Der ungehobene Schatz

Die Armen der Welt stehen für eine riesige Kaufkraft. Mehr als vier Milliarden Menschen, rund zwei Drittel der Weltbevölkerung, haben pro Tag nur zwei Dollar oder weniger zur Verfügung. Genug, um ihre Grundbedürfnisse zu decken – und sich einen bescheidenen Luxus zu gönnen. Aber dürfen Unternehmen an die Ärmsten der Armen verkaufen? Sie sollten sogar. Spurensuche in einem bislang vernachlässigten Markt.




1. KLEINE EINHEITEN, VERÄSTELTER VERTRIEB

Ein Frühjahrsmorgen im südindischen Dorf Kovilankulam. Es ist heiß, schon jetzt herrschen mehr als 25 Grad im Schatten. Die 38-jährige Prerana hockt auf dem staubigen Boden vor ihrer fensterlosen Lehmhütte. Vorsichtig fasst sie die Kostbarkeiten an, die vor ihr auf einem bunten Tuch liegen: winzige Vaseline-Dosen, Haarshampoo in Miniaturpackungen, Döschen mit Creme. Packungen wie aus dem Kinder-Kaufmannsladen. Selvi, eine zierliche Frau im bunten Sari, hat die Schätze vor einigen Minuten vor Prerana ausgebreitet, um sie zu verkaufen. Für Prerana sind die Kosmetikprodukte Boten einer anderen Welt, bunt und begehrenswert.

Ihre Welt ist das Dorf: Die nächste Stadt ist mehr als 50 Kilometer weit entfernt. Wer dort hin will, muss den mit Schlaglöchern übersäten Sandweg nehmen, der ein paar Meter von Preranas Hütte entfernt verläuft. Preranas Mann arbeitet als Bauer, wie fast alle Männer des Dorfes. Auch sie hilft oft auf dem Feld. „Die Arbeit bringt nicht viel Geld, aber es reicht.“ Gemeinsam verdienen sie etwa 50 Euro im Monat. Das hat gereicht, um die bescheidene kleine Hütte zu bauen. Rund sieben Quadratmeter, die sich die Inderin mit ihrem Ehemann und dem neunjährigen Sohn teilt. Von der Decke baumelt eine einsame Glühbirne, in einer Ecke liegt eine Bastmatte, gegenüber stapeln sich Stahltöpfe neben einer kleinen Feuerstelle. Die Familie kann sich regelmäßige warme Mahlzeiten leisten. Ab und zu kauft Prerana ein Schulheft für den Sohn. Und immer wieder gibt sie ein paar Rupien für kleine Mengen Shampoo, Waschpulver oder Creme aus. „Das ist jedes Mal ein Fest.“

Ein Fest, das sich auch immer mehr ihrer Nachbarn leisten, seitdem vor rund einem Jahr die 37-jährige Selvi zum ersten Mal an ihre Tür klopfte. Mittlerweile kommt sie regelmäßig. Jeden Nachmittag zieht die Frau, beladen mit Shampoos, Seifen und Waschmittel durch Kovilankulam und zwei Nachbarorte. Fünf bis zehn Kilo trägt Selvi in ihrer Stofftasche, wenn sie von Haus zu Haus geht, sich zu den Frauen hockt, ein Schwätzchen mit ihnen hält und quasi nebenbei ein paar ihrer Waren verkauft – ausschließlich Produkte von Hindustan Lever Limited (HLL).

Die indische Unilever-Tochtergesellschaft hat die untersten Bevölkerungsschichten Indiens als Konsumenten entdeckt. Schon 1987 begann der Konzern, Fläschchen mit Shampoo für eine einzelne Haarwäsche zum Preis von umgerechnet vier bis fünf Cent zu verkaufen. Heute bietet der größte Konsumgüterhersteller Indiens fast alle seine Produkte auch im Mini-Format an: daumennagelgroße Dosen Vaseline für umgerechnet acht Cent oder Acht-Gramm-Dosen Pond’s Gesichtscreme für zehn Cent. Ein lohnendes Geschäft: Rund die Hälfte seines Umsatzes macht HLL heute mit den Kleinstportionen. Im Shampoo-Segment verkaufte der Konzern im vergangenen Geschäftsjahr von insgesamt 60,4 abgesetzten Tonnen fast 70 Prozent in Miniatureinheiten.

Der Anteil ist stetig gestiegen, seit das Unternehmen vor fünfeinhalb Jahren ein neues Vertriebssystem namens Shakti entwickelt hat: Lokale Unternehmensgründerinnen wie die Kosmetikvertreterin Selvi helfen HLL dabei, schwer erreichbare Regionen zu erschließen. In diesen Gebieten sucht die Firma nach so genannten Shakti Amma, „befähigten Müttern“, schult sie und beliefert sie mit HLL-Produkten. Für viele der inzwischen mehr als 15.000 Shakti Amma ist die Aufgabe die erste Chance, eigenes Geld zu verdienen. „Die Arbeit gibt mir viel Selbstbewusstsein“, sagt Selvi, „das Geschäft läuft gut.“ Im ersten Monat hat sie knapp 203 Euro Umsatz gemacht, „sehr viel für eine Anfängerin“, inzwischen sind es 295 Euro. Davon bleiben Selvi – je nach Produkt – acht bis neun Prozent, 24 bis 27 Euro im Monat. „Viel Lohn für drei bis vier Stunden Arbeit am Tag“, findet Selvi.

Und HLL profitiert ebenfalls. „Ende der Neunziger erreichten wir weniger als ein Fünftel der indischen Dörfer“, sagt Dalip Sehgal, Chef der HLL-Unternehmenssparte New Ventures & Marketing Services. Bis zum Jahr 2010 will die Firma ihre Produkte mithilfe von etwa 100.000 Shakti Ammas auch in den restlichen 500.000 Dörfern des Landes verkaufen.

2. UMDENKEN UND DEN MARKT ERKENNEN

C. K. Prahalad, Professor für Unternehmensstrategie an der University of Michigan Business School, kennt die speziellen wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse, auf die sich Firmen in Indien einstellen müssen – und er hat erfahren, wie bestimmte Bevölkerungsgruppen des Landes über ökonomischen Wandel denken.

Als der gebürtige Inder nach seinem Studium in Harvard als Dozent nach Indien zurückkehrte, stieß seine Befürwortung des Welthandels auf wenig Gegenliebe bei indischen Nationalisten. Prahalad reagierte prompt, verließ seine Heimat erneut und ging zurück in die USA. Seitdem sind Jahrzehnte vergangen. Doch seinem Ruf als Querdenker wird Prahalad, den das US-Wirtschaftsmagazin Business Week als einen der „wohl einflussreichsten Denker von Geschäftsstrategien unserer Zeit“ betitelte, auch mit seiner neusten Mission gerecht: Unermüdlich wirbt er für Modelle, die es Unternehmen erlauben, profitable Geschäfte mit den Ärmsten der Welt zu machen – zum Nutzen aller Beteiligten. „Die vier Milliarden Ärmsten können der Motor für die nächste Runde des globalen Handels und Wohlstands werden“, schreibt Prahalad in seinem jüngsten Buch „The Fortune at the Bottom of the Pyramid: Eradicating Poverty through Profits.“ Voraussetzung dazu sei jedoch, dass Unternehmen aufhörten, die Armen als Opfer zu sehen, und sie als das wahrzunehmen, was sie sind: wertbewusste Konsumenten.

Tatsächlich verfolgen multinationale Konzerne Erfolgsgeschichten wie die von HLL inzwischen mit wachsendem Interesse. Immer mehr Beobachter realisieren, dass die ärmeren Bevölkerungsschichten in Entwicklungs- und Schwellenländern ein riesiger Wachstumsmarkt sind – und dass es sich lohnt, sie schon heute zu Kunden zu machen. Mehr als vier Milliarden Menschen, rund zwei Drittel der Weltbevölkerung, leben von rund zwei Dollar am Tag. Pro Person eine verschwindend kleine Summe.

„Doch allein durch ihre riesige Zahl stellen die Niedrigverdiener eine bedeutende latente Kaufkraft dar“, sagt Prahalad. Besonders interessant seien bislang vernachlässigte Käuferschichten in Ländern wie China, Indien, Brasilien, Mexiko, Russland, Indonesien, der Türkei, Südafrika und Thailand. Mit einer Bevölkerung von mehr als drei Milliarden Menschen erwirtschaften diese Staaten gemeinsam ein Bruttoinlandsprodukt von rund vier Billionen Dollar. „Das ist kein Markt, den man ignorieren darf“, findet Prahalad. „Es gilt ihn zu aktivieren.“

Wie das geht? Indem Unternehmen einige Regeln beachten, glaubt der Stratege. Die wichtigsten: „Konzerne müssen ihre Produkte in kleinen, bezahlbaren Mengen anbieten.“ Geschäftsmodelle müssten skalierbar und über Ländergrenzen, Kulturen und Sprachen hinweg übertragbar sein. Wichtig sei auch, so Prahalad, dass die Produkte unter schwierigen Bedingungen wie etwa bei schlechter Stromversorgung funktionieren.

Zudem müssten Unternehmen die potenziellen Käufer erst behutsam an den Konsum heranführen. Wer ohne schulische Bildung und Zugang zu Medien lebe, müsse oft erst lernen, Produkte zu nutzen und wirtschaftliches Verhalten zu trainieren, etwa Risiken abzuschätzen und Verträge zu respektieren. Da wirke es fast schon wie eine Art Ausbildungsprogramm, wenn Unternehmen Arme als Partner in ihre Geschäftsmodelle einbeziehen, wie Hindustan Lever es in seinem Shakti-Vertriebssystem getan hat. Diese neu gewonnenen Mitarbeiter würden so aus der Schattenwirtschaft in den organisierten Arbeitsmarkt gebracht, während Konzerne weitflächiger agieren könnten. „Das Vertriebssystem muss so funktionieren, dass es auch die entlegensten Regionen versorgt.“ Und das möglichst Kosten sparend. Nur so könnten Firmen aus dem Geschäft mit Niedrigverdienern Profite ziehen.

„Innovationen für den Markt der Armen fordern unsere etablierte Denkweise heraus“, sagt Prahalad. Sie könnten den Fluss von Konzepten, Ideen und Methoden umkehren. Und gerade darum auch eine Quelle für Neuerungen in hoch entwickelten Märkten sein. „Für multinationale Konzerne, die der Zeit voraus sein wollen, wird es immer entscheidender, in solchen Märkten zu experimentieren“, glaubt der Wissenschaftler. „Das ist keine Option mehr, sondern ein Muss.“

3. MULTIPLIKATOREN GEWINNEN

Brahmanand Hedge, Manager der indischen ICICI Bank, hat die Zeichen der Zeit erkannt. Der Blick aus seinem Büro fällt auf Beton. Nebenan stehen zwei weitere Banken, am Horizont ein Baukran, Wahrzeichen einer Großbaustelle mitten in einem der boomenden Industriegebiete am Stadtrand von Mumbai. Hedge schaut aus dem Fenster und sagt: „Den nächsten Wachstumsschub für unser Geschäft wird der ländliche Markt Indiens bringen.“ Brahmanand Hedge leitet die Mikrofinanzierungs-Projekte sowie andere Dienstleistungen der Bank, die auf die arme Klientel in den ländlichen Regionen Indiens abzielen. „In den Städten wird der Wettbewerb unter den Banken immer härter“, sagt Hedge, „da draußen aber gibt es einen großen brachliegenden Markt, der extrem produktiv und vorhersehbar ist.“ Auf die ländliche Bevölkerung entfallen im Moment nur 30 Prozent der insgesamt rund 428 Millionen Bankkonten des Landes. Hedge ist sich sicher: „Da wartet eine Goldgrube.“

Um diesen Schatz zu heben, bietet die ICICI Bank seit rund fünf Jahren Mikrokredite an, die Arme auf dem Weg in die Selbstständigkeit unterstützen sollen. Die ICICI Bank entwickelte ein Vertriebssystem, dessen Kern Selbsthilfegruppen bilden. Diesen Gemeinschaften gehören je 15 bis 20 Frauen eines Dorfes an. Statt jeder einzelnen Kundin einen Kredit zu gewähren, vergibt die Bank ein Darlehen an die Gruppe. „Das reduziert den nötigen Kontakt mit der Gemeinschaft auf die jeweilige Leiterin“, sagt Hedge. Für die Aufgabe wählt die Bank gut ausgebildete Frauen aus der Region aus, die Erfahrung beim Aufbau von Selbsthilfegruppen haben, die Sprache der Gruppe sprechen, die Kultur der Dörfer kennen sowie Glaubwürdigkeit in der Gemeinschaft genießen.

Auch den Prozess der Kreditvergabe gestaltet die Bank anders als viele andere Mikrofinanzierungs-Institutionen. Bevor sie einen Kredit gewährt, führt sie die Mitglieder der Selbsthilfegruppen zunächst ans Sparen heran und reduziert so das Risiko von Zahlungsausfällen.

So muss jede Frau zu den monatlichen Treffen der Runde anfangs kleine Beträge von umgerechnet etwa 90 Cent mitbringen, die auf ein gemeinsames Konto eingezahlt werden. Nur wenn dieser Prozess reibungslos läuft, erhält die Gemeinschaft nach einigen Monaten einen Kredit von rund 4600 Euro. Über die Verwendung und Aufteilung des Geldes unter den Frauen entscheidet die Gruppe gemeinsam, sie haftet auch für die pünktliche Rückzahlung des Darlehens. Frauen, die Raten ihres Teilkredits nicht rechtzeitig zahlen, droht neben dem sozialen Druck der Gruppenmitglieder eine Geldstrafe, die sie auf das gemeinsame Sparkonto einzahlen müssen. Verläuft die erste Kreditrunde erfolgreich, kann die Selbsthilfegruppe bei der Bank einen zweiten Kredit mit einem höheren Gesamtvolumen beantragen. Die Zinsen liegen zwischen 12 und 30 Prozent, je nach Risikoprofil der Selbsthilfegruppe. Regionale Geldverleiher verlangen Wucherzinsen bis zu 300 Prozent. „Die Selbsthilfegruppen sind gewissermaßen eine Erweiterung einer traditionellen Bank“, sagt ICICI-Manager Hedge. Die Frauen übernehmen einen Teil der Aufgaben, die im traditionellen Geschäftsmodell Bankangestellte leisten. Sie prüfen die Zuverlässigkeit der Mitglieder ihrer Gruppe sowie die Realisierbarkeit der von ihnen geplanten Vorhaben, sie kontrollieren den Fortschritt der Projekte, überwachen die rechtzeitige Tilgung der Kredite und bürgen für die Rückzahlung des gesamten Darlehens.

Das System ist erfolgreich: Die Rate der Zahlungsausfälle liegt bei weniger als einem Prozent. Rund 22.000 Selbsthilfegruppen gehören inzwischen zum Netzwerk der ICICI Bank, im Jahr 2000 waren es noch 1200. 2004 erwirtschaftete Brahmanand Hedge’s Abteilung ein Nettozinseinkommen von 1,4 Milliarden Rupien (24 Millionen Euro), rund fünf Prozent der gesamten Bankerträge.

Bis zum Frühjahr 2008 will das Finanzinstitut die Zahl der Selbsthilfegruppen sogar auf 100.000 steigern. Um dieses ehrgeizige Ziel zu erreichen, kooperiert die Bank seit dem Frühjahr 2004 mit Nichtregierungsorganisationen (NGOs), die auf Mikrofinanzierungs-Projekte spezialisiert sind. „Sie haben Erfahrungen in Regionen, in die wir expandieren wollen, und wir können das Geld bereitstellen, das ihnen andere Banken oft verwehren“, sagt Hedge.

Alle Beteiligten profitierten: die NGOs, denen meist die Ressourcen fehlen, um ihre Projekte weitflächig und nachhaltig umzusetzen; die Bank, deren Gewinne weiter wachsen – und die Armen, von denen viele nur auf eine Chance warten, sich selbstständig zu machen.

4. VERTRAUEN AUFBAUEN

Das Dienstmädchen Yolanda Moises hatte einen Traum: eine bescheidene Wohnungseinrichtung für ihre Bleibe am Stadtrand der brasilianischen Metropole São Paulo. Innerhalb von zwei Jahren hat sie einen Ofen gekauft, einen Kühlschrank, ein Bett, einen Kleiderschrank und sogar einen Videorekorder und eine Stereoanlage. Sie verdient 190 Dollar im Monat. Zu wenig, dachte sie lange, um sich all das leisten und gleichzeitig den Lebensunterhalt für sich und ihre vier Kinder sichern zu können. Dann hörte sie von Casas Bahia. Die brasilianische Einzelhandelskette mit 522 Niederlassungen im ganzen Land verkauft in ihren Warenhäusern überwiegend elektronische Geräte und Möbel, und zwar vor allem an die armen Bevölkerungsschichten. Die Besonderheit: Casas Bahia räumt den Kunden Billigkredite für Käufe in den eigenen Filialen ein. Ganz ohne formale Sicherung. Der Kunde muss nur seine Adresse angeben – und versprechen, pünktlich zurückzuzahlen.

Warum so viel Vertrauen? „Es geht darum, Menschen den Konsum überhaupt erst zu ermöglichen und sie anschließend an einen Konsum heranzuführen, der zu ihrer finanziellen Situation passt“, sagt Michael Klein, Geschäftsführer von Casas Bahia und Sohn des Unternehmensgründers Samuel Klein. „So machen wir sie langfristig zu loyalen Kunden.“

Das lohnt sich: Rund 41 Prozent der brasilianischen Kaufkraft entfallen auf die Niedrigverdiener des Landes, sie kaufen etwa 45 Prozent aller Elektrogeräte und Möbel. Und das immer häufiger bei Casas Bahia. Das Geschäftsmodell der Einzelhandelskette basiert auf der Erkenntnis, dass Beziehungen das Wesen des Verkaufens sind. Dass Verkaufen auf Vertrauen baut, auf Integrität und auf Dauer. Einmal gewonnene Kunden will Casas Bahia zu Stammkunden machen.

Das Modell funktioniert seit Jahren – und es geht zurück auf die ersten Geschäftserfahrungen des Unternehmensgründers Samuel Klein. Der gebürtige Pole hatte in den fünfziger Jahren in São Paulo begonnen, Bettwäsche, Handtücher und Bettdecken zu verkaufen, indem er in Einwanderervierteln von Tür zu Tür zog. Wenn Kunden zögerten, ihm eine Decke abzukaufen, durften sie die Ware bis zum nächsten Monat behalten – für den Fall, dass sie ihre Meinung ändern würden. Angesichts der oft kalten Nächte São Paulos hatten viele der zunächst Zögernden bis zu Kleins Wiederkehr einige Wochen später die Decke schätzen gelernt. Und als Zeichen ihrer Dankbarkeit zahlten die meisten nicht nur für die Decke, sondern kauften dem Händler weitere Produkte ab.

1958 eröffnete Klein seinen ersten Laden in Sao Caetano du Sol. Seine Käufer lockte er – quasi in Fortführung seiner Deckenpolitik – mit Ratenzahlungen zu günstigen Konditionen. Heute bewerben sich im Schnitt zwei Millionen Kunden monatlich bei Casas Bahia um einen Kredit. Rund 70 Prozent von ihnen haben kein regelmäßiges Einkommen. Etwa 90 Prozent seiner Umsätze, erwirtschaftet Casas Bahia mit vorfinanzierten Käufen.

Das Vertrauensprinzip bricht das Unternehmen nur dann, wenn die Prüfung der Kreditwürdigkeit bei Banken ergibt, dass potenzielle Kunden Altlasten haben. Das trifft auf rund 15 Prozent aller Bewerber zu. Sie bekommen auch bei Casas Bahia keinen Kredit. Bei allen anderen Kandidaten reicht bis zu einem Kaufpreis von 600 Dollar die Angabe eines ständigen Wohnsitzes, bei teureren Produkten macht Casas Bahia das eingeräumte Kreditlimit von einigen, schnell abgefragten Kriterien abhängig: dem Einkommen des Kandidaten, dem erlernten Beruf, den geschätzten laufenden Kosten. Ein Computersystem wertet die Antworten nach dem Gespräch innerhalb weniger Sekunden aus – akzeptiert es den potenziellen Kunden, kann er die Ware kaufen.

Ist das Feedback des Systems negativ, leiten die Verkäufer den Kandidaten an einen der Kreditanalysten des Hauses weiter. Sie entscheiden in der Regel mithilfe weniger zusätzlicher Fragen und gezielter Beobachtungen, ob der Kunde kreditwürdig ist. Gibt ein Kandidat beispielsweise an, als Bauarbeiter zu arbeiten, wird der Kreditanalyst auf Schwielen an den Händen oder starke Augenfalten von der Arbeit unter freiem Himmel achten. Der gesamte Prozess dauert in der Regel nicht länger als zehn Minuten. „Das hilft uns, das Betrugsrisiko zu reduzieren“, sagt Michael Klein, „und wir können eine persönliche Beziehung zu den Kunden aufbauen.“ Das ist auch wichtig, weil Casas Bahia seine Kunden häufig erst zu Konsumenten erzieht. „Wenn zum Beispiel offensichtlich ist, dass sich ein Kunde den gewünschten Großbildfarbfernseher einer bestimmten Marke nicht leisten kann, schlagen unsere Verkäufer preiswertere oder kleinere Modelle vor“, sagt Klein.

Beide Verfahren – die systematische Analyse der finanziellen Situation und die strukturierte Kaufberatung – erklären die außergewöhnliche Zahlungsmoral der Casas-Bahia-Kunden. Mit einer Ausfallquote von durchschnittlich neun Prozent liegt die Einzelhandelskette deutlich unter dem branchenüblichen Schnitt. „Und auch der Faktor Dankbarkeit spielt eine Rolle“, sagt Geschäftsführer Klein. „Woanders können die meisten unserer Kunden noch nicht mal ein Konto eröffnen, wir geben ihnen direkt einen Kredit. Jeder schätzt es, wenn er bei einem Geschäft als Mensch wahrgenommen wird.“

Diese Dankbarkeit äußert sich heute – ähnlich wie damals bei den Deckenkäufern – in der Treue der Casas-Bahia-Kunden. Ein Trend, den das Unternehmen inzwischen allerdings auch gezielt fördert. So erhält jeder Kunde eine Art Bankbuch, in dem einzelne Kredit-Tilgungen vermerkt werden. Für Rückzahlungen kommen die meisten einmal im Monat in eine Filiale der Einzelhandelskette – Gelegenheit für die Verkäufer, ihrer Doppelrolle gerecht zu werden. Sie halten die soziale Beziehung zum Kunden aufrecht, kundschaften gleichzeitig seine persönliche Situation aus und passen die eingeräumte Kreditlinie ständig an. So wird jeder Kundenbesuch, der der Abzahlung laufender Darlehen gilt, für das Unternehmen zu einer neuen Chance, neue Waren auf Pump zu verkaufen.

Die Rechnung geht auf: Rund zwei Drittel aller Kunden, die einen Kredit aufgenommen haben, kaufen wiederholt bei Casas Bahia ein. Und das nicht zuletzt wegen der angebotenen Produkte, die häufig exakt auf die Bedürfnisse der ärmeren Klientel zugeschnitten sind. „Wir nutzen unser Wissen über die Lebenssituationen und Bedürfnisse unserer Kunden auch für die Entwicklung neuer Waren“, sagt Michael Klein. Weil die 2,2-Meter-Standardmodelle zu groß sind für die meisten Häuser und Hütten in den Slums, entwarf Casas Bahia beispielsweise einen preiswerten zwei Meter hohen Schrank. Klein sieht es pragmatisch: „Wer nicht innovativ ist, kommt mit denen, die wenig haben, nicht ins Geschäft.“


Dieser Text stammt aus unserer Redaktion Corporate Publishing.