Geht nicht gibt's nicht!

Vor vierzig Jahren eine Drittweltstadt, heute eine der dynamischsten Metropolen der Welt: Die Geschichte von Singapur ist ein Musterbeispiel für gelungene Zukunftsplanung. Dabei hatte die ehemalige britische Kolonie anfangs kein anderes Kapital als ihre Menschen. Aber was braucht man mehr?




Um an sein Ziel zu kommen, steigt Bi Jie sonntagabends in Peking mit seinem Vater ins Auto. Sie fahren auf die Vierte Ringstraße, immer nach Osten und dann auf die Autobahn Richtung Tianjin. Nach einer halben Stunde erreichen sie die Ausfahrt Langfang. Von hier aus ist es nicht mehr weit, nur noch ein paar Abzweigungen, fünf Minuten. Und ein Jahr. Dann ist Bi Jie in Singapur.

Vater und Sohn halten vor dem Portal der „Pekinger Mittelschule Nummer 25“. Bi Jie nimmt seine Tasche, ruft ein formloses „Wiedersehen“ über die Schulter und macht sich auf den Weg zum Wohnheim der „Singapur-Abteilung“. Für den 17-Jährigen soll sie zum Sprungbrett in den sechs Flugstunden entfernten Stadtstaat werden. Mit mehreren Dutzend anderen Schülern will er hier einen in Singapur anerkannten Schulabschluss machen, der ihm die Möglichkeit geben soll, dort ein Studium zu absolvieren, zu arbeiten und vielleicht sogar die Staatsbürgerschaft zu bekommen. Zwar kennt Be Jie Singapur bisher nur aus Prospekten und der Presse, aber was er dort gesehen hat, gefällt ihm: eine moderne, saubere, grüne Stadt mit sehr hohen Gehältern. „In China ist es schwierig, einen guten Job zu finden“, sagt er, „in Singapur werden junge Leute händeringend gesucht.“

Was geplant ist, das passiert auch

Tatsächlich ist Bi Jies Familie keinen leeren Versprechungen des privaten Schulbetreibers aufgesessen, der jährlich knapp 5000 Euro für Unterricht, Wohnheim und Verpflegung verlangt. Singapur braucht Menschen. Genau solche, wie sie die Singapur-Abteilung der Mittelschule Nummer 25 anbietet: junge, ehrgeizige, gut ausgebildete. Die Regierung hat ausgerechnet, dass die derzeit 4,4 Millionen Einwohner die Wirtschaft des Stadtstaats nicht dauerhaft am Wachsen halten oder den demografischen Alterungstrend aufhalten können. Deshalb hat sie einen Plan entworfen, wonach die Bevölkerung durch Zuwanderung bis 2020 auf sechs bis acht Millionen anwachsen soll. Und was geplant ist, daran zweifelt in Singapur kaum einer, das passiert auch.

Dass ihre Regierung in der Lage ist, realistische Zukunftsstrategien zu entwickeln und erfolgreich umzusetzen, ist für die Singapurer eine historische Erfahrung. Als die ehemalige britische Kronkolonie 1965 unabhängig wurde, war die „Löwenstadt“, wie ihr Name übersetzt heißt, ein Drittweltland, das wenig zu bieten hatte: keine moderne Industrie, keine wertvollen Rohstoffe, kein eigenes Know-how, kein nennenswertes Kapital. Nur eine Generation später war Singapur bereits ein prosperierender „Tigerstaat“, heute ist die Stadt eine der dynamischsten und wohlhabendsten Metropolen der Welt. 6000 multinationale Unternehmen und 500 Finanzinstitute sind hier auf einer Fläche knapp so groß wie Hamburg vereint. Keine Stadt im Radius von mehreren Flugstunden hat ein vergleichbares Bildungsniveau oder eine Bevölkerung, die als Muttersprache Englisch spricht. An den Universitäten und Forschungsinstituten geben sich internationale Spitzenforscher die Klinke in die Hand. Neun Millionen Touristen kommen jedes Jahr zu Besuch. Das jährliche Pro-Kopf-Einkommen liegt bei rund 30.000 Dollar. Beim Lebensstandard liegt die Stadt weltweit auf Platz 25. Ein Wohlfühlrang. Und das alles, weil Singapur früh erkannte, dass es auch ohne Industrie, Rohstoffe, Know-how und Kapital über eine wertvolle Ressource verfügt: Menschen.

„Wir werden oft nach unserem Erfolgsgeheimnis gefragt, aber eigentlich gibt es kein Geheimnis“, sagt Tony Tan. Er sitzt in einem fast tennisplatzgroßen Büro, ein kleiner Mann mit schlohweißem Haar und einer gewaltigen Hornbrille, dem das Wort „wir“ häufig über die Lippen kommt. Wir – damit meint er weniger die Singapurer im Allgemeinen, als die eingeschworene Clique politischer Macher, die das moderne Singapur erfunden hat und seit vier Jahrzehnten führt wie einen Konzern. Staatsgründer Lee Kuan Yew ist bis heute, mit 82 Jahren, ihr Anführer, und Tan, 66, einer seiner engsten Gefolgsleute. Er diente als Minister für Finanzen, Bildung, Gesundheit, Wirtschaft und Sicherheit und war von 1995 bis 2005 Vizepremier. „Wir haben unsere Stärken und Schwächen konsequent analysiert, in moderne Infrastruktur, saubere Umwelt und vor allem gute Bildung investiert“, fährt Tan fort. „Wir haben den internationalen Wettbewerb angenommen und uns für Handel und Einwanderung geöffnet. Jeder auf der Welt weiß, dass das wichtige Erfolgsfaktoren sind. Aber wir haben unser Wissen auch in die Tat umgesetzt.“

Singapur ist keine gewachsene, sondern eher eine gezüchtete Weltstadt, und genau darauf beruht ihr Erfolg. Das war schon am Anfang so. 1819 kam ein britischer Kolonialbeamter, Sir Thomas Stamford Raffles, auf die Idee, das kaum bewohnte Eiland an der Spitze der malaiischen Halbinsel, wo die Schiffe vom Indischen Ozean ins Südchinesische Meer abbiegen, als Basis für Handel und Militär zu erschließen. Im Nu siedelten sich chinesische und malaysische Händler an, die Briten brachten Inder mit, ihr Lieblingskolonialvolk, das sie überall dort ansiedelten, wo sie imperialismuserfahrene Untertanen brauchten. So wurde die Äquatorinsel zu einem der begehrtesten Verwaltungsposten im britischen Weltreich. Doch mit dem Ende des Empires nach dem Zweiten Weltkrieg schien auch Singapurs Stern zu sinken.

Der Welthandel fand inzwischen auf Schiffen statt, die so groß waren, dass die Stadt als Warenumschlagplatz nicht mehr gebraucht wurde. Ein paar zünftige Matrosenkneipen waren so ziemlich alles, was die Welt noch von Singapur erwartete. Die wirtschaftliche Flaute führte zu Unruhen. Die in getrennten Stadtteilen lebenden Kulturen – rund 70 Prozent Chinesen, 20 Prozent Malaysier und zehn Prozent Inder – zettelten untereinander Kleinkriege an, die so ausarteten, dass Malaysia, dem Singapur sich 1963 angeschlossen hatte, die Ex-Kolonie 1965 kurzerhand aus der gemeinsamen Föderation schmiss. Wider Willen wurde die Stadt zum Staat.

In dieser verfahrenen Situation begann eine kleine Gruppe lokaler Eliten um den jungen Anwalt Lee Kuan Yew, Singapur neu zu erfinden. Lee hatte in Cambridge und an der London School of Economics studiert und ahnte, wohin sich die Welt bewegen würde: in Richtung Großindustrie, Technologie und Globalisierung. Er glaubte daran, dass Singapur von dieser Entwicklung profitieren könne. Für eine langwierige demokratische Selbstfindung schien ihm allerdings keine Zeit – das Volk musste zu seinem Glück gezwungen werden. So etablierten Lee und seine Leute eine Entwicklungsdiktatur, der das Wohl der Allgemeinheit am Herzen lag, in der Entscheidungen aber getroffen wurden wie in einem streng hierarchischen Unternehmen.

Um Singapur international zu machen, wurde Englisch zur offiziellen Amts- und Schulsprache erklärt. Um die kulturellen Fronten aufzulösen, wurde der öffentliche Wohnungsbau eingeführt und in jeder Siedlung eine repräsentative Mischung der Bevölkerung untergebracht. 80 Prozent der Menschen in Singapur leben heute so. Vor allem aber wurde in Bildung investiert. Lee ließ Universitäten für zukunftsträchtige Disziplinen wie Ingenieurs- und Naturwissenschaften oder Wirtschaft bauen. Hunderte Singapurer wurden mit staatlichen Stipendien ins Ausland geschickt. Eines davon gab Lee sich selbst: 1968 nahm er eine mehrmonatige Auszeit, um in Harvard seine Kenntnisse über Volkswirtschaftslehre und Verwaltungswesen auf den neuesten Stand zu bringen. Nicht, dass es ihm an Selbstbewusstsein oder Entscheidungsfreude gemangelt hätte. Aber Lernen ist ein lebenslanger Prozess, fand Lee, selbst für einen Premierminister.

Auch ein Traumstandort kann noch besser werden

So entwickelte sich innerhalb weniger Jahrzehnte eines der härtesten, aber auch besten Ausbildungssysteme der Welt. Internationale Konzerne wussten das früh zu schätzen, denn so sehr sie nach Asien drängten, so schwer war es, in der Region eine Basis zu finden, die sich für anspruchsvolle Fertigungsprozesse und Dienstleistungen eignete. „Singapur bietet ein ausgezeichnetes Geschäftsumfeld, eine exzellente Basis an Zulieferern und sehr gut ausgebildete, hoch motivierte Mitarbeiter, die zudem als Muttersprache Englisch sprechen“, bilanziert etwa Hans-Dieter Bott, Singapur- Geschäftsführer der Siemens AG, die in der Stadt 2000 Mitarbeiter beschäftigt. „Ein Traumstandort.“

Das Attribut gilt mittlerweile allerdings für viele Städte in der Region, für Schanghai beispielsweise oder auch für Mumbai. Denn auch China und Indien haben nicht geschlafen und hervorragende Universitäten aufgebaut, deren Absolventen ebenfalls oft Englisch sprechen, aber für deutlich weniger Geld arbeiten als ihre Kollegen in Singapur. Daneben haben die beiden bevölkerungsreichen Länder einen Standortvorteil, den Singapur unmöglich bieten kann: einen großen Markt. Um von den beiden Riesen nicht erdrückt zu werden, versucht der Zwerg deshalb, sich abermals neu auszurichten: Der Stadtstaat will ein regionales „talent hub“ werden, ein Zentrum der globalen Wissensgesellschaft, das über Technologie und Know-how verfügt, die es anderswo nicht gibt, sondern exklusiv in Singapur.

„Unserer Meinung nach ist es ein Paradigma des 21. Jahrhunderts, dass Investitionen und Wirtschaftswachstum dorthin gehen, wo das Know-how sitzt“, sagt Tan, der seit Januar eine von zwei großen regierungsfinanzierten Organisationen leitet, die Singapurs Zukunft einläuten sollen: die National Research Foundation. „Deshalb suchen wir gezielt nach Technologien, in denen Singapur Weltspitze sein kann.“ 2,5 Milliarden Euro hat Tan zur Verfügung, um Strategien zu entwickeln, Forschungsprojekte zu finanzieren und Kooperationen mit internationalen Konzernen einzufädeln. Unterstützt wird er dabei von einem prominent besetzten Expertengremium, das sich zweimal im Jahr für mehrere Tage vor Ort treffen soll, um zukunftsträchtige Projekte zu identifizieren und anzuschieben: Die Nobelpreisträger Robert Grubbs (Chemie), Douglas Osheroff und Max-Planck-Direktor Theodor Hänsch (Physik) gehören ebenso dazu wie SAP-Vorstand Shai Agassi und zehn weitere große Namen der internationalen Forschung und Industrie. Begeistern will Tan sie nicht nur mit hohen Beratungshonoraren, sondern vor allem mit der Genugtuung, Vorschläge prompt verwirklicht zu sehen. „Weil wir ein kleines Land sind, geht die Umsetzung einer Idee bei uns sehr schnell. Was anderswo fünfzig Jahre dauert, schafft Singapur in fünf.“

Die Strategie dahinter ist einfach: In staatlich finanzierten Wissensfabriken lässt die Regierung Wissenschaftler an Schlüsseltechnologien arbeiten und bietet ausländischen Investoren damit sowohl weiche als auch harte Infrastruktur. Einerseits wächst ein Pool kompetenter Mitarbeiter heran, andererseits entstehen so Labore, die Entwicklungsdienstleistungen anbieten können. Im Idealfall sollen die Technologien und Patente der staatlichen Institute gemeinsam mit internationalen Unternehmen zur Marktreife gebracht werden. So soll der Anteil von Forschung und Entwicklung am Bruttoinlandsprodukt, der 2004 bei 2,25 Prozent lag, schnell steigen (zum Vergleich: EU: 1,9 Prozent; USA 2,6 Prozent).

Wie lockt man Talente? Mit einer konsequenten Strategie

Die dafür benötigten Fachkräfte muss Singapur allerdings aus dem Ausland anwerben. Denn selbst mit dem besten Bildungssystem der Welt lassen sich aus einer Bevölkerung von 4,4 Millionen Einwohnern nicht mehrere hunderttausend Spitzenforscher rekrutieren. Heute. Morgen soll das anders sein. Deshalb wird im Stadtzentrum derzeit ein neues Universitätsviertel mit sage und schreibe 14 Hochschulen aus dem Boden gestampft. 150.000 ausländische Studierende will Singapur in zehn Jahren haben – und halten. Partnerschaften mit internationalen Universitäten spielen dabei eine Schlüsselrolle. So gründete die National University of Singapore (NUS) im Januar 2006 zusammen mit neun anderen Elitehochschulen – darunter Oxford, Cambridge und Yale – einen exklusiven Wissenschaftsverbund, um gemeinsame Forschungsprojekte durchzuführen und Studenten auszutauschen. Mit dem MIT besteht bereits ein gemeinsames Unterrichtsprogramm, bei dem 600 Studenten vergangenes Jahr in Singapur ihren Abschluss machten. Zwei Drittel entschieden sich zu bleiben.

Eine der staatlichen Wissensfabriken, mit denen der Stadtstaat internationale Intelligenz ködern will, liegt im Süden der Insel auf einem grünen Hügel und sieht aus der Ferne aus wie eine Science-Fiction-Burg: Biopolis. In dem 500 Millionen Dollar teuren 200.000-Quadratmeter-Komplex, dessen Gebäude Namen wie Genome, Matrix, Chromos oder Nanos tragen, soll unter anderem Medizin- und Biotechnik entwickelt werden, eine der Branchen, die Singapur für sich entdeckt hat. Vor fünf Jahren gab es vor Ort noch so gut wie keine biomedizinische Industrie; inzwischen macht sie bereits sechs Prozent des Bruttoinlandsproduktes aus. Dass dabei ethisches Laissez-faire gelte, wird vehement bestritten. Das Forschungsfeld sei groß genug, um weltweit tausenden Wissenschaftlern Arbeit zu geben.

„Im Grunde arbeiten wir ähnlich wie die F & E-Abteilungen großer Konzerne“, sagt Vincent Soh. Er arbeitet im neunten Stock von Matrix in der Planungsabteilung der Agency for Science, Technology and Research, kurz A*STAR genannt. Neben Tony Tans National Research Foundation, die direkt dem Premierminister untersteht, ist A*STAR die zweite Regierungsbehörde, die mit dem Projekt „talent hub“ beauftragt ist. „Wir machen strategische Planung, forschen aber auch selbst und bemühen uns, Entwicklungen zu vermarkten“, sagt Soh. DivX zum Beispiel, der heute gängige Komprimierungsstandard für digitales Video, ist größtenteils von A*STAR programmiert worden. Zwölf Institute mit rund 2000 Forschern unterstehen der Agentur, deren Chef Philip Yeo kürzlich die Devise ausgegeben hat: „Andere sammeln Briefmarken, wir sammeln Wissenschaftler.“

In welchen Bereichen Singapur sammelt, kann Soh per Powerpoint an die Wand werfen. Neun Schlüsselindustrien hat die Regierung ausgemacht, neben Biomedizin und Gentechnik auch Feinchemie, Nanotechnologie, Elektronik, Informationstechnologie und Medien. Für Letztere wird derzeit zwei Hügel von Biopolis entfernt eine eigene Wissensfabrik gebaut: Fusionpolis. Verbunden werden die beiden Zukunftsstädte vom Campus der Business-School INSEAD, einer der weltweit führenden MBA-Schmieden. Beeindruckende Projekte allesamt – und doch hat Singapur nicht nur Fans. Denn während andere Epizentren der Knowlegde-Economy – das Silicon Valley, die amerikanischen Ivy-League-Universitäten oder europäische Metropolen wie London oder Paris – über Jahrzehnte organisch entstanden sind, ist der Stadtstaat ein synthetisches Kunstprodukt. Singapur ist zwar zum Inbegriff effektiver Planung und effizienter Umsetzung geworden, ihm haften jedoch auch die Adjektive „steril“, „unkreativ“ und „autoritär“ an. Als Symbol der negativen Nebenwirkung übertriebener Kontrolle galt jahrelang das Kaugummi-Verkaufs-Verbot. Äußerst zweifelhaften Ruhm erlangte der Stadtstaat auch mit der noch immer praktizierten Prügelstrafe und der laut Amnesty International wohl höchsten Pro-Kopf-Hinrichtungsrate der Welt. Und der Mangel an Demokratie brachte Singapur den Vorwurf ein, dass es mit der vermeintlichen Offenheit wohl nicht so weit her sein könne.

Andere sammeln Briefmarken, wir sammeln Wissenschaftler.

Philip Yeo

Mehr Wachstum – mehr Freiheit

Um die Kritiker zum Schweigen zu bringen, versuchen die Stadtväter inzwischen eine geplante Liberalisierung. Kaugummis sind seit kurzem wieder erhältlich – wenn auch nur in Apotheken gegen Unterschrift und Vorlage eines Ausweises. Der Premierminister wird schon seit Anfang der Neunziger frei gewählt, auch wenn es zu Lee Kuan Yews People’s Action Party keine echte Alternative gibt: Bei den Parlamentswahlen Anfang Mai dieses Jahres erhielt sie 82 von 84 Sitzen. Regierungschef ist inzwischen Lees Sohn Lee Hsien Long, dessen Frau das staatliche Investmenthaus Temasek, Singapurs größtes und wichtigstes Unternehmen führt. Die Familie besteht allerdings darauf, dass ihre Mitglieder die Positionen allein ihrer Leistung zu verdanken hätten. Merklich freier sind inzwischen die großen Zeitungen der offiziellen Singapore Press Holding, die heute ebenfalls Tony Tan untersteht. Eine Initiative für kosmopolitisches Entertainment soll die ehemals als verkniffen verschriene Stadt für ausländische Angestellte und Touristen attraktiver machen. Vergangenen Dezember eröffnete mit dem „Crazy Horse“ das erste frivole Tanztheater. In den kommenden Jahren sollen zwei große Kasino-Ressorts entstehen. Auch die Wissensgesellschaft will unterhalten werden.

Selbst wenn es nicht geht, wird es irgendwie gehen

Wohlstand wird in Singapur also wohl auch in Zukunft entstehen. Ob die Bewohner damit zufrieden sind, ist eine andere Frage. „Geld und Glück sind zweierlei“, sagt Poon Kheng Liam. Er ist nur ein Statist der Wissensgesellschaft, wenn auch einer, ohne den ihre Protagonisten sich das Leben nicht vorstellen könnten: Er fährt Taxi, und auf seinen Fahrten hört er so einiges über die Gemütslage der Nation. „Das hohe Bildungsniveau hat dazu geführt, dass viele Menschen allein sind“, erzählt er. „Frauen sind meist klüger als Männer, was die Partnersuche nicht gerade einfacher macht.“ Seine beiden älteren Schwestern, gut verdienende Angestellte im öffentlichen Dienst, sind Singles und werden es wohl auch bleiben. Poon ist selbst schon 40. Und ebenfalls noch unverheiratet. „Ich bin nur ein einfacher Fahrer“, erklärt er, „wie soll ich in Singapur eine geeignete Frau finden?“ Geeignet heißt für ihn wie für viele andere: finanziell, intellektuell und altersmäßig ein kleines, aber erkennbares Stückchen unter ihm. „Wenn die Frau ihren Mann nicht achtet und bewundert, hat der nichts zu lachen“, sagt Poon. „Das mag altmodisch klingen, aber auch wenn Singapur modern aussieht, sind wir im Herzen noch sehr traditionell.“

Seit Jahren lässt er deshalb einen professionellen Kuppler für sich Ausschau halten. Dass es mit einer lokalen Frau nichts werden würde, war schnell klar. Im Ausland sind Singapurer als Ehepartner allerdings hoch begehrt. Vor allem chinesische Partneragenturen schicken gruppenweise Heiratswillige in den Stadtstaat. Poon hat mehrere von ihnen getroffen. Erfolglos. „Meistens ist schnell klar, dass man mit den Frauen auch eine ganze Großfamilie heiratet und ernähren muss.“ Kürzlich lernte er eine junge Frau aus Burma kennen, die in Singapur als Putzhilfe arbeitet und nebenher eine Ausbildung als Kinderbetreuerin macht. Mit einer Heirat wird es zwar nicht einfach, weil Singapurs Behörden es Ausländern mit niedriger Ausbildung nicht gerade leicht machen. Aber das schreckt Poon nicht ab. „Selbst wenn es nicht geht, wird es letztlich doch irgendwie gehen“, sagt er. Das ist in Singapur eine Redewendung. Und seit Jahrzehnten das Glaubensbekenntnis der Stadt: Geht nicht, gibt’s nicht.


Dieser Text stammt aus unserer Redaktion Corporate Publishing.