Bücher, Bibliotheken und Badewannen

Wie lernt der Mensch? Was muss, was will
 er wissen? Und wer hat die Leidenschaft für die Naturwissenschaften geweckt? Autoren, Studenten, Wissenschaftler, Manager und Moderatoren geben Antwort.




1 Die Schwedin Kristin Dahl, 67, studierte Mathematik, arbeitete als Wissenschaftsjournalistin und ist Autorin zahlreicher prämierter und in viele Sprachen übersetzter Kinder-Naturwissenschaftsbücher. Darunter: „Wollen wir Mathe spielen?“
2 Professor Dr. Ernst Peter Fischer, 60, studierte Mathematik, Physik und Biologie und lehrt Wissenschaftsgeschichte an der Universität Konstanz. Der Publizist und Autor hat zahlreiche Bücher geschrieben, zuletzt „Die Bildung des Menschen. Was die Naturwissenschaften von uns wissen.“ (2004) und „Einstein für die Westentasche“ (2005).
3 Dr. Robert A. Goehlich, 32, hat an der TU Berlin Luft- und Raumfahrttechnik studiert und dort promoviert. Der Wissenschaftler beschäftigt sich seit Jahren mit dem Thema Weltraum-Tourismus und bietet seit November 2003 an der Keio Universität in Japan eine Vorlesung zum Thema an. Es ist die weltweit erste regelmäßige Veranstaltung zu dem neuen Forschungsfeld.
4 Der Jurastudent Clemens Mayer, 22, ist amtierender Gedächtnisweltmeister. Sowohl 2005 als auch 2006 errang er den Titel „World Memory Champion“, etwa durch das Memorieren von 198 im Sekundentakt vorgelesenen Ziffern oder das Erinnern einer 1040-stelligen Zahl innerhalb von 30 Minuten.
5 Professor Dr. Helga Nowotny, 70, studierte Jura und Soziologie und forscht und lehrt heute nach unterschiedlichen Stationen am Wissenschaftszentrum Wien. Sie veröffentlichte eine Reihe von Publikationen im Bereich der Wissenschafts- und Technikforschung und ist Vize-Präsidentin des Wissenschaftsrates des European Research Council (ERC).
6 Professor Dr. Herbert Pietschmann, 70, studierte Mathematik und Physik und lehrte lange als Vorstand des Instituts für Theoretische Physik an der Universität Wien. Er ist in zahlreichen Wissenschaftsvereinigungen aktiv, auch sein jüngstes Buch (2005) befasst sich mit seinen Spezialgebieten: Wissenschaftstheorie, Didaktik und Philosophie.
7 Der ehemalige Waldorfschüler Dr. Michael Rogowski, 68, studierte erst Wirtschaftswissenschaften, dann Wirtschaftsingenieurwesen und leitete später als Vorsitzender der Konzerngeschäftsführung die Voith AG. Im Jahr 2000 wechselte er in den Aufsichtsrat. Von 2001 bis 2004 war er Präsident des Bundesverbandes der deutschen Industrie (BDI).
8 Professor Dr. Gerhard Roth, 64, studierte erst Musikwissenschaft, Germanistik, Philosophoie (Promotion), anschließend Biologie und schloss sein Studium mit einer Promotion in Zoologie ab. Seit 1976 lehrt er als Professor für Verhaltensphysiologie am Institut für Hirnforschung an der Universität in Bremen. Er hat zahlreiche Bücher veröffentlicht und ist Präsident der Studienstiftung des deutschen Volkes.
9 Dr. Andreas Schleicher, 43, ist Erfinder und Leiter des Programms zur Bewertung der internationalen Schülerleistungen (PISA) bei der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD). Er studierte erst Physik, später außerdem Mathematik und wurde im Jahr 2003 für sein „vorbildhaftes demokratisches Engagement“ mit Blick auf die öffentliche Bildungsdebatte mit dem Theodor-Heuss-Preis ausgezeichnet.
10 Ranga Yogeshwar, 48, Sohn eines indischen Wissenschaftlers und einer luxemburgischen Kunsthistorikerin, startete zunächst eine Musikausbildung und studierte anschließend experimentelle Physik. Einem großen Publikum ist der Diplom-Physiker und Wissenschaftsredakteur als Moderator der TV-Sendung „Quarks & Co“ bekannt.

Zur Allgemeinbildung gehört für mich ...

Dahl: ... Kenntnis der eigenen Sprache und Literatur, Mathematik, Naturwissenschaften, Geschichte – und mindestens Englisch als Fremdsprache.

Fischer: ... die Rolle der Wissenschaft in unserer Geschichte zu kennen und darüber reden zu wollen.

Goehlich: ... auch die Hauptstadt von Kambodscha zu kennen. Wir denken viel zu lokal, dabei könnten wir viel aus den Fehlern und Erfahrungen anderer Länder lernen.

Mayer: ... über das Weltgeschehen informiert zu sein – und ein natürliches Interesse an der Entwicklung von Natur, Tier und Mensch. Mit diesem Wissen kann man bei verschiedensten Gelegenheiten glänzen.

Nowotny: ... literacy, also Grundkenntnisse in den Naturwissenschaften ebenso wie in den Humanwissenschaften; Informationstechnologie ebenso wie Wissen über die Welt außerhalb Europas.

Pietschmann: ... ein Verständnis des Denkrahmens unserer Zeit.

Rogowski: ... gute Geschichtskenntnisse und Grundlagen der Psychologie.

Roth: ... (a) die Beherrschung mindestens einer Fremdsprache, (b) Kenntnis der europäischen Geschichte, der Physik des Alltags und der Biologie des Körpers.

Welche waren Ihre Abitur-Fächer?

Roth: Deutsch und Latein.

Pietschmann: Mathematik, Darstellende Geometrie, Englisch und ... vergessen.

Mayer: Biologie und Französisch als Leistungskurs-Abiturfächer, Mathematik (Colloquium) und Wirtschaft/Recht als Grundkurs-Abiturfächer.

Goehlich: Als Leistungsfächer Physik und Mathematik. Als Nebenfächer Englisch und Politische Weltkunde.

Nowotny: Ich habe in Wien in einem Gymnasium Matura gemacht, da war alles dabei (und ich habe mit Auszeichnung abgeschlossen).

Dahl: Naturwissenschaften und Mathematik. Anschließend habe ich Grafikdesign und Drucktechnik studiert. Und zehn Jahre später Journalismus.

Fischer: Deutsch, Mathematik, Englisch, Physik – wir reden vom Abitur 1966.

Yogeshwar: Deutsch, Französisch, Englisch, Mathematik, Physik, Chemie, Wirtschaft, Philosophie. In Luxemburg konnte man keine Fächer abwählen – gut so!

Rogowski: Außer Latein so ziemlich alles, da Waldorfschüler mit außerordentlichem Abitur.

Schleicher: Deutsch, Englisch, Mathematik und Geschichte als Kernfächer, Physik, Biologie und Gemeinschaftskunde als Nebenfächer.

Ihr schönstes oder prägendstes Lernerlebnis?

Yogeshwar: Zu erkennen, dass der Strudel in der Badewanne nicht nur auf die Theorie der Corioliskraft hört. Die Wirklichkeit ist kein idealisierter Raum.

Rogowski: Der Leistungssprung in Chemie durch intensives Lernen.

Fischer: Mein schönstes Bildungserlebnis bestand darin, dass ich dem Rat meines Deutschlehrers folgte, mit 15 selbstständig einen Buchladen betrat und dort Einsteins „Mein Weltbild“ entdeckte. Mein prägendstes Lernerlebnis: Anschließend fragte ich meinen Physiklehrer nach der Relativitätstheorie und stellte fest, dass er a) keine Ahnung hatte und das b) nicht zugab.

Goehlich: Meine Erfahrung beim Karate-Training in Japan, dass durch Kontinuität mehr möglich ist als durch unsere europäische „hastige“ Art, etwas zu lernen.

Mayer: Das prägendste und sicherlich bis dahin spannendste Lernerlebnis war die Lernphase vor dem Abitur. Das Abitur war nahezu die ganze Schulzeit über eine Prüfung, die irgendwann mal bevorstand. Erst mit Anfang der Kollegstufe wurde mir bewusst, dass das Abitur der Abschluss eines nicht unbedeutenden Lebensabschnitts und die Abiturnote für das Studium von entscheidender Bedeutung sein würde.

Pietschmann: Eigenes Entdecken von Zusammenhängen.

Nowotny: Ich habe als Kind ein Jahr die Volksschule in Vorarlberg besucht. Als ich ankam, habe ich kein Wort vom dort gesprochenen Dialekt verstanden. Nach drei Tagen plötzlich alles! Das vergisst man nie. Das Lernen hat in diesem Fall das Gehirn ganz von allein getan.

Dahl: Mein Treffen mit Sven Lidman, „Mister Enzyklopädie“, ein Pädagoge, der mit Illustration und Abbildungen arbeitet. Sein erstes Werk war „Focus“, das war 1958. Ich habe in den sechziger Jahren angefangen, für ihn zu arbeiten. Damals haben wir das Projekt „Combi Visuell“ auf den Weg gebracht: ein Bildungsprojekt, das Wissen auf ganz neue Art und Weise vermittelt hat, vor allem in der Schule. Es war eine interdisziplinäre Arbeit, an der eine Reihe progressiv denkender Experten und Spezialisten mitwirkte. Die fünf Jahre, die ich an Combi Visuell gearbeitet habe, gehören zu den lehrreichsten und inspirierendsten meiner Karriere.

Roth: In der Schule der Griechisch- und Latein-Unterricht, während des Studiums die Arbeit im tropischen Regenwald Mexikos und Costa Ricas (Suche nach Salamandern und Fröschen).

Schleicher: Die Arbeit im Jugendorchester; mit einem Dirigenten, der kein Lehrer, aber ein ausgezeichneter Pädagoge war.

Wer oder was hat Ihre Liebe zum Beruf geweckt?

Pietschmann: Ein Buch über Relativitätstheorie von Max v. Laue in der Salzburger Bibliothek.

Fischer: Einsteins Büchlein, siehe oben. Ich wusste jetzt, dass die Physik auf der Schule nichts mit der Physik von Einstein zu tun hatte; auf die kommt es aber an.

Yogeshwar: Es ist eine dauerhafte Liebe – ich lerne ständig und erfahre so viele interessante Dinge von spannenden Menschen. Gestern habe ich zum Beispiel eine Kupferproduktion besucht. Rot glühendes Kupfer und grünliche Flammen – in solchen Momenten bin ich glücklich.

Goehlich: Als ich acht war, haben mich meine Eltern zum „Tag der offenen Tür“ am Flughafen Tempelhof in Berlin mitgenommen. Dort konnte ich mich in Cockpits von Flugzeugen setzen und leckeres Erdbeereis essen. Bis heute fasziniert mich, dass Flugzeuge, Raketen und Raumfähren durch die Luft beziehungsweise durch den Weltraum fliegen und Menschen von einem Ort zum anderen transportieren können.

Roth: Der bedeutende Zoologe und Evolutionsbiologe Bernhard Rensch von der Universität Münster. Er verband exakte wissenschaftliche Arbeit mit philosophischem Denken. Er hat nach Wolfgang Köhler die bahnbrechendsten Untersuchungen zur Intelligenz von Schimpansen durchgeführt und gezeigt, dass der geistige Abstand zwischen uns und diesen nächsten Verwandten sehr viel geringer ist, als wir glauben.

Dahl: Während eines Besuchs der berühmten Cern-Laboratorien in Genf lernte ich einen schwedischen Mathematiker kennen, dessen Schlussfolgerung zur Mathematik ich nie vergessen werde: „In der Natur wimmelt es nur so vor Ableitungen.“ Danach entschied ich mich, einen Artikel für das Wissenschaftsmagazin „Forskning & Framsteg“ zu schreiben: Was wäre unser Leben ohne Mathematik? Seitdem bin ich dem Thema verfallen.

Nowotny: Bücher und die Gespräche mit interessanten Leuten darüber. Beides hat mir buchstäblich andere Welten erschlossen.

Rogowski: Mein Vater durch seine Empfehlung, Wirtschaftsingenieurwesen zu studieren.

Schleicher: Professor Postlethwaite, bei dem ich zufällig eine Vorlesung besucht hatte. In einem naturwissenschaftlichen Studium legt man ja großes Gewicht auf analytische Fähigkeiten, mit denen Probleme immer weiter zerlegt und dann gelöst werden. In der Arbeit mit Herrn Postlethwaite habe ich gelernt, in Paradigmenwechseln zu denken und verschiedene Aspekte und Wissensgebiete, zwischen denen Beziehungen zunächst nicht offensichtlich waren, zu synthetisieren.

Wenn Sie Ihre beruflichen Anforderungen in einem Tortendiagramm darstellen würden: Wie groß wäre das Stück des analytischen 
Denkens und wie groß das der Kreativität?
Nowotny: Als Universitätsprofessorin brauche ich beides, vermutlich je zu 50 Prozent.
Schleicher: Analytisches Denken 40 Prozent, Kreativität 30 Prozent, fast alles andere kann man ja delegieren.
Fischer: Beides zu gleichen Teilen – mit einer Anmerkung: Es ist riskant und großmäulig, sich selbst kreativ zu nennen. Ich nehme an, Sie wollen eher das Quantitative (Berechenbare) vom Qualitativen (Unberechenbaren) unterscheiden; dafür gilt meine Teilung. Dummerweise beharrte die Schule zu meiner Zeit darauf, dass nur eine Hälfte zählt.
Goehlich: Beide Tortenstücke wären so groß, dass man sie nicht an einem Tag essen könnte.
Yogeshwar: Analytisches Denken ist für mich ein Teil der Kreativität. Es ist ein sich gegenseitig befruchtender Prozess; sonst gibt es gedankenlose Ideen oder ideenlose Gedanken.
Mayer: Das analytische Denken ist sicherlich eine Schlüsselqualifikation bei einem Top-Juristen und nimmt im Tortendiagramm ein großes Stück ein. Die Kreativität erleichtert das Arbeiten und könnte als Grundvoraussetzung angesehen werden. Im Tortendiagramm ist die Kreativität ein kleinerer Anteil.
Rogowski: 70 zu 30.


Pietschmann: Analytisches Denken 33 Prozent, Kreativität 67 Prozent.
Roth: Analytisches Denken 45 Prozent, Kreativität 55 Prozent.
Dahl: 50 zu 50.

Würden Sie heute noch einmal denselben Bildungsweg einschlagen? Warum oder warum nicht?

Dahl: Ja, für mich hat es sich ausgezahlt, eher eine Generalistin als eine Spezialistin zu sein.

Fischer: Das ist eine SEHR schwierige Frage. Zum einen will man nichts missen, zum anderen will man immer etwas anders, sprich: besser, machen.

Rogowski: Ja, weil mir die Kombination von Betriebswirtschaft und Technik gefiel und half.

Mayer: Gymnasium (G9) wäre wieder die erste Wahl. Dieser Bildungsweg ermöglicht es, in verschiedene Sprachen und in viele verschiedene Materien eintauchen zu dürfen – und das erleichtert es, die eigenen Interessen und seinen eigenen Weg zu finden.

Goehlich: Ja, natürlich. Flugzeuge, Raketen und Raumfähren sind für mich die spannendsten technischen Errungenschaften der Menschheit. Durch mein Studium konnte ich mein Hobby zum Beruf machen – und durfte beispielsweise während eines Forschungsaufenthaltes in Südamerika die Startvorbereitungen der Ariane 4 und 5 am Raumfahrtbahnhof Kourou begleiten.

Nowotny: Ich würde sicher wieder gern in der Forschung tätig sein wollen. Heute würde ich wahrscheinlich die Lebenswissenschaften wählen.

Pietschmann: Diese Frage ist leider nicht vernünftig zu beantworten, weil es keine Wiederholung unter gleichen Bedingungen gibt.

Yogeshwar: Ja, ich würde noch mal Physik studieren – vielleicht aber auch Kunst, doch dann wäre ich ein anderer Mensch geworden.

Schleicher: Ich weiß es nicht, ich glaube, dass viele Bildungswege zum selben Ziel führen können, und mich hätten viele andere Bereiche ebenso interessiert.

Roth: Ich würde ihn (altsprachliches Gymnasium) wieder einschlagen – mit der Hoffnung, dass der naturwissenschaftliche Unterricht etwas besser ist. Psychologie-Kollegen haben zwar gezeigt, dass Lateinlernen keineswegs das logische Denken fördert, und dasselbe gilt wohl für Griechisch, aber ich finde diese zwei Sprachen wunderbar. Beim Studium bin ich mir unsicher. In jedem Fall würde ich ein naturwissenschaftliches Studium mit Philosophie kombinieren.

Was würden Sie noch gern lernen?

Rogowski: Mehr Geschichte, mehr Sprachen.

Yogeshwar: Besser Klavier zu spielen ... und so vieles mehr.

Nowotny: Etwas, das ich verabsäumt habe und wofür es heute leider zu spät ist: ein Musikinstrument gut zu spielen.

Pietschmann: Mehr Philosophie.

Mayer: Die philosophischen Grundkenntnisse weiter vertiefen.

Dahl: Mehr Mathematik. Sie ist dermaßen faszinierend und einfach wichtig in unserem Leben.

Roth: Chinesisch (angefangen und wieder aufgegeben) und besser Klavierspielen.

Fischer: Eine neue Sprache (Italienisch zum Beispiel), ein anderes Musikinstrument (Klavier zum Beispiel), die Geschichte von Ideen (Atom und Energie zum Beispiel) und vieles mehr.

Schleicher: Das Spannendste an meiner Tätigkeit ist, dass ich jeden Tag neue Bereiche entdecke, wo ich gern lernen möchte, und dass ich die Möglichkeit habe, den eigenen Horizont beständig zu erweitern, neue Rollen einzunehmen und mich neu zu positionieren.

Goehlich: Ich hätte gern eine Pilotenausbildung für Flugzeuge und Raumfähren.


Dieser Text stammt aus unserer Redaktion Corporate Publishing.