in ihren Standortentscheidungen weitgehend von nationalen Gesichtspunkten freimachen. In allen drei Cluster-Kategorien hat Deutschland seit vielen Jahren stark an Boden verloren. Unsere Agglomerationswirkung ist trotz eigentlich attraktiver Standortprofile schwach, in den neuen Clustern sind wir kaum vertreten. 
Deutschland musste im vergangenen Jahrhundert dreimal nach einem Systemzusammenbruch ganz neu anfangen. In so einer Situation braucht es ein positives Zukunftsbild: Da wollen wir hin. Dass es uns heute so schwer fällt, eine positive Vision zu finden, hat vielleicht mit diesem dreimaligen Verlust zu tun. Wir haben keine Zuversicht.

Michael Jung

Erweiterte Kreislaufdynamik
Wachstum wird durch Kapitalstockeffekte beeinflusst, in zweierlei Hinsicht: Zum einen spielen der gefühlte und der reale „Vermögens-Wohlstand“ eine zentrale Rolle für das Konsumverhalten – Wertsteigerungen im Finanz- und Immobilienvermögen sind mit entscheidend für die dynamische Binnennachfrage etwa in den USA und Großbritannien – und relativieren rechnerisch niedrige Sparquoten. Zum anderen prägt die Dynamik eines erweiterten immateriellen Kapitalstocks – Bildung, Präferenzprofile, Qualität staatlicher Institutionen, Bevölkerungsdynamik – die Verhaltensweisen tief. Die Deutschen sparen, aber sie investieren kaum. Die kreislaufstimulierende Vitalität, ablesbar an Konsum oder Bevölkerungsdynamik, ist schwach oder unterdrückt.
In Deutschland ist Engagement von Kritik getragen, wir verbünden uns gern gegen etwas, aber selten für eine Sache.

Michael Jung

Zunehmend bipolare Wirtschaft
Internationale Wettbewerbsfähigkeit und nationale Wachstumschancen gehen nicht Hand in Hand, auch wenn es eine Reihe von Wechselbeziehungen gibt. Eine Inanspruchnahme und Steigerung einfacher Arbeitsangebote ist in entwickelten Volkswirtschaften ganz entscheidend eine Sache der Binnennachfrage – die in Deutschland aber trotz gutem Exportprofil nicht anspringt. Für offene Volkswirtschaften kommt es darauf an, eine innere Kaufkraftdynamik (bei nicht oder noch nicht im weltweiten Wettbewerb stehenden Produkten und Dienstleistungen) und externe Wettbewerbsstärke (mit Innovation und „Lean Production“) parallel zu entwickeln. In Deutschland hingegen wird derzeit das Produktivitätsspiel des Außensektors auch im Bereich der so genannten Non-Tradables, der lokalen Dienstleistungen, gespielt – mit negativer Wirkung für Arbeitsnachfrage und Konsum. Eine produktive Differenzierung der beiden Sektoren mit ihren unterschiedlichen Beiträgen zum Gesamtwohlstand findet nicht statt.
Wir müssen unser Bild von der Welt und von uns selbst verändern. Und fair sein: Haben die Menschen im Ausland, die heute erstmals einen Arbeitsplatz am Band haben, ihn nicht mindestens so sehr verdient wie wir in den vergangenen 30 Jahren?

Jürgen Kluge

Zunehmend bipolare Gesellschaft
Auf der Suche nach Wert diskriminieren Märkte und Wettbewerb unerbittlich. Integrierte Strukturen auf Angebots- und Nachfrageseite werden zerlegt. Knappheit – besonders von Talent – wird belohnt, mit immer höheren Anteilen der verfügbaren Wertschöpfung. Die sozialen Folgen dieser Entwicklung sind nicht Sache der Märkte – aber sie sind erheblich. Der Sozialbericht der Bundesregierung und die Vermögensanalysen des Zentrums für europäische Wirtschaftsforschung (ZEW), um nur zwei jüngere Veröffentlichungen zu nennen, sprechen eine deutliche Sprache.

Gesellschaftlicher Wohlstand und Teilhabe am Arbeitsmarkt werden immer stärker polarisiert: Einem eher kleinen Segment der Gewinner steht eine immer größer werdende Gruppe von Menschen in prekären Arbeitsverhältnissen oder ohne Arbeit gegenüber. Mit Blick auf die Altersvorsorge gerät ein beunruhigend großes Segment in Armutsnähe, die bürgerliche Mitte geht verloren. Dieser Trend ist international, spielt aber in Deutschland eine besondere Rolle, weil wir durch „Verzicht“ auf einen Niedriglohnsektor systematisch große Bevölkerungsgruppen von Arbeitserfahrung ausschließen – und damit eine kontinuierliche Dequalifikation riskieren.

 Angesichts dieser Standortbestimmung ist das Reaktionsmuster, das so vieles in Deutschland prägt, kaum verwunderlich: Wir gehen in die Defensive, Absichern und Sparen sind die ersten Reaktionen. Plausibel ist zunächst auch die Forderung nach dem Rückzug des Staates, nach „Freiheit für Wachstum“. Die Grenzen des Staatshandelns sind schließlich offenkundig. Paradox ist nur, dass gleichzeitig der Handlungsbedarf für Gemeinschaft steigt, denn die soziale Differenz nimmt zu, überall.

Was aber tun, wenn wir wissen, dass wir mehr Markt und mehr Gemeinschaft brauchen, dass aber der Staat als Agent von Gemeinschaft an Handlungsfähigkeit verliert?

In welche Richtung muss unser Umbau gehen – wenn wir nicht an die simple Formel glauben, man könne externe Best Practice einfach importieren? Deutschland hat in seiner Kulturgeschichte und in seiner Ingenieurs-Exzellenz seine eigenen historisch gewachsenen, nur hier so vorfindbaren Aktiva. Wir sollten nicht zweifeln, dass sie viel wert sind – unsere Exporterfolge und so manches andere sind ein eindeutiger Beleg. Aber diese „Buchwerte“ ins Spiel zu bringen scheint schwierig. Denn dazu müssen wir eine Fähigkeit wieder entwickeln, die uns schon lange nicht mehr auszeichnete: Wir müssen, im Bewusstsein unserer Stärken, den Umbau unserer Institutionen kollektiv bewerkstelligen – mit einer Geschwindigkeit, die das extern vorgegebene hohe Tempo übertrifft. Wir können uns einen größer werdenden Rückstand gegenüber agileren Wettbewerbern nicht leisten. Sonst bleiben wir in der Defensive.

Eigentlich müssten wir über eine strikte Subsidiarität nachdenken. Zunächst muss jeder für sich selbst sorgen. Wo das nicht reicht, sollten wir auf Mechanismen neuer Gemeinschaftsgefüge zurückgreifen, uns wechselseitig helfen. Und erst dann, aber wirklich erst dann, tritt der Staat ein.

Jürgen Kluge

NEU DENKEN. BLOCKADEN ÜBERWINDEN

Was hält uns eigentlich davon ab, den Lösungsraum größer zu definieren? Was hindert uns, das Tempo des Umbaus deutlich zu steigern? Ganz klar: In komplexen Konstellationen begegnet uns nicht selten eine „Schein-Rationalität“ des Stillstands – man hat sich mit Weltbildern arrangiert, die Auswege aus dem Status quo als zu schwierig erscheinen lassen, die unproduktive Kompromisse nahe legen und die ein nur langsames Vorgehen erzwingen. Auf solche mentalen Modelle, die schlecht konstruiert sind und objektiv falsche Denkwege und enge Denkgrenzen vorgeben, treffen wir auch in der deutschen Reformdiskussion. Wir haben falsche Bilder. Der gesellschaftliche Scheideweg
Gern wird argumentiert, man müsse sich jetzt endlich (und nur noch) entscheiden: links oder rechts, kapital-liberal oder solidarisch-sozial, USA oder Kontinentaleuropa ... Dem Wähler ist dieses Denkmodell aus der politischen Rhetorik vertraut, er hat allerdings seine Schwierigkeiten damit, wie der Wahlausgang und die Nöte der Demoskopen zeigen. Nicht ohne Grund.

Wir bilden das Modell einmal ab – durch eine Kurve, die einen Zusammenhang zwischen Regulierungsdichte und Wachstum zeigt („Freiheit und Wachstum“).

In diesem Modell steigt die Wachstumsdynamik, wenn sozial motivierte Überregulierung und Transfer-Überlast abgebaut und bislang nur latente Marktkräfte entfesselt werden. In den USA und in Großbritannien – so das Argument – werden damit weitaus höhere Wachstumsraten möglich als bei uns, die wir uns nur bis zu einer „Konsensgrenze“ vorwagen. Eine Grenze, die aus sozialer Solidarität oder Nostalgie allerdings viel zu knapp schneidet, als dass die angestrebte Dynamik erreicht würde. Das klingt nach einem klaren normativen Angebot – nur leider: Es stimmt so nicht. Weil „liberal“ und „sozial“ gar nicht die Gegenpole eines Spektrums bilden. Und doch glauben wir das. Warum eigentlich?

Gleichheit versus Ungleichheit
Präzisieren wir einmal unseren Gebrauch der Begriffe „sozial“ oder „liberal“. Im Wesentlichen geht es in allen Volkswirtschaften um einen Abgleich und Ausgleich zwischen den Kosten der Gleichheit und den Kosten der Ungleichheit – Gleichheitskosten als Wohlstands- und Wachstumslücke, Ungleichheitskosten als Verletzung der Vorstellungen von sozialer Symmetrie und wohl meist auch von Chancengleichheit. Besonders in Deutschland rückt – aus vielerlei Gründen – dieser Zusammenhang als „Gerechtigkeitsdilemma“ in den Vordergrund der Diskussion.

Unabhängig von der jeweiligen Weltanschauung gilt: Jeder Bürger und jeder Politiker macht sich ein Bild von Wert und Unwert von Gleichheit und Ungleichheit. Dieses Bild ist normativ, wir können also auch von „Kosten“ sprechen, die mit steigender Gleichheit anfallen oder mit steigender Ungleichheit. Wenn wir an eine Gegensatzlogik von „liberal“ und „sozial“ glauben (wie es das erste Bild nahe legt), dann konstruieren wir eine Möglichkeitskurve, die einen Trade-off, einen Zielkonflikt definiert: Die Kosten der Gleichheit steigen mit abnehmenden Kosten der Ungleichheit und umgekehrt. Eine liberale Position zeigt eine höhere Toleranz für Ungleichheitskosten, eine soziale für Gleichheitskosten. Damit ist die Gesellschaft zum Kompromiss zwischen Perspektiven gezwungen: Die Deutschen erreichen ihre „Konsensgrenze“, können aber nicht darüber hinaus.

Aber stimmt dieser Trade-off wirklich? Verläuft die Kurve unausweichlich so, oder geht es nicht vielleicht darum, eine Systemarchitektur zu realisieren, die uns zu niedrigeren Werten auf beiden Kostenachsen führt, zu einem „Zustand X“? Anders gefragt: Müssen wir nicht ganz anders denken?

Auch die deutsche Politik operiert in diesem Feld. Dabei werden zunächst Ineffizienzen beseitigt, erste Strategie. Wir erreichen die derzeitige „immanente Systemkurve“ durch Einsparungen in den öffentlichen Haushalten und Effizienzsteigerungen etwa in der Arbeitsmarktverwaltung oder im Gesundheitswesen. Eine zweite Strategie versucht, die Gleich-Ungleich-Balance anders einzustellen. Dabei weisen reduzierte Sozialleistungen in eine Richtung, die Reichensteuer in die andere. Man bewegt sich auf der Kurve hin und her und vermeidet – wählerorientiert – Ausreißer in Richtung Ungleichheit. Der Königsweg verläuft anders. Die dritte Strategie sucht den Sprung auf eine neue, niedriger verlaufende Kurve. Das bedeutet: simultane Reduktion der Kosten von Gleichheit und Ungleichheit und ein neues Gesamtsystem mit höherem Leistungswert in Richtung X. Der dritte Weg. Wie soll das gehen?

Treiber
Eine neue Kurve wird nur dann erreichbar, wenn es gelingt, die spezifische Systemleistung einer Wirtschaftsgesellschaft, besser: einer politischen Ökonomie zu steigern. Denn dann sorgen leistungsfähigere Produktions- und Distributionsfunktionen für eine Senkung der Kosten von Ungleichheit und Gleichheit, ein höherer Wohlfahrtswert wird realisiert.

Das ist es, was wir brauchen: mehr Markt und individuelle Freiheit, weil sonst Wachstumschancen nicht genutzt werden. Und zugleich mehr Solidarität, vermutlich auch mehr Transfer, weil in liberaler Freizügigkeit der Markt nun einmal die Schwächeren diskriminiert.

Das führt zu unserem dritten Bild: Ein erster zentraler Leistungsparameter jedes politökonomischen Systems ist der Entwicklungsgrad der Individuen, die es ausmachen – die Autarkie, die Eigenverantwortlichkeit der Einzelnen als Energiepotenzial des Gesamtsystems. Aus einer Gruppe schwacher, unselbstständiger Bürger wächst keine starke Wirtschaft. Der zweite zentrale Leistungsparameter ist die Fähigkeit zu kollektivem, zu gemeinschaftlichem Handeln und die Bereitschaft zu Solidarität und Hilfe jenseits unmittelbarer Wechselseitigkeit.
Autarkie und Gemeinschaft. Warum soll nicht beides möglich sein?
Die Idee, die Kosten von Gleichheit und Ungleichheit seien nicht synchron reduzierbar, wurzelt in der Vorstellung, man müsse sich zwischen mehr individuell und mehr kollektiv ausgeprägten Systemen entscheiden: wieder ein neuer Trade-off. Er ist gut geeignet für politischen Streit um die richtige Balance, aber irreführend in der Sache. Es geht nicht um Entweder-oder. Es geht um Ausbau, um Entwicklung auf beiden Achsen!

Es stimmt schon, angesichts komplexer und volatiler Kontexte sind viele Bürger überfordert, das zeigt sich am deutlichsten auf dem Arbeitsmarkt. Daraus sollten wir aber nicht primär Hilfsaktionen ableiten, sondern alles daransetzen, die persönliche Bereitschaft und Fähigkeit zum Mitspielen zu erhöhen. Die erste Maxime heißt Befreiung von Abhängigkeit, erst sekundär greift direkte Unterstützung. Autarkie ist das Entwicklungsziel.

Was wir ebenso erleben, ist ein Versagen des Kollektivs. Gemeinschaftsaufgaben, die über den Staat transaktional abgewickelt werden, erzeugen offenbar eben nicht soziale Gemeinschaft. Das Ziel, dem Empfänger die Symmetrie von Anspruch und eigener Verpflichtung deutlich zu machen, wird regelmäßig verfehlt. Die Rechte und Pflichten des Einzelnen, etwa in den Sozialsystemen, werden nur noch als getrennt voneinander erfahren und gehandhabt. Die zweite Maxime muss deshalb heißen: Entwicklung neuer Formen und Instrumente kollektiven Handelns und Wiederbegründung von konkreter und als solcher wirksamer Gemeinschaft.

NEU DENKEN. LÖSUNGSRAUM ERWEITERN

Wohin geraten wir, wenn wir uns von falschen Bildern befreien? Welches Koordinatensystem bestimmt den erweiterten Lösungsraum für den Umbau des Modells Deutschland? Wo ist der Kern der neuen Dynamik zu finden, die uns aus der „Endzeit“ zu einem Neuanfang führt?

Politik wird ihrer Führungsrolle dann gerecht, wenn sie die Kraft hat zu ordnen. In der Vergangenheit war häufig kein Plan zu erkennen, die vielfältigen Stoßrichtungen hatten nur den defensiven Charakter gemeinsam. Sinn stiftende Ordnungsprinzipien müssen deutlich machen, wohin die Reise geht. Zugleich müssen diese Ordnungsprinzipien überraschen, sie müssen neu und anders sein, mit alten Mustern brechen: Nur so wird die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit mobilisiert und über eine längere Strecke gehalten werden. Und dann? Wir brauchen sechs Prinzipien. 

1. Wir und ich
Das erste Prinzip durchbricht das bisherige Dilemma „Markt oder Staat“. Das ist ein irreführender Trade-off. In Wirklichkeit brauchen wir mehr Einzelverantwortung in Freiheit – mehr Markt – und zugleich mehr Bereitschaft zu Solidarität und kollektivem Handeln – mehr Gemeinschaft. Der Staat muss Gemeinschaft erleichtern und abstützen, er kann und soll sie aber nicht organisieren. 2. Einfach überlegen
Das Individuum muss zu höherer Autonomie und Autarkie in die Lage versetzt werden. Deshalb zielt das zweite Prinzip auf eine radikale Reform der Schnittstelle Kollektiv – Individuum. Der staatlich administrierte Kontext des individuellen Handelns, verkörpert in Steuer- und Sozialsystemen und in vielen anderen Regelwerken, ist zu komplex, um wirklich autonome Verantwortungsübernahme zu erleichtern. Er muss radikal vereinfacht und in ein Schema integriert werden, das Eigennavigation zuverlässig unterstützt. 3. Der Staat sind wir
Gleichzeitig muss Gemeinschaft neu institutionalisiert, in den Prozessen der Gesellschaft neu abgebildet werden. Das dritte Prinzip betrifft deshalb den Anspruch, dass jeder Bürger individuelle Freiheit und soziale Solidarität als komplementäre Dimensionen erfährt, beide als Bürgerwerte erlebt. Die Verpflichtung zur Gemeinschaft muss in neuer Art, auf neuen Wegen konkret werden – auch als Antwort auf die Dynamik der Märkte mit ihrer natürlichen Polarisierung zwischen stark und schwach. 4. Spitze in Extremen
Dem Markt kann man nicht entfliehen, nicht in einem global offenen Umfeld. Auch die Hoffnung auf Marktregulierung trügt, man schwächt sich nur selbst. Im vierten Prinzip geht es deshalb um ein Denken in zwei Regimes: Dort, wo der Markt regiert, gibt es keine Alternative zu maximaler Offensive. Im Bereich der Tradables, im Feld globaler Konkurrenz, wird nur der Angreifer gewinnen – und deshalb müssen alle Standortdimensionen kompetitiv sein. Im Binnenspiel ist das anders, hier gibt es große Bereiche (etwa Bildung oder Gesundheit), wo relationale statt transaktionale Logik gelten kann, wo eine Gemeinschaftsarchitektur den Markt ergänzen muss. Ein derart differenzierter Einsatz von Markt- oder Gemeinschaftsregimes ist neu. Und notwendig. 5. Zukunftswerte schaffen
Das fünfte Prinzip gilt wieder einem unnötigen Dilemma, der Abwägung von „Gegenwart oder Zukunft“. Die Basis des Reichtums hat sich in einer durch kapitalistische Marktprinzipien bestimmten Wirtschaftswelt geändert. Zukünftige Dynamik, nicht historische Akkumulation bestimmt den Wert von Assets. Damit werden alte Ideen der Erzeugung von Reichtum relativiert – Sparen und Konsum sind nicht unbedingt Gegensätze. Der Aufbau von Kapitalstocks – Finanzkapital, Immobilien, vor allem auch Humankapital – ist ein Weg, der Zukunftswerte schafft, zugleich aber auch Gegenwartskonsum im Vorgriff legitimiert. Deutschland hat hier – aus vielerlei Gründen – Nachholbedarf. Wir betrachten Sparen immer noch als statische Kategorie, nicht als Investition. 6. Lebensarbeit statt Arbeitsleben
Die industrielle Perspektive der entfremdeten Arbeit, für die man materiell und mit Freizeit belohnt wird, wirkt nach. Zeitgemäß ist sie nicht mehr. Ist es nicht so, dass „Arbeitsreichtum“ immer mehr als Privileg, als Chance zu persönlicher Entwicklung und sozialer Teilhabe verstanden werden muss? Ist nicht für immer mehr Menschen – gerade mit dem Rückgang industrieller Produktion – die Wahl des Berufs und damit der Arbeitsbiografie der zentrale Teil des eigenen Lebensentwurfs? Wie kann es gelingen, die Erfahrung von Arbeitsfreude möglichst vielen zugänglich zu machen? Wie kann sie, wenn auch nicht immer und überall, zum starken Motivator persönlicher Weiterentwicklung werden? Welche Verschiebung in persönlichen Energiebilanzen und welchen Zuwachs an Humankapital würde dies auslösen? Und was hieße es für unsere Konsummuster, wenn wir die Trennung Arbeit und Freizeit auflösten?

NEU DENKEN. INNOVATIVE STRATEGIEN

Die Innovation des Modells Deutschland ist möglich und aussichtsreich – wenn wir aktiv werden. Wir müssen den Handlungsraum für Politik in vier Richtungen erweitern. Und können dabei in Teilen durchaus auf vertraute Instrumente zurückgreifen. Dabei kommt der Radikalität einzelner Vorschläge und ihrem Einsatz als Bündel wesentliche Bedeutung zu: Nur so entsteht die Wahrnehmung einer Diskontinuität, die auf breiter Ebene ein Umdenken anstoßen kann. Integriertes Bürgerkonto
Der Anspruch an die Vereinfachung der Schnittstelle Staat – Bürger muss radikal umgesetzt werden: Ein integriertes Konto, in dem der Einzelne alle Verpflichtungen und Ansprüche an den Staat – vergangen, gegenwärtig, und zukünftig – konsolidiert sieht, würde das Labyrinth der gegenwärtigen Systeme ablösen und einen wichtigen Impuls für mehr Eigenverantwortung liefern. Ein Konto führte zu einer radikalen Vereinfachung der Teilsysteme (Steuern, Sozialversicherung). Es erzwänge über eine einfache Mechanik des Überziehens und Einzahlens eine individuelle „Haushaltsdisziplin“. Und es würde wohl bedeuten, dass neben finanziellen Einzahlungen (Steuern, Beiträge) auch „reale“ Einlagen, in Form eines Sozialdienstes beispielsweise, als Option eröffnet werden müssten.

In diesem System wird „Kontodisziplin“ zwangsläufig zur Bürgerpflicht – und zur Voraussetzung bürgerlicher Ansprüche. Das heißt auch, dass „Kontoführungsverstöße“ wie Steuerhinterziehung oder Schwarzarbeit zu nachhaltigen Anspruchsverlusten führen und als wirklicher Verrat an der gemeinschaftlichen Ordnung und nicht als Kavaliersdelikt massiv geahndet werden (auf dem Konto). Weitere Folge der Kontenlogik wäre die Ablösung der heutigen Sozialversicherungsarchitektur durch eine integrierte Bürgerversicherung (eine wirkliche Bürgerversicherung nach Versicherungsprinzipien und nicht die derzeit unter diesem Namen diskutierte Scheinlösung) für Gesundheit, Arbeitslosigkeit und Rente. Irgendwann könnte eine Bürgerkontomechanik auch die künftig brisanter werdende Herausforderung „Sozialmigration“ beheben helfen.

Sozialarbeit und Marktarbeit
Mit dem Weiterbestand der zu hohen strukturellen Arbeitslosigkeit ist, ceteris paribus, auch künftig zu rechnen. Gleichzeitig ist die Gemeinschaft mit wachsenden Ausgaben für staatliche Administration, für Gesundheit und Pflege und für Bildung konfrontiert – und die Staatsausgaben sind ohnehin zu hoch. Überangebot an Arbeit und Ressourcenmangel müssen und können sich jedoch in großen Teilen ausgleichen. Die Einrichtung eines Sozialdienstes für jeden – natürlicher Tribut an die Gemeinschaft und in der Schweiz im Militärdienst hoch erprobt – und die gleichzeitige Herausnahme von ganzen Aufgabenfeldern aus nur scheinbar marktlicher Organisation ist eine Zukunftsaufgabe par excellence: Sie bedeutet eine konkrete Perspektive für die Teilhabe der heute Arbeitslosen, zugleich aber auch eine Stärkung der Gemeinschaft für alle.

„Staat“ wird so zur echten Gemeinschaftsaufgabe, an der viele teilnehmen. Abgerechnet wird über das Bürgerkonto. Ein so definierter Sozialdienst ist eine Komponente in einem ganzen Strategiebündel für Arbeit. Arbeit als persönliche Entwicklungschance ist in unserer Perspektive ein Bürgerrecht, das die Gesellschaft jedem, wirklich jedem, gewähren muss, und sie ist eine Bürgerpflicht, die jeder, der gesund ist, leisten muss.

In Anbetracht der strukturellen Schichtung der Arbeitslosen gilt es hier insbesondere auch einfache Jobs, teilweise mit minimalen Lohnniveaus, zu ermöglichen. Die Abzugsfähigkeit privater Dienstleistungen (viel weiter gehender als derzeit diskutiert), eine radikale Senkung der (künftig verstärkt steuerfinanzierten) Lohnnebenkosten, Tax Credits nach amerikanischem Muster und wirkliche Vertragsfreiheit im Niedriglohnbereich sind instrumentelle Voraussetzungen für eine massive Ausweitung von Einfachjobs. Es wird sie geben müssen, der Blick auf das reale Arbeitsangebot lässt keinen anderen Schluss zu.

Umfassende Strategie für Kapitalbildung
Eine wesentliche Basis zukünftiger Prosperität ist das Produktivkapital der Volkswirtschaft, in seinen verschiedenen Dimensionen. Deutschland hat hier einen deutlichen Rückstand, die Wertentwicklung seiner wesentlichen Kapitalkonten ist in den vergangenen Jahren unterdurchschnittlich gewesen. Im Bereich des Produktivkapitals muss eine breite Vermögensakkumulation auf neuen Wegen gefördert werden: Innovatives Miteigentum an Unternehmen für Arbeitnehmer statt Lohnzuwächse ist beispielsweise ein Weg, der einen wichtigen Produktivitäts-Impuls erzeugt.

Parallel dazu ist der Aufbau echter Pensionsfonds sinnvoll, dabei muss „groß“ gedacht werden (zum Beispiels 20 Prozent Eigentumsanteil am DAX in zehn Jahren). Bei Immobilien sollte die Wertentwicklungslücke in Deutschland durch unbegrenzten Schuldzinsenabzug geschlossen werden, auch die vergleichsweise niedrige Eigentumsquote würde so adressiert. Beim Humankapital muss das durch PISA geschaffene Bewusstsein jetzt in eine massive, präzise koordinierte Bildungsoffensive münden – mit dem Anspruch, in zehn Jahren wieder Weltspitze in Wirtschaft und Forschung zu sein. Im Dreiklang dieser Kapitalbildungsoffensive begegnen wir der weiter aufgehenden Schere zwischen Arbeitseinkommen und Kapitaleinkommen, wealth effects sollten den Konsum daher sogar stärken. Eine umfassende, einfache Wertzuwachssteuer wäre mit dieser Strategie konsistent.

Ausbau neuer Cluster
Zur Ausrichtung auf die neue Raumlogik der drei Clustertypen gibt es keine Alternative. Deutschland war in der Vergangenheit durch seine führende Rolle in industriellen Clustern (Automobil, Chemie, Pharmazie, Maschinenbau) stark. Diese Position haben wir in Teilen verloren, an den Clustertypen der neuen Generation hat unser Land kaum Anteil. In innovativen Industrien wie Biotech oder Software sind unter den globalen werthaltigen Unternehmen mit Ausnahme von SAP keine deutschen Konzerne zu finden. Hier muss die Politik in einem integrierten Ansatz von Steuerpolitik, Raumpolitik und Bildungspolitik ganz neu antreten.

Hier sind auch Prioritäten zu überprüfen: Die nationale Brille hat zwar ihren Reiz, aber Kartellamtsstrategien, die nur den immer weniger relevanten nationalen Markt im Auge haben, verhindern vieles. Unsere Arbeitszeitgewohnheiten, zum großen Teil noch landwirtschaftlichen oder frühindustriellen Rhythmen geschuldet, passen nicht mehr – sie verhindern eine bessere Kapitalnutzung, das Entzerren von Spitzenzeiten, bessere Infrastrukturauslastungen und flexiblere Lebensmodelle. Auch wenn es nach der im Wahlkampf stark verkürzten Diskussion um das Steuersystem vielleicht nicht opportun erscheint: Ein radikal vereinfachtes Steuerschema mit niedrigeren, international wettbewerbsfähigen Tarifen ist wichtig. Als Aufwandsseite des skizzierten Bürgerkontos wäre es geradezu ein Idealansatz.

Mit diesen vier Strategie-Initiativen kann es gelingen, wieder in die Offensive zu gehen. Wesentlich ergänzen, ja eigentlich begründen müssen sie jedoch neue, stimmige gesellschaftliche und kulturelle Ideen. Die Zuversicht der Einzelnen, trotz der Risiken und Brüche im modernen Kontext mitspielen zu können, kann durch eine „Wirtschaftsordnung“ nur partiell erzeugt werden. Um die deutsche Vitalitätslücke, die „German Angst“ zu schließen, brauchen wir ein Gesellschaftskonzept, das Wirtschaft und Gemeinschaft in einer neuen Synthese zusammenführt. Uns Deutschen fällt der Abschied von paternalistischen Fürsorgetraditionen und den assoziierten Gerechtigkeitsbegriffen sicher schwerer als anderen. Aber wir sind diesbezüglich auch härter als andere mit dem Zwang zu Erneuerung konfrontiert.

Könnte es nicht sein, dass aus diesem Druck sogar eine Chance entsteht, einen echten Vorsprung im Umbau zu erarbeiten? Es ist wichtig, daran zu glauben. Dass es etwas gibt, bei dem wir an die deutsche Geschichte und an deutsche Neigungen anknüpfen können und eine Gesellschaft aufbauen, auf die wir stolz sein können. It’s the society, stupid.

Wir glauben, es gebe ein Spektrum links-rechts. Und wenn wir etwas verändern möchten, etwas für die Liberalität tun wollen, dann müssten wir auch auf der sozialen Seite einen Akzent setzen. Unser Plädoyer dagegen heißt: Ausbruch aus dem Spektrum. Mehr sozial bedeutet nicht zwangsläufig weniger liberal und umgekehrt.

Michael Jung

Steuern senken kann mehr Steuereinnahmen bedeuten, die Schweiz und England haben das längst vorgemacht. Wir hingegen übertragen eine einfache Haushaltslogik auf das Große: konsumieren oder sparen. Das ist Unsinn. In der Logik einer vernetzten Weltwirtschaft ist eins und eins manchmal zwei. Manchmal aber auch drei.

Michael Jung


Dieser Text stammt aus unserer Redaktion Corporate Publishing.