Handeln Sie. Wir kümmern uns um die Details.

Je größer ein Unternehmen, desto komplexer sind die Beziehungen, die es zu managen gilt. Und umso zahlreicher die potenziellen Fehlerquellen. Wer schlau ist, sucht sich einen Dienstleister, der hilft, die zunehmende Komplexität zu beherrschen – wie die Mittelsmänner von Li & Fung.




Der Job verschlägt einen Manager bisweilen an seltsame Orte, doch nur wenige sind so exotisch wie jene, an denen Annabella Leung mitunter landet. Nordkorea, zum Beispiel: ein echtes, modernes Abenteuer. Der Weg in eine der letzten kommunistischen Diktaturen der Welt führte zunächst über Hongkong nach Peking, denn ausschließlich dort werden Visa für die Volksrepublik Nordkorea vergeben. Von dort flog Leung weiter nach Pjöngjang, wo sie von einem offiziellen „Begleiter“ in Empfang genommen wurde, der sie für den Rest ihrer Reise nicht mehr aus den Augen lassen sollte. Von der Hauptstadt ging es ins Hinterland, durch leere Städte, vorbei an leeren Geschäften und über Pisten, auf denen der Fahrer nach Herzenslust Gas geben konnte, weil auf den Straßen Nordkoreas ohnehin nur selten mit anderen Fahrzeugen zu rechnen ist. Die Fabrik schließlich, das Ziel ihrer Reise: eine klapprige, altersschwache Halle ohne Heizung, weshalb die Näherinnen im kalten November in Mänteln und Handschuhen vor den Maschinen saßen. „Es war wie im China der fünfziger Jahre. Absolut gespenstisch und absolut traurig.“

Shoppingguide, Subunternehmer und Sorgenabnehmer

Annabella Leung und ihre Kollegen vom Hongkonger Handelshaus Li & Fung können viele solcher Geschichten erzählen. Einige spielen in Bangladesch, andere in Turkmenistan, auf Mauritius, in der Karibik oder dem anatolischen Hinterland – in mehr als drei Dutzend Ländern sind Emissäre des Hongkonger Handelshauses zu Hause. Überall besuchen sie potenzielle Produzenten, prüfen in Labors das Waschverhalten gefärbter Stoffe, verhandeln Verträge, besorgen fehlende Zollunterlagen, kontrollieren, ob sich die Arbeitsbedingungen mit den Mindeststandards ihres Kunden vereinbaren lassen, schachern mit Transporteuren, reklamieren schlampige Nähte und fehlende Knöpfe, sorgen für pünktliche Lieferungen und vieles mehr. Sie kümmern sich um alles, was auf dem Weg von der Idee zum Verkauf eines Produkts passieren kann, weshalb sich die Aufgabe von Annabella Leung und ihren Kollegen auch in einem einzigen Satz zusammenfassen lässt: Sie vereinfachen Dinge für ihre Kunden. Sie versorgen Unternehmen mit dem Maximum an Auswahlmöglichkeiten – und reduzieren die Vielfalt verwirrender Details. Für ihre Auftraggeber sind sie Shoppingguide, Subunternehmer und Sorgenabnehmer in einem, und jede einzelne dieser Funktionen ist heute viel wert. Denn mit der Globalisierung potenzieren sich nicht nur die ökonomischen Chancen, sondern auch jene, an irgendeinem Glied der Produktionskette einen folgenschweren Fehler einzuweben.

Die Mittelsmänner von Li & Fung beherrschen die Komplexität des Beschaffungswesen. Ihnen gelingt es, pro Jahr Produkte in der Größenordnung von zehn Milliarden Stück in 40 Ländern der Erde aufzutreiben und pünktlich zu garantierter Qualität und festem Preis zu liefern. So jedenfalls lautet ihr Versprechen. Sie schmieden im Auftrag von rund 800 Kunden Lieferketten über Ländergrenzen und Kontinente hinweg, vernetzen sie, nehmen sie wieder auseinander und setzen sie auf andere Weise lautlos neu zusammen. Ihrer Kundschaft offerieren sie ein Rundum-Sorglos-Paket: Wir bringen dir die Welt. Aber deren Risiken lassen wir zu Hause.

„Wir sind die Brücke zwischen der niedrigpreisigen, arbeitsintensiven Produktion von Konsumgütern in Schwellenländern und den Konsumenten dieser Produkte in den entwickelten Ländern der Welt“, sagt William Fung (56), der das 7000-Mitarbeiter-Unternehmen in dritter Generation mit seinem Bruder Victor (60) führt. Brücke zu sein heißt zum Beispiel, dass Annabella Leung, die als Executive Director die europäischen Textilkunden betreut, im nordkoreanischen Hinterland die Konditionen für die Produktion von Outdoor-Jacken verhandelt. Brücke zu sein bedeutet, dass Stoffe aus Italien, Reißverschlüsse aus Taiwan und Seide aus China nach dem Entwurf einer französischen Designerin in einer türkischen Näherei zu einem Kleid zusammengefügt werden, das später in einer Boutique in SoHo, New York, verkauft werden wird – und alles unter der Regie und Kontrolle von Li & Fung. Brücke zu sein meint, wie ein Dirigent alle möglichen Spezialisten aus allen möglichen Ecken der Erde so zu orchestrieren, dass sie gemeinsam ein harmonisches Produkt zu Stande bringen.

William und Victor Fung haben es in dieser Disziplin zu einiger Meisterschaft gebracht. Weil ihre Familie das Geschäft seit mittlerweile 100 Jahren und mit 70 Büros weltweit betreibt, verfügt sie über beste Kontakte zu Herstellern aller denkbaren Qualifikationen, Größen und Standorte. Allein in China, dem mit 4000 Partnern wichtigsten Einkaufsland, unterhält das Handelshaus 18 Büros, weitere neun in Amerika, 19 in Europa und drei in Afrika. Mit dieser Palette an Partnern lässt sich je nach Marktlage, politischer Situation, Kundenerfordernissen und Konditionen trefflich jonglieren.

Nach den Attentaten vom 11. September beispielsweise konnte das Unternehmen Produktionsorders in Millionenhöhe von „unsichereren“ (will heißen: muslimischen) Staaten in vermeintlich sicherere verschieben. Dauer der Operation: weniger als eine Woche. Auf die Wiedereinführung von Textilquoten für China, die im vergangenen Jahr zahlreiche europäische Textilhäuser plötzlich von ihren Produzenten abschnitt, reagierte das Unternehmen kurzerhand mit der Umleitung von Aufträgen in Länder wie Israel, die – der Quoten sei Dank – plötzlich zu interessanten Handelspartnern avancierten. „Für uns war es nur eine Rückkehr zum alten System“, meint Victor Fung lapidar, „wir sind seit 30 Jahren an die Arbeit unter Quoten gewöhnt.“ Selbst die SARS-Epidemie bescherte dem Handelshaus zusätzliches Geschäft, weil viele Einkäufer die Reise nach Südostasien scheuten und stattdessen lieber Li & Fung zum Sourcing schickten. „Wir haben damals persönliche Meetings kurzerhand durch Videokonferenzen ersetzt“, sagt Nancy Chen, Investor Relations Managerin im Handelshaus. „Dasselbe würden wir auch tun, wenn es zu einer Vogelgrippe-Epidemie kommen sollte.“ Und während der Rest der Business-Welt noch nahezu geschlossen in Richtung China strömt, sind die Fungs schon längst wieder weiter. „Chinas Kosten steigen allesamt“, erklärt William Fung. „Alles, was von dort bezogen wird, hat eine höhere Inflationskomponente als Waren aus anderen Ländern. China ist längst nicht mehr das kostengünstigste Land der Region.“ Nachdem Li & Fung früher 90 Prozent seiner „hard goods“ (die heute 35 Prozent des Unternehmensumsatzes ausmachen, der große Rest sind Textilien) aus China bezog, haben die Brüder mittlerweile 25 Prozent an billigere Standorte in Süd- und Südostasien verlagert.

Dass die Agenten bei ihren Einkaufstouren mittlerweile mehr als sieben Milliarden US-Dollar im Jahr verteilen, verleiht ihnen eine enorme Macht. Für bewährte Produzenten werden Aufträge mehrerer Kunden oft gebündelt, und das über längere Zeit, was Li & Fung in den Augen der Hersteller zu einem besonders geschätzten Partner macht. „Unsere Größe gewährt uns einen ganz anderen Einfluss, als ihn ein Kunde hat, der zum ersten Mal und mit nur einem Auftrag zu einem Produzenten kommt“, erklärt Annabella Leung. „Und Einfluss und Kontrolle sind enorm wichtig in einer Branche, in der es keine zweiten Chancen gibt. Eine missglückte oder verspätete Frühjahrskollektion kann man nicht ein zweites Mal besser produzieren. Sie muss beim ersten Mal perfekt gefertigt und rechtzeitig geliefert werden.“ Für Kunden ein entscheidender Vorteil: Mit Li & Fung erkaufen sie sich die Schlagkraft eines großen Netzwerks, ohne dafür mit eigenem Kapital und verminderter Beweglichkeit bezahlen zu müssen.

Das wahre Produkt ist der Prozess

Auf diesen Vorteil setzen heute Weltmarken wie Esprit und Abercrombie & Fitch, Laura Ashley, Coca-Cola, John Lewis, Metro, Sainsbury’s, KarstadtQuelle und – als größter Einzelkunde – die US-Warenhauskette Kohl’s. 3,7 Prozent der US-amerikanischen Bekleidungsimporte werden heute von den Gebrüdern Fung gemanagt. Ein Viertel der vietnamesischen Bekleidungsexporte gehen durch ihre Hände, in der Türkei sind sie der größte Bekleidungsexporteur überhaupt. Welche Vielfalt sich hinter diesen Fakten verbirgt, lässt sich in der Firmenzentrale im ehemaligen Hongkonger Garment-Distrikt beobachten: Die Li-&-Fung-Shopping-Mall belegt eine ganze Etage des riesigen Bürogebäudes, bis unter die Decke voll gestopft mit Heimtextilien, Coca-Cola-Merchandising-Produkten, Haushalts- und Schreibwaren, Sportklamotten, Garten-Utensilien, Tornistern, Vogelhäusern, Kinderkleidung, Spielzeug und derlei mehr. Nur eine Kasse gibt es nicht, denn in der Li-&-Fung-Mall wird nicht verkauft, sondern lediglich vor Kunden präsentiert. Wir können alles und für jeden, lautet die Botschaft des Handelshauses, das sich selbst nur wenige Beschränkungen auferlegt: Von Lebensmitteln, Hightech und Beauty-Produkten lassen die Fungs die Finger, „weil sie nicht arbeitsintensiv sind und wir nicht unsere Stärken ausspielen können“, sagt Nancy Chen. Die Waren in der künstlichen Einkaufspassage jedoch stammen komplett von Li & Fung, auch wenn das Unternehmen keine einzige davon selbst hergestellt hat: Das einzige Produkt ist der Prozess.

Dieser Prozess beginnt typischerweise damit, dass ein Kunde das Handelshaus mit dem Sourcing für ein bestimmtes Produkt – sagen wir: einem Herrenhemd – zu einem bestimmten Zeit- und Preispunkt beauftragt. Daraufhin machen sich die Mittelsmänner an die Recherche, wählen Lieferanten aus, beginnen mit dem Knüpfen einer Lieferkette. „Wir legen auf Wunsch Kosten und Risiken jedes einzelnen Prozessschrittes offen“, sagt Annabella Leung. „Letztlich muss der Kunde selbst entscheiden, ob er sein Hemd in einer reaktionsschnellen, ISO-9001-zertifizierten State-of-the-art-Fabrik produzieren oder zu einem günstigeren Preis in einer vielleicht etwas entlegeneren, weniger modernen und langsameren Produktionsstätte herstellen lassen will. Auch das Risiko von Lieferschwierigkeiten oder Qualitätsproblemen können wir ihm nicht abnehmen. Wir können ihn nur so beraten, dass diese Risiken möglichst gering gehalten werden.“ Der Kunde, der sich nur für die „ex factory“-Kosten interessiert, also für den Preis, den sein Herrenhemd am Ende des Produktionprozesses kostet, wird selbstverständlich auch bedient. Liegt der Preis zu hoch, machen die Sourcing-Agenten Vorschläge, wie er sich mit ein paar Produktveränderungen – ein etwas dünnerer Stoff, Kunststoff- statt Perlmuttknöpfe, uni anstelle aufwändiger Stickereien – reduzieren lässt.

Tausende von Standards – und einer passt auf

Was auf die Auftragsvergabe folgt, ist der nicht virtuelle, überraschend traditionelle Teil der Arbeit. Während die Kunden ihre Orders bei Li & Fung über ein modernes, komplexes, elektronisches Trading-System namens XTS platzieren, kommuniziert das Handelshaus mit seinen Lieferanten ganz altmodisch per Anruf, Fax, Kuriersendung oder persönlichem Besuch. Das liegt zum einen daran, dass es vielen Produktionspartnern in der Karibik, in Afrika, Bangladesch und auch China schlicht an den Kommunikationsverbindungen mangelt, um sich in ein Intranet einzuklinken. Viel wichtiger aber: „Unsere Mitarbeiter sollen sich regelmäßig persönlich vor Ort ein Bild machen“, sagt Nancy Chen. „Dabei überprüfen sie nicht nur die Qualität der Ware und die Pünktlichkeit der Lieferung, sondern auch, ob die Arbeitsbedingungen mit den Sozialstandards übereinstimmen, die der jeweilige Kunde definiert hat. Der Katalog an Mindeststandards des Disney-Konzerns beispielsweise ist so dick wie das Telefonbuch einer Großstadt – nicht auszudenken, was los wäre, wenn sich herausstellen würde, dass eine Micky-Maus-Figur in Kinderarbeit hergestellt worden ist.“ Wie sich dieser Anspruch mit der Produktion von Outdoor-Jacken in ungeheizten nordkoreanischen Fabrikhallen verträgt? „Die Produktionsbedingungen damals waren sehr harsch“, räumt Chen ein, „die Kunden interessierten sich seinerzeit mehr für den Preis als für die Arbeitsbedingungen. Mittlerweile aber haben sich die Erwartungen der Endverbraucher und damit auch die der Kunden sehr gewandelt. Die Fabriken, mit denen wir heute arbeiten, stimmen mit den Mindeststandards überein.“

All das hat natürlich seinen Preis. Die Marge, die Fungs Mittelsmänner auf den Produktwert aufschlagen, liegt je nach Grad ihres Engagements zwischen fünf und zehn Prozent des Warenwertes. Doch der Aufschlag rechnet sich allemal. „Gute Direct Sourcer“, meint Nancy Chen, „können zwar ebenfalls den Einkaufspreis drücken. Das bedeutet aber nicht selten schlechtere Qualität und verspätete Lieferungen. Wir sind teurer, aber wir gleichen die Mehrkosten durch bessere Qualität, geringere Risiken, geringere Kosten und mehr Möglichkeiten mehr als aus.“

Warum Unternehmen das Agentenhonorar nicht generell sparen und einfach selbst weltweit einkaufen gehen? Theoretisch ist das möglich. Praktisch mag es für Spezialisten wie Nike oder Cisco sogar funktionieren, die ihr überschaubares Produktportfolio in Eigenregie von einem kleinen Pool an Produktionspartnern bestücken lassen. Ganz anders sieht es dagegen für Warenhäuser oder Discounter aus, von denen selbst die kleineren mehr als 10.000 Produkte im Sortiment führen. Mit jedem Produkt steigt die Zahl potenzieller Lieferanten, mit denen das Unternehmen verhandeln muss – und damit auch die Zahl möglicher Fehlerquellen.

Die Zahl möglicher Pannen geht gegen unendlich

„Die Möglichkeiten, sich mit einem Lieferanten falsch zu verstehen, gehen gegen unendlich“, weiß Jürgen Massion, der als Chefeinkäufer des KarstadtQuelle-Konzerns von Schanghai aus das mühsame Direct-Sourcing-Geschäft betreibt (siehe McK Wissen 10: „Wo Karstadt shoppen geht“). So weiß Massion von seltsam anmutenden Schnitten, löchrigen Stoffen und Business-Anzügen zu berichten, die aussahen wie Ritterrüstungen, weil die chinesischen Lieferanten sie ganz selbstverständlich mit den landesüblichen starren Einlagen ausgestattet hatten. Meist konnte man den Produzenten nicht einmal einen Vorwurf machen – woher soll eine Näherei an der Grenze zu Nordkorea auch wissen, was ein KarstadtQuelle-Einkäufer in der Essener Konzernzentrale genau unter „auberginefarben“ oder „elegante Passform“ versteht? „Allein bei Bettwäsche haben wir acht bis zehn verschiedene Qualitäten identifiziert“, erzählte Massion, „das kann zu acht bis zehn verschiedenen Preisen führen.“

Sicherer – aber meist teurer – ist der Einkauf fertiger Produkte bei Importeuren. Dieser Weg hat den Vorteil, dass kein Kapital gebunden wird und Geld nur dann fließt, wenn zufriedenstellend geliefert worden ist. Er hat allerdings auch einen entscheidenden Haken: Der Kunde ist vollkommen abhängig. Liefert ein Importeur verspätet, in unverkäuflicher Qualität oder gar nicht, weil er die Produktionskapazitäten seiner Partner doch lieber an vermeintlich attraktivere Kunden vergeben hat, steht sein Vertragspartner mit leeren Händen da. Vor allem aber streichen Produzenten und Importeure für ihre Leistung einen erheblichen Anteil der Wertschöpfung ein.

Die dritte – und zunehmend beliebte – Alternative besteht darin, einen Agenten mit der Suche nach den günstigsten Produzenten und der Prozessorganisation zu betrauen. Das Handelshaus Li & Fung, das zwei Weltkriege, eine Revolution und zwei Systemwechsel (den derzeitigen schleichenden mit eingerechnet) überlebt hat, ist dabei heute eines der größten und erfahrensten. Fung Pak-liu, Victor und Williams Großvater, der das Unternehmen vor genau 100 Jahren im chinesischen Guangzhou gründete, war Lehrer für Englisch und verfügte damit über eine im China der Ching-Dynastie sehr seltene Gabe: Er konnte mit Importeuren aus dem Westen verhandeln. Gemeinsam mit seinem Geschäftspartner Li To-ming handelte Fung Pak-liu zunächst mit Seide und Porzellan, später auch mit Bambus- und Rattanprodukten, Elfenbein, Jade und Feuerwerkskörpern. Weil der Flusshafen von Kanton zu flach war, als dass Überseefrachter ihn hätten anlaufen können, schickte Fung Pak-liu seinen zweiten Sohn Fung Hon-chu nach Hongkong, wo er 1937 die erste Dependance des Familienunternehmens eröffnete.

Nach dem Zweiten Weltkrieg – Li To-ming hatte sich zur Ruhe gesetzt und seine Anteile an die Fungs verkauft, die chinesischen Wurzeln des Unternehmens waren durch die Revolution gekappt worden – erweiterte das nunmehr allein in der Kronkolonie ansässige Unternehmen seine Produktpalette um Kleidung, Spielzeuge und Plastikblumen. Im Laufe der Jahre wuchs es zu einem der umsatzstärksten Exporteure heran. Fung Hon-chu konnte seine Söhne zur Ausbildung in die USA schicken, wo William, der jüngere der beiden, in Princeton Computertechnik studierte und später die Harvard Business School absolvierte. Victor schrieb sich zunächst am MIT ein und wechselte für seinen PhD in Mathematik ebenfalls nach Harvard. Möglicherweise wären die Brüder für immer im Westen geblieben (Victor besitzt einen US-amerikanischen Pass, William einen britischen), hätte sie 1972 nicht ein verzweifelter Anruf ihrer Mutter erreicht: „Wenn nicht einer von euch beiden nach Hause kommt, bringt die Arbeit euren Vater noch um!“

Das Internet war erst Bedrohung – und dann eine Chance

Sie kehrten beide zurück, und als die Familie das Unternehmen ein Jahr später an die Hongkonger Börse brachte, war das Papier 113-mal überzeichnet – ein Rekord, der 14 Jahre lang halten sollte. Mit dem eingesammelten Kapital konnten die Brüder ihre nicht aktiven Familienmitglieder auszahlen, die väterliche Firma restrukturieren und modernisieren. In den achtziger Jahren veräußerten die Fungs die letzten Manufakturen in Unternehmensbesitz und verwandelten Li & Fung in das, was es heute ist: eine, wenn man so will, rein virtuelle Fabrik mit virtuellen Lagerhäusern und einem virtuellen Vertriebsnetz.

Das Firmenkonstrukt wurde immer internationaler. Denn mit den Textilfabriken, die in den Achtzigern und Neunzigern aus Hongkong hinaus und an billigere Standorte in China und anderswo weiterzogen, wanderte auch Li & Fung in alle Welt. Dort kauften die Brüder nicht nur Güter ein, sondern auch Unternehmen wie beispielsweise 1995 den Konkurrenten Dodwell – ein Schritt, mit dem der Konzern auf einen Schlag seine Größe verdoppelte und sich merkliche Präsenz in Europa verschaffte. „Sourcing, so viel war uns klar, würde künftig nicht mehr nur auf ein oder zwei Länder beschränkt sein, sondern ein ganzes Netzwerk von Büros erfordern“, erinnert sich William Keng-wee Ong, ein langjähriger Li-&-Fung-Direktor. „Mit der Dodwell-Akquisition konnten wir aber auch unsere Präsenz in Indien ausbauen und unseren Anteil an hard goods erweitern – bis dahin war unser Sourcing weitgehend auf Textilien beschränkt.“

Das Internet, das theoretisch jedem Unternehmen Zugang zu zahllosen potenziellen Lieferanten weltweit gewährte, begriffen die Fungs nur kurz als Existenzbedrohung – bis ihnen klar wurde, dass sich darin das exakte Gegenteil für sie verbarg. Denn per Internet, meint Annabella Leung, „lassen sich nun einmal weder Liefertermine noch Qualität kontrollieren.

Und damit fehlt eine wesentliche Voraussetzung für ein erfolgreiches Sourcing-Geschäft.“ Dafür eignet sich der Cyberspace jedoch hervorragend für die Aufstellung virtueller Portale, hinter denen Li & Fung eine beliebig große und ständig wechselnde Zahl von Produzenten und Prozessen gruppieren kann. Für seinen Großkunden Coca-Cola beispielsweise hat das Handelshaus eine B2B-Website gelauncht, über die nationale Coca-Cola-Abfüller in aller Welt Merchandise-Produkte ordern können. Entdeckt ein Abfüller auf der Seite ein Produkt, das er in seinem lokalen Markt einsetzen möchte, kann er seine Bestellung einer bereits existierenden hinzufügen und so die Kosten für eine Coca-Cola-Mütze, einen Kalender oder ein Coca-Cola-T-Shirt senken. Entworfen und gefertigt wird jedes dieser Produkte unter der Regie von Li & Fung.

Großkunden wie Coca-Cola lässt das Handelshaus jeweils von einem eigenen, autonomen 20 bis 100 Mitglieder starken Team betreuen. Jedes Kundenteam ist mit einem Key Account Manager, einem Merchandiser, dem Shipping Specialist und allen anderen wichtigen Funktionen besetzt. „Unsere Konkurrenten sind alles kleine, flexible Firmen“, erklärt Annabella Leung, „darauf stellen wir uns mit unserer Organisation auch ein: Unsere Kunden sollen nicht das Gefühl haben, dass sie bei uns in einem anonymen Großunternehmen verloren gehen.“

Bis auf eine Kerntruppe von 700 Mitarbeitern in der Hongkonger Unternehmenszentrale ist die gesamte Belegschaft in solch eigenständige, weltweit verstreute Teams aufgespalten, die jeweils Produktionsetats von 40 bis 100 Millionen Dollar verwalten. Ihre Aufgabe besteht darin, Märkte und die Strategie ihres Kunden immer genauer zu verstehen, ihn rundum zu bedienen und seine Bedürfnisse im besten Fall vorauszuahnen. So versorgen Li-&-Fung-Designer Modeketten mit Gestaltungsideen und Schnittmustern, Marktforscher beraten Warenhäuser bei ihrer Sortimentsgestaltung. In New York ist eine Scouting-Abteilung permanent neuen Trends auf der Spur, die Li & Fung dann als Produktidee seinen Kunden in Europa oder in den USA präsentieren kann, um sie anschließend im chinesischen Hinterland oder anderswo produzieren zu lassen, wo der Konzern wiederum eigene Ausbilder beschäftigt, die auch einfache Nähereien in die Lage versetzen, Qualität zu liefern.

Vom Export- zum Importweltmeister

Auf diese Weise ist das Unternehmen in den vergangenen zehn Jahren von 1,2 Milliarden Dollar Umsatz auf mehr als sieben Umsatzmilliarden gewachsen; im kommenden Jahr will Li & Fung erstmals die Grenze von zehn Milliarden überschreiten. Gleichzeitig hat sich die einstige Export-Hilfskraft zu einem integralen Bestandteil so mancher seiner Kunden entwickelt. Der Disney-Konzern beispielsweise hat seine Produktion von Merchandising-Produkten für die Disney-Themenparks komplett an Li & Fung delegiert; mit KarstadtQuelle-Chef Thomas Middelhoff haben die Brüder kürzlich einen weitreichenden „Letter of Intent“ unterzeichnet. Als Mittelsmänner für Middelhoff sollen sie künftig das gesamte Global-Sourcing-Geschäft von KarstadtQuelle übernehmen.

Für den Essener Handelskonzern verbindet sich damit die Hoffnung auf bessere Einkaufskonditionen und geringere Kosten, für die Fungs ist es der logische nächste Schritt. Die vergangenen 100 Jahre, erklärt Victor Fung selbstbewusst, hätte seine Familie das Exportgeschäft neu definiert. „In Zukunft wollen wir das Importgeschäft neu aufrollen.“


Dieser Text stammt aus unserer Redaktion Corporate Publishing.