Schwärmen für das Optimum

Egal, ob es darum geht, Waren effizient und flexibel auszuliefern oder Fahrstühle so zu programmieren, dass sie Passagiere schnell transportieren – bei der Lösung komplexer logistischer Aufgaben hilft der Blick in die Organisation eines Ameisenstaates. Denn ob Mensch oder Insekt – aus der Perspektive eines Biologen meistern beide ganz ähnliche Probleme.




Thomas Runkler mag es gern kompliziert. Das Spezialgebiet des Mathematikers sind lernende Systeme, darunter die Lösung logistischer Probleme, die sein Arbeitgeber Siemens hat. Davon gibt es etliche: „Schon die Aufgabe, tausende Computer von der Tastatur bis zum Monitor termingerecht zusammenzustellen und zu verschicken, gleicht einer Herkulesarbeit“, sagt Runkler. Fehlt bei derartigen Aufträgen auch nur ein einziges Teil, droht sich die Auslieferung der gesamten Bestellung zu verzögern. Zwar kann der Lagerist versuchen, die Krise durch geschicktes Jonglieren von gleichen Produkten verschiedener Aufträge zu managen. Doch welchen Kunden soll er zuerst beliefern? Wer kann noch warten? Kann das Lager einfach eine Tastatur aus den für später geplanten Lieferungen B oder C in die dringendere Lieferung A packen? Die Technik hilft nicht weiter: Bei der Beantwortung derartiger Fragen steigen herkömmliche Computerprogramme angesichts tausender Lieferaufträge, die sich nicht selten aus hunderten von Teilen zusammensetzen, meist vorzeitig aus. Sie sind schlicht überfordert.

Runkler hat das Problem der pünktlichen und flexiblen Warenauslieferung dennoch gelöst. Und zwar mithilfe einer speziellen Software, die der Ingenieur von Siemens Corporate Technology auf Grundlage von so genannten Ameisenalgorithmen entwickelte. Der Begriff ist wörtlich zu verstehen: Seit Anfang der neunziger Jahre setzen Praktiker bei der Lösung komplexer Logistik-Probleme Erkenntnisse um, die Biologen beim Beobachten einfacher Lösungen der Natur gewonnen haben – beispielsweise die Futterbeschaffung oder Vorratshaltung von Ameisen. „Ihre Problemlösungen lassen sich auf die unterschiedlichsten logistischen Abläufe im Konzern übertragen“, sagt Runkler.

Dabei kann der Siemens-Manager auf Erkenntnisse aufsetzen, die Biologen seit 25 Jahren akribisch sammeln. Damals begannen die ersten Forscher, das koordinierte Verhalten der Individuen eines Bienenschwarmes oder eines Ameisenvolkes in Form mathematischer Formeln zu formulieren. Inzwischen ist die Forschung so weit vorangeschritten, dass die so genannten Ameisen- oder Bioalgorithmen Probleme lösen, an denen die menschliche Intelligenz lange Zeit scheiterte. Sie helfen zum Beispiel dabei, Fahrstühle so zu programmieren, dass sie die Passagiere aus verschiedenen Stockwerken möglichst schnell transportieren. Sogar Robotern haben Wissenschaftler mithilfe von Vorbildern aus der Biologie inzwischen beigebracht, komplexe Aufgaben koordiniert zu bewältigen.

Allerdings ist der wissenschaftliche Fortschritt noch längst kein Garant für die Lösung jedes praktischen Problems der Logistik. Mathematisch betrachtet, beruhen Bioalgorithmen nicht auf exakten Formeln und eigenen sich deshalb auch nicht für jede Anwendung. Für Runklers Problem der effektiven Auslieferung jedoch sind sie ein probates Mittel. Dem Siemens-Ingenieur halfen die Lehren aus einem System, das Ameisen schon vor Millionen von Jahren entwickelten, um Lieferverzögerungen bei der Futterbesorgung zu minimieren. Die Insekten finden durch ein ausgeklügeltes System, das auf der Markierung der Transportpfade durch Duftstoffe basiert, immer den kürzesten Weg zu einer Lieferquelle. Dank der Methode, mit der die Tiere dabei aus unendlich vielen Möglichkeiten den optimalen Weg wählen, kann Runkler heute bei Siemens das gesamte Volumen an Lieferaufträgen ständig neu ordnen.

Bei der herkömmlichen Computerlieferung wird ein Teil wie die Tastatur bereits bei der Bestellung einem bestimmten Auftrag zugeordnet, so dass sich der gesamte Auftrag verzögert, wenn sich der Tastaturlieferant verspätet. In Runklers dynamischer Zuordnung hingegen werden alle vorhandenen Teile zunächst in einem virtuellen Lager gesammelt. Die Ameisenalgorithmen bestimmen dann, welcher Auftrag welche Teile aus diesem Lager erhalten soll – und welche Zuordnung zu einer möglichst geringen Lieferverzögerung führt.

„In Experimenten haben wir nahe am optimalen Betrieb gearbeitet und durchschnittlich 97 Prozent der Termine eingehalten“, sagt Runkler. Heute benutzt Siemens das Programm auch für reale Logistikprobleme, beispielsweise um den Nachschub in der Produktion zu organisieren. „Die Erkenntnisse der Biologen haben unser Leben wesentlich leichter gemacht“, so Runkler.

Keine Ameise hat eine Vorstellung von der Wirklichkeit

Einer dieser Biologen ist Guy Theraulaz. Der Weg zu der Koryphäe unter den Ameisenforschern führt nach Toulouse, in ein chaotisches Büro im vierten Stock des renovierungsbedürftigen Instituts für Kognitionsforschung der Universität Paul Sabatier. Der Verhaltensforscher Theraulaz untersucht seit mehr als 20 Jahren, wie Ameisen und Wespen das Leben in ihren chaotisch erscheinenden Insektenstaaten in geregelten Bahnen verlaufen lassen. „Die Evolution hat Ameisen darauf getrimmt, noch im größten Chaos einen sinnvollen Weg zu finden“, berichtet der Biologe. „Ob nun in der Biologie oder in der Fabrik – alle logistischen Probleme haben die Gemeinsamkeit, dass sie unter unendlich vielen Einflüssen stehen.“ Es sei unmöglich, all diese Variablen zu überblicken, darum seien logistische Probleme immer unübersichtlich. „Die Industrie kann dabei von sozialen Insekten wie Ameisen lernen, auf so genannte selbstorganisierende Systeme zu setzen“, sagt Theraulaz.

Keine Biene, Ameise oder Termite habe eine Vorstellung von der Wirklichkeit, in der sie lebt, oder von den Dingen, die sie baut. „Dafür ist ihr kognitives System, ihr Gehirn, gar nicht leistungsfähig genug.“ Das einzelne Insekt reagiert vielmehr auf lokale Reize: Wird eine Ameise angebettelt, füttert sie die Kollegin. Fehlt Futter, geht sie auf die Suche. Allein diese Arbeit, das Produkt der Arbeit oder die bloße Anwesenheit einer Ameise löst das Verhalten der nächsten Ameise aus. Diese direkte Kommunikation, die das Verhalten der Individuen in einem Schwarm koordiniert, ist der Keim des kollektiven Verhaltens, der Anstoß des selbstorganisierenden Prozesses. Das Zusammenwirken tausender Ameisen mit dem eingeschränkten Repertoire von etwa 20 elementaren Verhaltensweisen reicht aus, um dem gesamten Schwarm das Lösen komplexer Probleme zu ermöglichen – vom strukturierten Nestbau bis zum Finden des kürzesten Weges zu einer Futterquelle.

Statt nach diesem kürzesten Weg zu suchen und dann aus Versuch und Irrtum zu lernen, läuft die Ameise einfach los, darauf programmiert, Futter heranzuschleppen. Hat sie eine Quelle entdeckt, versprüht sie auf dem Rückweg einen Duftstoff, ein Pheromon, das den Kolleginnen den Weg zur Nahrung markiert. Ameisen, die einen kurzen Weg entdeckt haben, sind zuerst wieder beim Nest und setzen die Kollegen mit ihrem Pheromon auf die richtige Fährte. Am Ende nutzen alle Insekten nur noch den kürzesten Weg, weil die Pheromonkonzentration dort am höchsten ist.

Die Forschungsergebnisse, nach denen die Ameisen als Ganzes in selbstorganisierenden Prozessen leben, markieren ein Umdenken. „Früher glaubte man noch, dass die komplexen Fähigkeiten eines Schwarmes von einigen besonders befähigten Individuen des Schwarmes kontrolliert werden“, erzählt Theraulaz. Doch diese Lehrmeinung ist inzwischen überholt. Seitdem der Franzose Theraulaz weiß, dass soziale Insekten alles andere als hierarchisch organisiert sind, hat er immer wieder versucht, das Verhalten von Ameisen für die Lösung menschlicher Probleme in der Logistik zu nutzen. Die Idee dazu entstand am Santa Fe Institute in New Mexiko, einer Hochburg für die interdisziplinäre Erforschung künstlicher Intelligenz (siehe auch McK Wissen 15). Ende der achtziger Jahre untersuchte Theraulaz dort als Postdoc das Nestbauverhalten von Wespen. Als 1990 der Informatiker Eric Bonabeau am selben Institut an einer Tagung über künstliche Intelligenz teilnahm, quartierte man den Franzosen zufällig bei Theraulaz ein. Nächtelang redeten die beiden über ihre unterschiedliche Arbeit und merkten, dass ihre Probleme ganz ähnlich waren.

Stupides Probieren bringt eine Lösung

Bonabeau erzählte von seinem Versuch, in einem ständig überlasteten Telefonnetz den schnellsten Weg für den Datentransfer zwischen zwei Punkten im Netz zu programmieren. Theraulaz berichtete von seinen Ameisen, die spielerisch einfach den kürzesten Weg zur Futterquelle finden. „Wir hatten das Gefühl, dass wir Algorithmen aus der Natur verwenden können, um menschliche Probleme zu lösen“, sagt Theraulaz: „Die Hälfte von Bonabeaus Doktorarbeit ging dann über das kollektive Verhalten von sozialen Insekten und wie sich diese Modelle für Telekommunikationsprobleme nutzen lassen.“

Gemeinsam entwickelten die beiden Forscher einen Algorithmus, der nach dem Vorbild der Ameisen zunächst stupide beginnt, einzelne Lösungsmöglichkeiten auszuprobieren. Einige Ansätze erscheinen zufällig besser als andere und werden mit einer Art mathematischem Pheromon markiert. Die artifiziellen Ameisen beschränken sich so lange auf die markierten Lösungen, bis sich ein Lösungsweg als besonders effizient herausgestellt hat.

Als „Erfinder“ der Ameisenalgorithmen will sich Guy Theraulaz dennoch nicht bezeichnen. Die Idee habe einfach „in der Luft“ gelegen, sagt er. Nicht zuletzt dank Tagungen wie der am Santa Fe Institute, die damals Biologen, Informatiker, Robotik-Forscher und Mathematiker zusammenführten. Theraulaz kehrte nach Frankreich zurück und forscht seitdem an kollektiven Phänomenen. Heute kann der Wissenschaftler durch Computersimulationen und durch Experimente mit Robotern darstellen, dass Komplexität häufig das Produkt miteinander interagierender, relativ simpel denkender Individuen ist. Beispielsweise schafft es ein Computerprogramm, dem Theraulaz die wenigen Regeln beibrachte, nach denen Wespen die Kammern einer Wabe bauen, die Waben verschiedener Wespenarten als Computersimulation fast identisch nachzubilden. Und kleine Roboter, denen der Biologe das Verhalten von Schaben einprogrammierte, agierten anschließend eigenständig so wie die Insekten, von denen die Regeln stammten.

Das zeige, dass es gar nicht nötig sei, Roboter so intelligent wie Menschen zu machen, damit sie komplexe Aufgaben erfüllen, meint Theraulaz. Für bestimmte Aufgaben reiche es, das Verhalten sozialer Insekten zu kopieren. Zum Beispiel das der Honigbiene: Im Laufe ihres Lebens erfüllen die Tiere verschiedene Aufgaben. Zunächst sind sie als Bauarbeiterin und Wachsoldatin tätig, später als Futter sammelnde Arbeiterin. Doch wenn die Vorräte im Stock knapp werden, beginnen auch schon jüngere Bienen auszuschwärmen. Eben dieses Prinzip lässt sich auch beim Lackieren von Trucks nutzen. In der Fabrik bekommt die Karosserie ihre Farbe in Kammern entlang eines Fließbandes. Jede Kammer ist auf eine bestimmte Farbe spezialisiert, doch wenn es nötig ist, kann sie geändert werden – ein logistisches Problem, denn der Farbwechsel kostet Zeit und Geld. Theraulaz und Bonabeau haben ihre Schwarm-Algorithmen verwendet, um herauszufinden, wann es lohnt, in einer Lackierkammer die Farbe zu wechseln – abgeleitet von den Regeln, nach denen Bienen sich zur Verhaltensänderung entschließen. Erst wenn eine bestimmte Futtermenge im Bienenstock unterschritten wird und besonders viele Bienen um Futter betteln, ändern die Jungbienen ihr Verhalten und schwärmen als Arbeiterinnen aus. Und erst wenn so viele Trucks weiß lackiert werden sollen, dass eine einzelne Lackierkammer zu lange dafür brauchen würde, wird die Rotlackiererei der Fabrik auf Weiß umgerüstet.

Auch an anderen Universitäten kamen Forscher auf ähnliche Ideen. Roboter-Entwickler der Universität von Alberta übertrugen das Verhalten einer Gruppe Ameisen, die einen Futterklumpen wegtragen, in die Praxis. Die Wissenschaftler programmierten Roboter dabei mit nur wenigen Regeln: Finde den Klumpen. Kontaktiere den Klumpen. Positioniere dich so, dass der Klumpen zwischen dir und dem Ziel liegt. Dann stoße den Klumpen Richtung Ziel. Keiner der Roboter war anschließend in der Lage, die Last allein zu bewegen. Binnen kurzer Zeit schoben die Automaten den Klumpen jedoch gemeinsam, bis sie das Ziel schließlich erreichten.

Aus dem Werkzeugkasten der Mathematik

So beeindruckend die Forschungsergebnisse auch sind – sie gelten nicht gerade als das Nonplusultra. „Der Ansatz bringt in der Regel keine verlässlichen Ergebnisse“, meint etwa der Mathematik-Professor Martin Grötschel, der an der Technischen Universität Berlin und am Konrad-Zuse-Zentrum für Informationstechnik forscht. Grötschel gilt als Experte für die Lösung logistischer Probleme. Bei der Bürobedarf-Firma Herlitz AG optimierte er die Abläufe im Warenlager, für den ADAC die Einsatzplanung der Gelben Engel, im Auftrag der Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) berechnete er die effizientesten Einsätze von Bussen und Bahnen. „Wir schauen uns die Probleme des Unternehmens an, machen daraus ein mathematisches Problem und suchen uns dann aus dem Werkzeugkasten der Mathematik die Methode, die das Problem am besten lösen kann.“ Und die beste Lösung liefere eben nicht immer ein Ameisenalgorithmus.

Es gibt zwei Gruppen mathematischer Werkzeuge, einerseits „exakte“ Methoden, andererseits die so genannten heuristischen oder stochastischen Algorithmen, zu denen die Bioalgorithmen gehören. „Die exakten Verfahren erlauben wasserdichte Prognosen“, so Grötschel, „oder zumindest Lösungen im Rahmen einer Gütegarantie, also beispielsweise höchstens fünf Prozent vom Optimum.“ Diese Sicherheit könnten Ameisenalgorithmen nicht garantieren. „Für biologisch inspirierte Algorithmen gibt es meist keinen streng mathematischen Beweis, dass sie auch in anderen Bereichen nutzbar sind.“ Ameisenalgorithmen könnten daher nur die wahrscheinlich beste Lösung liefern. Und das könne, so Grötschel, in der Praxis natürlich zu Problemen führen.

Die exakten Methoden stoßen schnell an ihre Grenzen

Als der Mathematiker beispielsweise für die BVG berechnete, wie viele Busse das Verkehrsunternehmen zur Fahrplanerfüllung mindestens braucht, habe er mithilfe exakter Methoden „beweisen“ können, dass es mit einem Bus weniger zu Konflikten mit Tarifbestimmungen gekommen wäre. Ein Ameisenalgorithmus hätte vielleicht ein ähnliches Ergebnis ergeben. Der Auftraggeber hätte sich jedoch nicht sicher sein können, dass er sich darauf verlassen kann. „Ein Bus mehr oder weniger mag nach Peanuts klingen“, sagt Grötschel, doch wer so teure Verkehrsmittel wie eine Flugzeugflotte unterhalte, „für den ist das Wissen, ob der Flugplan mit 24 oder 23 Flugzeugen erfüllt werden kann, Millionen wert.“

Aber auch die exakten Methoden, für die Grötschel plädiert, haben trotz ihrer Treffsicherheit eine entscheidende Schwäche: Bei der Lösung besonders komplexer logistischer Probleme stoßen sie schnell an ihre Grenzen. So muss Grötschel für die BVG beispielsweise noch separat kalkulieren, wie viele Fahrer wie viele Busse fahren sollen. Denn in den Einsatzplänen der Busse sind Reichweiten, Wartungszeiten oder Pannenstatistiken einzubeziehen. Auch die Disposition der Fahrer ist aufwändig – von tariflich festgelegten Pausenzeiten bis zur Krankheitsstatistik sind etliche Komponenten zu berücksichtigen. „Bei der Busumlaufplanung muss man mit hundert Millionen Variablen operieren, um ein Optimum zu finden“, sagt er, „bei der Fahrereinsatzplanung geht es schon um Milliarden von Variablen.“ Beides gemeinsam zu berechnen sei nicht möglich. Und damit meint Grötschel nicht nur, dass die Rechenleistung des Computers nicht ausreicht. Mit dieser Vielzahl von Einflüssen kann auch die Mathematik hinter den Programmen einfach noch nicht umgehen.

Die klassischen, exakten Optimierungsverfahren, wie sie Grötschel einsetzt, nutzt auch der Siemens-Logistiker Thomas Runkler. Auf die Ameisenalgorithmen würde er dennoch nicht mehr verzichten wollen. „Die Probleme in der realen Welt sind häufig so komplex, zudem sind die Informationen so ungenau und unzuverlässig, dass sich nicht einmal eine mathematisch exakte Fragestellung formulieren lässt“, sagt Runkler. Aus der Sicht des Siemens-Experten heißt das, eine Woche lang an einer exakten Lösung herumzurechnen, die er im Zweifel doch nicht findet – oder innerhalb von einer halben Stunde eine geschätzte, nahezu optimale Lösung zu bekommen. „Wenn wir sagen, dass wir eine 99-prozentig optimale Lösung berechnen können, sind die Praktiker meist zufrieden“, hat Runkler festgestellt. Denn in der Praxis sei ein hundertprozentig optimaler Ablauf erfahrungsgemäß ohnehin unmöglich, weil es immer wieder unvorhersehbare Störungen gebe. Der Ingenieur pflegt daher eine ganz pragmatische Sichtweise: „In der Planungsphase eines Logistikprozesses, in der Zeit nicht die größte Rolle spielt, kann und sollte man mit so vielen exakten Methoden wie möglich arbeiten“, meint Runkler. Komme es jedoch anschließend zu Problemen, gehe es darum, möglichst schnell zu reagieren. „Und da sind die Ameisen eben näher am realen Leben.“

Literatur und Links

Eric Bonabeau, Marco Dorigo, Guy Theraulaz: Swarm Intelligence – From Natural to Artificial Systems. Oxford University Press, 1999
Marco Dorigo, Thomas Stützle: Ant Colony Optimization. MIT Press, 2004

www.aco-metaheuristic.org

Fuß vom Gas

Viele dumme Ameisen ergeben einen schlauen Ameisenschwarm. Ein Schwarm intelligenter Menschen sorgt oft für Chaos. Der Verkehrsphysiker Dirk Helbing analysiert das Verhalten von Autofahrern, um Logistikketten zu optimieren.

Im Werk des schwedischen Papierherstellers Svenska Cellulosa Aktiebolaget (SCA) in der südenglischen Grafschaft Kent herrscht dichter Verkehr. Kleine Transportwagen sausen auf Schienen durch die Werkshallen, um Papp-Platten zwischen den Produktionsmaschinen hin und her zu transportieren. Allerdings läuft der Verkehr nicht gerade reibungslos: Immer wieder kommt es zu Störungen und Staus, einige Maschinen laufen dann leer, bei anderen stapeln sich die Platten. Vor knapp vier Jahren hat SCA darum das Institut für Wirtschaft und Verkehr der Technischen Universität Dresden eingeschaltet. Die Verkehrswissenschaftler arbeiten seitdem daran, die Bewegungen in der Fabrik in Gleichungen zu fassen. Ihr Ziel: eine Echtzeitsimulation des werksinternen Verkehrs. „Wir wollen sehen, warum der Produktionsprozess manchmal stockt“, sagt Andrew Ridell, Operations Development Manager für Großbritannien.

Diese Frage treibt viele Hersteller um. Mit steigendem Kostendruck versuchen sie, ihre Maschinen besser auszulasten und deren Taktzahl weiter zu erhöhen. Doch immer schnelleres Tempo bedeutet nicht immer weiter steigende Produktionsleistung – stattdessen hakt es irgendwann im Produktionsprozess. Eine Ursache kennen die Dresdner Verkehrswissenschaftler, weil sie bereits mehrfach an Aufträgen wie dem bei SCA gearbeitet haben: Die Maschinen sind zu schnell. Die Werke müssten das Tempo drosseln, dann wäre die Leistung der Produktionslinie höher. „Das widerspricht natürlich erst mal unserem gesunden Menschenverstand“, sagt Professor Dirk Helbing. Er ist Geschäftsführender Direktor des Dresdner Instituts, von Haus aus Physiker und hat sich auf das interdisziplinäre Fach Verkehrsphysik spezialisiert. Das heißt, Helbing analysiert Auto- oder Fußgängerverkehr und setzt ihn in lange Formelketten um. Die verwendet er, um Logistik- und Produktionssysteme zu optimieren.

Die Übertragbarkeit liegt auf der Hand, schließlich sind sowohl Straßenverkehr als auch Produktionsstraßen komplexe, dynamische und mitunter chaotische Logistiksysteme. Fahrzeuge entsprechen Produkten, Ampeln und Kreuzungen ähneln Maschinen, Straßen korrespondieren mit Produktionslinien. Störungen und Staus gibt es hier wie dort. „Ingenieure oder Verkehrsplaner sind immer sehr überrascht, wenn sich diese Systeme nicht so verhalten wie geplant“, sagt Helbing. Dabei könne man ihr Verhalten mit einer mathematisch anspruchsvollen Theorie komplexer Systeme verstehen. Daraus lassen sich Algorithmen ableiten – sozusagen Verkehrsregeln für Produktionsanlagen.

Kleine Störungen schaukeln sich auf zum Stau

Eine dieser Regeln ist ein Tempolimit für alle Arbeitsschritte inklusive der werksinternen Logistik. Damit läuft die Produktion reibungsloser und effizienter. Den Effekt kennt auch jeder Autofahrer. Schließlich fahren Autos bei starkem Verkehr ohne Tempolimit zwar stellenweise schneller. Aber die Fahrer brauchen auch mehr Sicherheitsabstand zueinander und müssen häufig abrupt bremsen. Die kleinen Störungen schaukeln sich auf, und am Ende geht nichts mehr – Stau. Außerdem kracht es ohne Tempolimit häufiger, und die Unfälle verursachen größeren Schaden. Wenn alle den Fuß vom Gas nehmen, rollt der Verkehr dagegen gleichmäßiger. „Alle Autos fahren mit ähnlicher Geschwindigkeit“, sagt Helbing. „Spurwechsel oder Bremsmanöver werden seltener.“ So schaffen es mehr Autos in einem Zeitabschnitt über die Strecke – langsamer ist letztlich schneller.

Helbing hat den Effekt bereits bei Fahrzeugen nachgewiesen, die im Hafen selbstständig Container transportieren – und auch in Produktionsmaschinen. So hat eine seiner Studentinnen mit dieser Faustregel die Verarbeitung von so genannten Wafern bei einem Chip-Produzenten optimiert. Diese Chip-Rohlinge werden von einem Roboterarm nacheinander in verschiedene Bäder mit Chemikalien und Wasser getaucht. Seit sich der Arm für jeden Schritt mehr Zeit nimmt, kann er mehr Rohlinge parallel bearbeiten. Statt 170 Stück in der Stunde schafft er heute 230 – ein Plus von mehr als 30 Prozent.

Der Erfolg hat Helbing ermutigt. Er arbeitet inzwischen daran, weitere Erkenntnisse aus der Verkehrsforschung auf Logistik- und Produktionssysteme zu übertragen. So hat er kürzlich eine dezentrale Ampelsteuerung zum Patent angemeldet. Dabei koordinieren sich die einzelnen Ampeln gegenseitig, indem sie per Funk das Verkehrsaufkommen bei ihnen an die Signalanlagen in ihrem näheren Umfeld senden. Diese Idee ließe sich auch bei Produktionsmaschinen umsetzen: Maschinen könnten sich ständig mit ihren Nachbarn unterhalten. Ein solches System könnte schnell auf Maschinenzusammenbrüche reagieren und den Materialfluss umleiten. „Fehler schaden einem solchen selbstgesteuerten System nicht“, sagt Helbing, „weil alle Elemente angemessen darauf reagieren können.“


Dieser Text stammt aus unserer Redaktion Corporate Publishing.