15 Jahre oder drei Sekunden

Das Morgen scheint uns fern und fremd.
 Doch jeder Schritt nach vorn ist ein Teil des Neuen. Denn die Zukunft erwächst aus der Gegenwart.




Zeit

Moderne Legenden sind vor allem aus einem Stoff gestrickt: Geschwindigkeit. Nie zuvor, so glauben wir, hat sich die Welt schneller gedreht als heute. Und nie zuvor in der Geschichte der Menschheit schien der Abstand zwischen Heute und Morgen so knapp bemessen.

Doch hohes Tempo erzeugt immer Nebeneffekte. Wo sich vieles schnell dreht, wird einem leicht schwindelig.


Immer schnellere, immer dichtere Informationsstakkatos erreichen uns. Und das Bewusstsein hat für solche Fälle einen Mechanismus entwickelt: Übersteigt die Anzahl der verarbeitbaren Informationen die Möglichkeiten, diese auch tatsächlich zu verarbeiten, folgt dem Schwindelgefühl die Ohnmacht. Abschalten. Am besten nichts Neues.

So geht es heute vielen mit der Zukunft: Vom enormen Tempo irritiert, schalten viele einfach ab. Doch damit wird das Morgen nicht selten zu einem unberechenbaren Risiko.

Dieses Verhalten, das für moderne Gesellschaften seit einigen Jahren kennzeichnend ist, lässt erfahrene Mediziner lächeln. Das Symptom, die Verwirrung über viel Neues, würden sie wohl sagen, wird zur Ursache gemacht. Nicht das Neue, nicht die Zukunft macht uns Angst, sondern die Art und Weise, wie sie sich uns hier und heute darstellt.

Es gibt mehrere Gedankenexperimente, um sich die Angst davor zu nehmen. Als Albert Einstein seine Relativitätstheorie erdachte, war eines seiner wichtigsten Labors ein Personenzug. Die Beobachtungen, die er während der Fahrt machte, führten den visionären Denker zu seiner Formel. Man kann, in Anlehnung an Einstein, in einem Zug hervorragend herausfinden, wie es sich mit der Geschwindigkeit von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verhält. Am besten nehmen wir dazu einen ICE, denn der ist nicht nur sehr schnell, sondern auch ein Symbol für das gegenwärtig Machbare. Doppelt hält besser.

Um die drei Dimensionen zu begreifen, geht man am besten zuerst an das Ende des Zuges, um dort das Tempo der Vergangenheit zu erkennen. Sehen wir in einer mit hoher Geschwindigkeit fahrenden Bahn aus dem letzten Wagen, dann fließt alles ruhig und geordnet nach hinten weg.

Nun nach vorn, an die Spitze des Zuges, um in die Zukunft zu schauen. Am Horizont ist alles recht ruhig, das Neue strömt uns entgegen. Nur an den Rändern unseres Blickfeldes, dort, wo sich das Neue, die Zukunft, mit der Gegenwart verbindet, flackern tausend Linien.

Nun zur Gegenwart. Ein Blick aus dem Abteilfenster zeigt, dass sich die Landschaft bei zunehmender Geschwindigkeit verformt: Je schneller wir das Gegenwärtige durchfahren, desto unschärfer werden die Konturen. Viele Informationen fließen gleichzeitig auf uns ein. Und wir haben nur ein kleines Fenster mit eingeschränktem Blick, durch das wir das Gegenwärtige wahrnehmen können. Das ist verwirrend, aber wissenschaftlich erhärtet. Denn was ist Gegenwart?

Wissenschaftler haben herausgefunden, dass ein Gedanke eine Zeitspanne von drei Sekunden umfasst. Drei Sekunden, in denen ein neuer Eindruck, eine Information sinnlich wahrgenommen, in unser Gehirn eingebettet und uns letztlich bewusst wird. Zerlegt man Musik in wahrnehmbare Harmonien und Gedichte aus allen Zeitaltern in ihre kleinsten, Sinn gebenden Elemene, dann begegnet einem der Drei-Sekunden-Takt immer wieder. Drei Sekunden Gegenwart.

Diese Übung ergibt Sinn: Sie zeigt uns, dass es die Gegenwart ist, die wir am schwersten wahrnehmen können, und sie lehrt, dass die Schwierigkeiten in den Übergängen liegen, die das Heute und Morgen scheinbar trennen. Sie fließen, sie sind kaum wahrnehmbar, sie machen uns Mühe. Die Gegenwart ist ein kurzer Augenschlag zwischen Gestern und Morgen.

Der blinde Passagier

Das ist kein Grund zur Angst. Wir lernen gerade, mit der Informationsgesellschaft umzugehen, die viele Ähnlichkeiten mit einem rasenden ICE hat.

Eine hohe, wahrgenommene Geschwindigkeit bringt viele Informationen mit sich. Wenn wir uns dem Schwindel und der Ohnmacht entziehen wollen, müssen wir lernen, mit diesen rasenden Linien fertig zu werden. Am besten geht das an der Spitze des Zuges, dort, wo sich Gegenwart und Zukunft treffen. Sie sind, so werden wir bald erkennen, nicht voneinander getrennt. Sie sind ein und dasselbe.

Der Zukunftsforscher Robert Jungk hat das 1952, als das rasende Zeitalter – zumindest aus unserer heutigen Perspektive – eben erst begann, so formuliert: „Das Morgen ist schon im Heute vorhanden. Die Zukunft ist keine sauber von der jeweiligen Gegenwart abgelöste Utopie. Die Zukunft hat schon begonnen.“

Wer sich mit Zukunftsfragen beschäftigt, findet sehr bald zu dieser Einsicht – und übt sich in den Übergängen. Denn niemand hat Lust auf einen Blindflug, der, ganz egal, ob aus Schwindel oder Ohnmacht, die heute beginnende Zukunft zu einem reinen Schicksalsmarsch werden lässt. Nur wer versucht, das Neue zu erkennen, kann sich von diesen Fesseln des Schicksals befreien. Zuvor aber stellen sich weitere Fragen: Wie kann man sich des Schwindel- und Ohnmachtsgefühls entledigen? Dazu gehen wir wieder zurück ans Ende des Zuges, wo etwas Klärung auf uns wartet.

2020, das klingt fern. Ist es aber nicht, vom Ende des Zuges aus betrachtet liegt es nicht mal ganz auf dem Horizont, von dem wir wegrasen. Es sind ungefähr eineinhalb Jahrzehnte. So viel Zeit ist verstrichen, seit sich die Bundesrepublik und die DDR zu einem gemeinsamen Deutschland wiedervereinigt haben. Der Augenblick der Geschichte, die einstige Gegenwart, lief damals sehr turbulent ab: Zwischen Anfang Oktober und Mitte November, in sechs Wochen, löste sich auf, was wir jahrzehntelang als unverrückbare Ordnung der Welt gesehen haben. Es war die rasende Gegenwart.

Etwa zu derselben Zeit, als das Abteilfenster der Geschichte uns ein sicher nicht scharfes Bild der deutschen Wiedervereinigung zeigte, begann ein junger Ingenieur am Genfer Forschungszentrum CERN damit, ein seit langem verfügbares, aber bisher nur von wenigen Wissenschaftlern auch wirklich genutztes Kommunikationswerkzeug neu zu gestalten. Der junge Mann namens Timothy Berners-Lee war für die Computerkommunikation der Forscher zuständig und fand es unpraktisch, dass die ihre Ergebnisse immer noch mühsam mit einer Textverarbeitung aufschrieben, ausdruckten und dann mithilfe von Kopierer und Hauspost möglichen Interessenten zustellten.

Berners-Lee begann, das Computernetzwerk mit Namen Internet, das den Forschern in Genf wie an vielen anderen Universitäten zur Verfügung stand, mit einer neuen, einfacheren, ordnenderen Sprache zu versehen, die es ermöglichte, eine gewünschte Information einfach durch das Anklicken eines farblich unterlegten Schlagwortes zu erhalten. Das nannte er Hypertext Markup Language – HTML. Es war die Geburtsstunde des Internets, wie wir es kennen, des World Wide Web, das nun nicht mehr in den Händen scharfsichtiger Spezialisten lag, die die Übergänge zwischen ruhigem Fluss und flackernden Linien zu interpretieren wussten, sondern ein Medium für alle wurde.

Am WWW lässt sich die Sache mit der Gegenwart und der Zukunft, den verschiedenen Aussichtspunkten im ICE und der von Jungk beschriebenen Zukunft, die jetzt beginnt, nochmals deutlich machen. Alles, was wir als Zukunftstechnologien, als künftige Prozesse und Verfahren, als visionäre Ideen mit uns tragen, ist bereits vorhanden, manchmal im Keim, manchmal aber auch schon ziemlich ausgewachsen. Die Zukunft ist ein blinder Passagier an Bord des Zuges, in dem wir uns befinden. Er braucht, um erkannt zu werden, Menschen, die die Unschärfe des Übergangs glätten wollen, also Zukunftsfähige, die aus einem wirren Flackern einen ruhigen Fluss machen wollen.

Wahrnehmung ist also das Wichtigste, wenn es darum geht, den fließenden Übergang zu bestimmen und damit die Zukunft auch gestaltbar zu machen. In der Sprache der Zukunftsforscher heißt das: in Szenarien denken. Szenarien sind ganzheitliche Vorstellungen von einer möglichen Entwicklung die nicht allein eine Technik oder eine ideologische Vorstellung zum Treibmittel für das Künftige machen wollen. Es sind fein ziselierte Denkmodelle, die nicht nur einen zentralen Schienenstrang präsentieren, sondern eine hohe Anzahl von verschiedenen Richtungen offen lassen. Der Clou besteht darin, die Zukünfte, die man sich durch Szenarien vorstellen kann, so vorauszudenken, dass möglichst oft zwischen den verschiedenen Strecken Weichen angebracht werden, die einen Spurwechsel ermöglichen – falls man erkennt, dass die Richtung nicht stimmt.

Dieses neue Denken erfolgt in voller Fahrt – aber wie könnte es anders sein? Der Wandel steht nie deutlich sichtbar am Horizont, er gibt uns nie viel Zeit, um langfristige Pläne zu ändern. Veränderung wird deshalb nur durch ein neues Grundfach möglich, das wir studieren müssen. Es heißt: nach vorn sehen, nach hinten sehen, um die unklaren Linien der Gegenwart zu verstehen. Die neuen Perspektiven daraus lohnen sich: rasches Reagieren auf Neues und der Wille, das Neue zu seiner Sache zu machen.

Wenn die Linien klarer werden, werden wir erkennen: Die 15 Jahre Zukunft sind höchstens drei Sekunden entfernt.


Dieser Text stammt aus unserer Redaktion Corporate Publishing.