USA

Das Gesundheitssystem der Vereinigten Staaten ist ein Dschungel. Wer sich darin zurechtfinden will, muss
sich auf Irrungen, Wirrungen, horrende Preisunterschiede und ein starkes Leistungsgefälle gefasst machen.




Mrs. P. bringt in einem ganz normalen Krankenhaus in San Francisco einen ganz normalen, gesunden Sohn zur Welt. Die Rechnung für Arzt, Hebamme, Anästhesist, Schwestern und drei Tage Aufenthalt kommt postwendend: mehr als 75 000 Dollar. Nach dem ersten Schrecken setzt sich die Bürokratie in Gang. Die Versicherung der Mutter teilt dem Krankenhaus per Computerausdruck mit, dass sie für Geburten wie diese nur 25 000 Dollar erstattet. Die Differenz muss die Klinikverwaltung schlucken, auch wenn sie noch drei Mahnungen an die jungen Eltern schickt.

Die Klinik akzeptiert den Zwangs-Discount der Versicherung – nur so kann es zumindest einen Teil seiner Kosten decken, wohingegen sonst in der Entbindungsstation tagein, tagaus Mütter versorgt werden, die illegal im Land sind und deswegen keinen Cent zahlen. Die Fehlbeträge gleicht eine Mischkalkulation aus, indem an zahlungskräftige Patienten überhöhte Rechnungen gestellt werden. Wäre Mrs. P. privat oder gar nicht versichert, hätte sie den vollen Betrag per Kreditkarte zahlen oder in Raten abstottern dürfen, abzüglich eines vom Verhandlungsgeschick des Patienten abhängigen Rabatts.

Willkommen im Chaos. Das Diktat des freien Marktes hat das Gesundheitswesen in den Vereinigten Staaten in ein sündhaft teures Biotop verwandelt, in dem sich hilfesuchende Patienten und selbst Dienstleister wie Ärzte, Labors und Krankenhäuser kaum noch zurechtfinden. Angefangen bei der Frage, wer sich wie und wofür versichern kann, bis zum Besuch bei einem Facharzt – bei allen kleinen und großen Nöten an Leib und Seele ist hartnäckiger Spürsinn gefragt und ein ausgiebiger Papierkrieg fast unvermeidlich.

Wer sich etwa im Bundesstaat Kalifornien die Gallenblase laparoskopisch entfernen lässt, zahlte im Jahr 2009 dafür am Medical Center der University of Southern California in Los Angeles 6082 Dollar; gerade einmal 26 Kilometer weiter südlich, im Kindred Hospital South Bay, kostete dieselbe Operation 184 376 Dollar. Im Norden, in San Francisco, verlangte das California Pacific Medical Center 38 656 Dollar.

Das sind allerdings nur die Listenpreise der Krankenhäuser, die in der Regel als Verhandlungsbasis dienen – ähnlich dem Schachern beim Neuwagenkauf. Sowohl die drei staatlichen Versicherungsprogramme namens Medicaid (für Einkommensschwache), Medicare (für Senioren und Behinderte) und die Veteranen-Versicherung sowie alle privaten Krankenversicherungen handeln mit jedem Dienstleister eigene Tarife aus. So kommt es, dass der Patient im Notfall zwar von keinem Krankenhaus zurückgewiesen wird, aber für normale ambulante wie stationäre Behandlungen einen ausgiebigen Irrlauf durch die Instanzen antreten muss, um herauszufinden, welche Ärzte und Kliniken die jeweilige Police akzeptieren und welche Behandlungen sie erlauben.

Enorme Ausgaben – und seltsame Auswüchse

Der freie Markt für ein öffentliches Gut hat seinen Preis. „Kein anderes fortschrittliches Land gibt einen höheren Anteil seines Bruttoinlandsproduktes für das Gesundheitswesen aus als die USA, fast zweieinhalbmal so viel pro Kopf wie die Europäer. Geld ist also mehr als genug da, um alle gut zu versorgen“, kritisiert Arnold Relman, Professor Emeritus der Harvard Medical School und ehemaliger Chefredakteur des New England Journal of Medicine.

Trotz der hohen Kosten sind keineswegs alle der mehr als 300 Millionen US-Bürger ausreichend versichert. Knapp die Hälfte aller Einwohner hat eine Krankenversicherung über den Arbeitgeber, 17 Prozent sind als Einkommensschwache über Medicaid versichert, weitere zwölf Prozent als Senioren oder Behinderte über Medicare sowie fünf Prozent über persönliche Policen. 16 Prozent oder fast jeder sechste US-Bürger besitzen keine Krankenversicherung und müssen nicht nur bei Vorsorgeuntersuchungen, sondern auch bei der Behandlung von chronischen Erkrankungen auf angemessene ärztliche Versorgung verzichten oder riskieren den persönlichen Bankrott.

Die Tatsache, dass die Mehrheit der Bevölkerung über ihren Arbeitgeber versichert ist, führt zu seltsamen Auswüchsen, denn die Abdeckung der von den Unternehmen angebotenen Krankenversicherungen schwankt je nach Spendierlaune oder sozialem Gewissen der Firma. Unternehmen handeln über Makler ein Bündel an Versicherungs paketen aus, unter denen die Angestellten wählen. Normalerweise können sie ihre Police nur einmal im Jahr während eines mehrwöchigen Zeitraums ändern, im Fachjargon die „Jagdsaison“ (Open Season) genannt.

Je nach Unternehmen und Vorliebe können Arbeitnehmer wählen zwischen einer Basisversicherung, die nur teure Katastrophen abdeckt, einer sogenannten HMO, die den Zugang zu Ärzten, Spezialisten und Medikamenten streng deckelt, sowie einer großzügigeren Variante namens PPO, die relativ freie Arztund Krankenhauswahl erlaubt. Zahnund Augenarzt-Versicherung sind in der Regel teure Extras, ebenso Versicherungen, die Rezepte bis auf eine kleine Zuzahlung abdecken.

Die verwirrende Vielfalt hat einen einfachen Grund: Es gibt keine Solidargemeinschaft im europäischen Sinne. Jedes Unternehmen handelt je nach Risiko-Pool seiner Belegschaft eigene Prämien aus, von denen die Arbeitnehmer nur einen Bruchteil selbst bezahlen – etwa 50 oder 75 Dollar bei einem monatlichen Beitrag von 500 Dollar oder mehr. Die relativ geringe Zuzahlung der Beschäftigten war ursprünglich als Anreiz gedacht, damit Unternehmen in den Boom-Zeiten der Nachkriegsjahre besser um knappe Arbeitskräfte konkurrieren konnten.

Inzwischen sind diese Policen einer der größten Lohnnebenkostenblocks geworden. So schlug im Jahr 2010 die durchschnittliche Arbeitnehmerpolice (über die in der Regel auch die Familie mitversichert ist) mit 13 770 Dollar zu Buche, wovon der Arbeitgeber 9773 Dollar übernahm.

Die Splittung klingt gut, hat aber Nachteile: Die Versicherung ist stets an den Job gebunden. Wer also entlassen wird oder den Arbeitgeber wechselt, verliert fast immer die Versicherungsgesellschaft und das an sie angeschlossene Netzwerk an Ärzten, Kliniken und selbst Apotheken, die die Police akzeptieren. Eine neue Stelle ist gleichbedeutend mit der Suche nach einem neuen Hausarzt, Kinderarzt oder Frauenarzt, mit dem die neue Versicherung günstige Konditionen ausgehandelt hat.

Das soziale Netz hängt durch

Wer länger arbeitslos ist, kann sich dank einer Bundesregelung bei der Kasse des alten Arbeitgebers bis zu drei Jahren weiterversichern, muss allerdings plötzlich den vollen Betrag aus eigener Tasche zahlen – was oft einer zehnfachen Beitragserhöhung gleichkommt. Und je nachdem, mit welchem der „Pharmacy Benefit Manager“ die Versicherung einen Vertrag für die Ausgabe rezeptpflichtiger Medikamente abgeschlossen hat, ist auch die Apotheke um die Ecke plötzlich tabu.

Privatpatienten, die sich auf eigene Faust versichern, haben einen schweren Stand, da die wenigsten Versicherungen einem Individuum über den Weg trauen: Wer keiner Gruppe angehört, für den lassen sich auch keine Risiken hochrechnen. So werden chronisch Kranke routinemäßig abgewiesen oder nur mit einem Leistungsausschluss für bestimmte Krankheiten aufgenommen. Policen können jederzeit erhöht werden, wenn ein Kunde eine neue Diagnose erhält, teure Medikamente einnimmt oder hohe Behandlungskosten verursacht.

Viele Versicherungspolicen enthalten zudem Klauseln, die eine Deckungssumme festlegen, bis zu der ein Patientenleben lang maximal gezahlt wird. Jenseits des Maximums ist auch ein vermeintlich gut versicherter Arbeitnehmer plötzlich auf sich und sein Erspartes gestellt, wenn für Chemooder andere kostenintensive Therapien Hunderttausende Dollar fällig sind.

So kamen die renommierten Gesundheitsexperten David Himmelstein, Deborah Thorne, Elizabeth Warren und Steffie Woolhandler in einer viel beachteten Studie zu dem Ergebnis, dass fast zwei Drittel aller persönlichen Bankrotte auf Schulden aus medizinischer Behandlung zurückzuführen sind – und das, obwohl drei Viertel der Betroffenen versichert waren. „Das US-Gesundheitswesen behandelt physische Wunden, aber schlägt finanzielle“, lautete das ernüchternde Fazit der Akademiker.

Das soziale Netz jenseits der Notaufnahme hängt durch: Wer unter eine bestimmte Armutsschwelle sinkt, kann sich über das Medicaid-Programm versichern. Einer der Hauptnutznießer sind Familien mit kleinen Kindern, die zu den sogenannten „working poor“ gehören, die also in Haushalten mit geringem Einkommen leben. So besitzt jedes sechste Kind in Texas keine Krankenversicherung – in der Grenzregion des Rio Grande etwa strömen Bürger einmal im Jahr zu kostenlosen Feldlazaretten der Nationalgarde. Auch bei Medicaid sind die Details verwirrend und führen je nach Wohnort zu einem drastischen Versorgungsgefälle, denn jeder Bundesstaat legt aus politischen Motiven eine eigene Berechnungsgrenze fest.

So darf eine Schwangere in Iowa bis zum Dreifachen der landesweiten Armutsgrenze verdienen, ohne die Versicherung für sich und ihr Kind über Medicaid zu riskieren. In Colorado und North Dakota ist sie dagegen bereits nicht mehr förderungsberechtigt, wenn ihr Einkommen die Armutsgrenze um ein Drittel überschreitet. Zudem akzeptieren immer mehr Ärzte und Krankenhäuser keine Medicaid-Patienten, da ihnen die erstattungsfähigen Tarife zu niedrig sind.

Wer wie Mrs. P. zu den Glücklichen gehört, die eine Versicherung besitzen, muss bei fast jeder Frage erst einmal am Hausarzt als Türsteher vorbei. Als Primärversorger entscheidet er über jede Überweisung zu einem Spezialisten, und dementsprechend können es sich nur wenige leisten, eine zweite Meinung einzuholen oder ihren Arzt nach Belieben zu wechseln. Wer überwiesen wird, muss Formulare ausfüllen, eine Zuzahlung leisten – und kann wie Mrs. P. trotzdem sicher sein, über Monate hinweg Rechnungen von den Labors und Fachärzten sowie Schreiben von Inkasso-Büros zu erhalten. Nicht zufällig verschlingen Buchhaltung und Verwaltung sieben Prozent der amerikanischen Gesundheitsausgaben.

Die Gesundheitsreform der Obama-Regierung, die eine Versicherungspflicht für alle Privatpersonen vorsieht, dürfte nach Expertenmeinung nur wenige dieser strukturellen Probleme lösen. Ein republikanischer Präsident wird die Neuregelungen aufzuheben versuchen, und der Oberste Gerichtshof untersucht bereits, ob eine solche Versicherungspflicht gegen die Verfassung verstößt. Sollten die Reformen wie geplant ab 2014 schrittweise in Kraft treten, müssten alle Bundesstaaten einen Versicherungsmarktplatz – eine sogenannte „Exchange“ – für ihre Bürger einrichten. Zum ersten Mal könnten sie dann Preise vergleichen.

Aber selbst diese Vorschrift geht vielen konservativen Bundesstaaten als vermeintliche Bevormundung aus Washington bereits zu weit. Obama würde also nur ein paar Schneisen in den Dschungel schlagen.


Dieser Text stammt aus unserer Redaktion Corporate Publishing.