Ahorn Gruppe / Sterbereport 2022

Still, unauffällig und diskret? Von wegen, der Markt verändert sich. Das Bestattungsgewerbe ist in Bewegung geraten. 





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Seine Videos heißen „Ein Tag im Krematorium“, „Beim Bestatter stinkt es nach Leichen?“ oder „Ekligstes Erlebnis“. Die Mini-Streifen, meist nicht länger als 40 Sekunden, bringen es auf der Kurzvideoplattform TikTok auf bis zu 7,2 Millionen Klicks. Luis Bauer aus Fürth, 16 Jahre jung, ist fast ein Popstar, bei Google findet man ihn unter „TikTok-Bestatter“. Im elterlichen Beerdigungsinstitut erlernt er das Bestattungshandwerk – trotz mitunter
irritierender Erlebnisse wie etwa einer postmortalen Darmentleerung für ihn „der beste Job der Welt“. In kurzen Erklärvideos erzählt er fröhlich und tabufrei von seinem Arbeitsalltag. Die TikTok-Community dankt es ihm. Im Urlaub auf Mallorca oder auf der Straße wird Luis manchmal um ein Selfie gebeten.

Auch anderswo kommt Bewegung in die Zunft, die bislang eher leise und nicht gerade für Fortschritt und Innovationen bekannt war. „Wir erleben gerade eine Pluralisierung der Bestattungskultur, eine Abweichung von bisherigen Standards“, beobachtet Frank Thieme, Sozialwissenschaftler und Autor einer Studie zum Bestattungsverhalten. Einerseits mache Kosten-Nutzen-Denken besonders preiswerte „Entsorgungen“ möglich – im Jahr 2020 entfielen 45 Prozent aller Beerdigungen auf Discount-Bestattungen. Andererseits boomen alternative Bestattungsformen wie die Baum- und Waldbeerdigung.

Und das ist nur die Oberfläche. Darunter brechen Strukturen und Rituale auf, drängen neue Wettbewerber, neue Qualifikationen und moderne Technologien in den Markt. Das klassische Begräbnis schwindet, der Anteil der Feuerbestattungen steigt kontinuierlich. Flinke, digital fokussierte Start-ups, oft gegründet von Marketingprofis, machen mit neuen Geschäftsmodellen von sich reden, alternative Bestattungsfirmen befeuern die Debatte um eine würdevolle Sterbekultur. Pioniere und Branchenneulinge beeindrucken mit innovativen Angeboten, jobmüde Fachleute aus anderen Berufen suchen im Bestattungsgewerbe neuen Sinn. Und immer mehr Alte wie Junge beschäftigen sich öffentlich mit Themen wie Sterben und Tod. 

Abschied und Trauer sind keine Tabuthemen mehr, neuerdings tritt der Tod in unser Leben – und mit ihm hält der Kapitalismus Einzug in die bislang ständisch-handwerklich geprägte Branche: Beobachter berichten von divergierenden Preisen, sinkenden Gewinnmargen, überteuerten Kostenvoranschlägen und dubiosen Lockangeboten. Immer häufiger wechseln alteingesessene Institute den Besitzer; Familienunternehmen, die jahrzehntelang bescheiden gewirtschaftet haben, gehen bundesweit auf Einkaufstour. 

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Auch die Digitalisierung hat für Wirbel gesorgt. Särge werden im Internet ausgewählt, rätselhafte Preisgestaltungen auf einmal transparent, digitale Kondolenzbücher und Livestreams von Trauerfeiern ermöglichen auch jenen einen Abschied, die nicht persönlich an der Bestattung teilnehmen können – oder in Zeiten der Pandemie nicht durften. All das erfordert neue Werkzeuge und neue Qualifikationen – in einem Gewerbe, dem es wie überall an Fachkräften fehlt. 

Es sind aufregende Zeiten für die Branche. Das Bestattungswesen wird heterogener, moderner, professioneller, für die Kundschaft menschlicher, für Anbieter brutaler. Denn neben persönlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Fragen geht es auch um Pfründe, Wachstum, Verdrängung und Rendite für Investoren. 

Es gibt einiges zu verteilen – mehr als zwei Milliarden Euro jährlich. Der Bestattungsmarkt ist stabil, auskömmlich und krisenfest. Knapp eine Million Menschen sterben jedes Jahr in Deutschland, Tendenz steigend, denn jetzt kommen langsam die Babyboomer in ein für Bestattungsfirmen relevantes Alter. An Sterbefällen wird es also auch künftig nicht mangeln. Die Kosten für eine Beerdigung variieren stark – die Spannbreite reicht von weniger als 2000 Euro für eine anonyme Feuerbestattung bis 35 000 Euro für ein Prunkbegräbnis. Davon bleibt allerdings nur ein kleiner Teil – etwa 20 Prozent – beim Bestattungsinstitut. Der Rest entfällt auf Grabmiete, Grabstein, Friedhofsgärtner, Sarg, Urne, Trauerfeier und Gebühren. 

Reich werden die meisten davon nicht: Das Gros der Anbieter sind kleine und Kleinstbetriebe mit weniger als zehn Beschäftigten. Mehr als ein Drittel der rund fünfeinhalbtausend Bestattungsunternehmen im zersplitterten deutschen Markt erwirtschaftet einen Jahresumsatz von weniger als 250 000 Euro; zwei Drittel aller Firmen bleiben unter 500 000 Euro Umsatz. Selbst die Ahorn Gruppe als Branchenführerin bringt es mit etwa 270 Filialen, 30.000 Beerdigungen jährlich und einem Jahresumsatz von 85 Millionen Euro nur auf einen Marktanteil von gerade drei Prozent. 

Ahorn kennt das Gewerbe wie kaum ein anderer hierzulande und hat in den vergangenen Jahrzehnten schon viele Trends kommen und wieder gehen sehen. Das Unternehmen, heute Tochter des Versicherers Ideal, blickt auf eine fast 200 Jahre alte Geschichte zurück. Gegründet im Jahr 1830 in Berlin, hat sich die einstige Sargfabrik Grieneisen über die Jahre zum größten Anbieter von Bestattungsdienstleistungen in Deutschland gewandelt. Mehr als 1100 Mitarbeitende kümmern sich heute um das Geschäft mit dem Tod – und die zahllosen Aufgaben, die sich um jeden einzelnen Sterbefall ranken. 

Ein Bestattungshaus muss sich mittlerweile um viel mehr kümmern als früher, wo es reichte, die Angehörigen bei der Sargauswahl zu beraten. Heute agieren die Firmen als eine Art Eventmanager – weil Traditionen schwinden, häufig Angehörige vor Ort fehlen und die Kirche mit ihren festen Riten an Bedeutung verloren hat. So wandeln sich die Institute zu
Full-Service-Agenturen: Sie beraten, begleiten, trösten, organisieren, suchen Grabredner und Musik für die Trauerfeier aus und sorgen für die Verpflegung in eigenen Gastronomieräumen.

Beim schwierigen Image ist es geblieben. Barbara Rolf, in Stuttgart einst eine Ikone der alternativen Bestattungsszene und heute Direktorin für Bestattungskultur bei der Ahorn Gruppe, kennt „immer noch viele Kolleginnen und Kollegen, die ihren Beruf lieber verschweigen und kein so gutes Bild von ihrer eigentlichen Tätigkeit haben“. Aber sie ist zuversichtlich, dass sich das ändert. Der Tod sei zu natürlich, um ihn zu tabuisieren, findet sie. Und leistet mit einem eigenen Blog („Der Tod und ich – Geschichten einer Bestatterin“) und mit Geschichten auf YouTube, Instagram und Twitter sehr persönliche Beiträge zur Schaffung einer neuen, modernen Bestattungskultur. 

Sie selbst kam mit Tod und Trauer durch den frühen Suizid ihres Bruders in Berührung. Nach Abschluss ihres Theologiestudiums hat es sich Rolf erst im eigenen Unternehmen und inzwischen unter dem Dach der Ahorn Gruppe zur Aufgabe gemacht, Menschen einen würdevollen Abschied zu organisieren. Anders als bei manchem neuen Wettbewerber geschieht das allerdings leise, donnerndes Marketing ist dem Marktführer eher fremd. An ehrgeizigen Zielen hingegen mangelt es nicht: Ahorn will Platzhirsch bleiben und weiter wachsen, schließt, wo immer möglich, strategische Partnerschaften, empfiehlt sich bundesweit als Nachfolger für Fach- und Familienunternehmen und wandelt sich kontinuierlich vom Bestatter zum Bestattungsdienstleister. 

Die Transformation ist nötig, auch in dieser Industrie. „Wie die Menschen bestattet werden, hat stets etwas mit ihrem Leben zu tun“, schreibt Frank Thieme in seiner Studie „Bestattung zwischen Wunsch und Wirklichkeit“: Es sind die Fliehkräfte und Paradigmenwechsel, die überall in der Gesellschaft zu spüren sind und auch das Bestattungswesen aus seinem Trott reißen. Ökologische, religiöse und finanzielle Überlegungen sorgen für neue Bestattungsformen und -arten. Der wichtigste Trend, die Mobilität, befördert Grabformen, die für die Hinterbliebenen möglichst wenig Pflegeaufwand mit sich bringen. Also Urne statt Sarg, Bestattungswald statt Friedhof, auf hoher See oder auch anonym, irgendwo. Die Hälfte der Deutschen mit Eltern über 70 Jahre wohnt heute mehr als zwei Autostunden von ihnen entfernt. Nur noch 14 Prozent wünschen sich laut Aeternitas, einer Verbraucherinitiative für Bestattungskultur, für sich selbst ein klassisches Sarggrab auf dem Friedhof, 2004 waren es noch 39 Prozent. Auf den meisten deutschen Friedhöfen liegt der Anteil der Urnenbestattungen mittlerweile bei etwa drei Viertel, Tendenz steigend.

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Wenig gewandelt hat sich in dieser Zeit die Struktur der Betriebe in der Branche. Anders als im Ausland, wo Konzerne wie Elpis in den vergangenen Jahren Bestattungsfabriken aufgebaut haben, dominiert hierzulande nach wie vor das familiengeführte Institut, vielleicht mit einer Filiale im Nachbarstädtchen, oft aus einer Schreinerei hervorgegangen, mit Sargausstellung im hinteren Raum und Beraterin in schwarzem Hosenanzug, die hinter grauen Lamellenvorhängen hervortritt. Der Bestatter vom alten Schlag ist diskret, fachkompetent, pietätvoll und rund um die Uhr einsatzbereit.

Kein Wunder, dass es Neulingen im Gewerbe vergleichsweise leichtfällt, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. „Sie buchen Ihre Reisen online – warum nicht auch die letzte?“, lautet beispielsweise einer der Slogans von Mymoria, in der kleinen Herde der Start-ups, die angetreten sind, die Branche aufzumischen, mit rund 200 Beschäftigten nicht nur das größte, sondern auch das lauteste und aggressivste Unternehmen. Die Werbung war eine Kampfansage an die etablierte Zunft: Keines hat sich ehrgeizigere Ziele gesetzt als das 2015 gegründete Unternehmen mit Firmensitz in Berlin-Mitte, und keines verkündet ähnlich hochfliegende Pläne: „Wir wollen den Umgang mit dem Tod verändern und Marktführer werden“, sagt der Gründer und Geschäftsführer Björn Wolff.

Ein sicherer, einträglicher und durchritualisierter Markt mit wenig Bewegung – es war nur eine Frage der Zeit, bis das die ersten Disruptoren auf den Plan rufen würde. In den vergangenen Jahren hat eine Reihe junger Death-Techs, ausgestattet mit reichlich Wagniskapital von Investoren, hierzulande reüssiert. Sie operieren mit Begriffen aus dem Start-up-Jargon und bieten ihren Kunden Customer Journeys, Touchpoints und Omnichannel-Ansätze, als ginge es um neue Einkaufsplattformen für Designerstücke oder hypoallergenes Hundefutter.

Wolff, der zuvor Zimmer bei der Hotelbuchungsplattform hrs vermittelte, geht mit der Branche hart ins Gericht: „Die Bestatter haben sich lange nur um sich selbst gekümmert und nicht begriffen, was sich in der Gesellschaft und beim Kunden verändert hat.“ Zum Beispiel die zunehmende Mobilität, das Fundament des Mymoria-Geschäftsmodells. Weil Kinder und Enkel heute nicht mehr am Wohnort von Eltern und Großeltern leben und sich im Sterbefall an das Bestattungsinstitut vor Ort wenden können, hat Mymoria die Wertschöpfungskette der Bestattung fast komplett digitalisiert. Auf der Website können sich Angehörige binnen Minuten ein Angebot für die gewünschte Bestattungsvariante (Sarg, Urne, Baum, See), für Blumenschmuck, die Art der Trauerfeier und weitere Extras erstellen lassen – und das deutschlandweit. Seit seinem Start als digitale Plattform hat Mymoria mit Beerdigungshäusern vor Ort kooperiert. Die lokalen Partnerbetriebe organisierten Überführung, Versorgung und Bestattung des Leichnams. Das bescherte dem jungen Unternehmen aus dem Stand ein stattliches Wachstum. Allerdings blieb der Großteil des Umsatzes nicht bei Mymoria, sondern bei den Vertragspartnern.

Inzwischen unterhält Mymoria in Köln, München, Hamburg, Nürnberg, Leipzig und Frankfurt eigene Bestattungsboutiquen. Sie bilden heute das Gesicht der Marke – und bedeuteten für die Branche einen weiteren Tabubruch: helle Verkaufs- und Beratungsflächen statt Sargausstellung und Urnenwand, Stehtische mit iPad, Regale mit Büchern und Duftkerzen. Und das stets in guter Zentrumslage. „Wir wollen das Thema Tod nicht verstecken“, sagt Björn Wolff, „sondern da hinbringen, wo das Leben ist, in die Innenstädte.“

Im vergangenen Jahr ging der Newcomer erneut in die Offensive. Ausstaffiert mit 15 Millionen Euro aus einer Finanzierungsrunde, begann Wolff, etablierte Betriebe aufzukaufen. Inzwischen sind 21 Dependancen unter Dach und Fach; jede von ihnen soll der Kundschaft das gleiche Erlebnis, die gleichen Preise und die gleichen Qualitätsstandards bieten. Mit der Mymoria-Software werden Prozesse in allen Filialen identisch abgebildet – von der Aufnahme der Kundendaten bis hin zur Rechnungslegung. Name, Personal und Einrichtung bleiben in den übernommenen Betrieben hingegen erhalten – vorerst jedenfalls. „Da gehen wir nach und nach ran“, sagt Björn Wolff. Er will die neuen Partner und Partnerinnen nicht überfordern, viele arbeiteten noch mit Zettel, Stift und Fax. 

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Nur wenige Fahrradminuten von Mymoria entfernt, im hippen Berlin-Friedrichshain, residiert Junimond. Das Geschäft mit großem Schaufenster und lichtdurchflutetem Ambiente vermittelt das Flair einer Galerie – stünde vor der geweißten Wand nicht ein bemalter Sarg. Und ein Aufsteller mit einem Zitat aus einem Song von Leonard Cohen: „There is a crack, a crack in everything. That’s how the light gets in.“ 

Auf einer Geburtstagsfeier hat Leo Ritz mal einen Kollegen von Mymoria kennengelernt. „Wir gehören beide zu den Neuen“, sagte der Mann. „Wir machen ja das Gleiche.“ Ritz schüttelte den Kopf. „Nein“, sagte sie, „wir machen es komplett anders!“ Ritz ist die eine Hälfte von Junimond, einem Zwei-Leute-Bestattungsbetrieb, der vergangenes Jahr an den Start gegangen ist. Zum Firmennamen ließen sich Ritz und ihr Geschäftspartner Hendrik Thiele durch einen Song von Rio Reiser inspirieren. Beide hatten vorher andere Berufe. Hendrik Thiele, studierter Designer, arbeitete in einer Werbeagentur und zuletzt in einer Tierschutz-NGO, Leo Ritz war Fotografin. 

Die Gründer verstehen sich als Anbieter von Abschiedsformen jenseits des Normierten und Erprobten. Alternativbestattungen sind im Aufwind, besonders in Großstädten wie Berlin. Dort gibt es mit nachwelt.berlin sogar ein kleines Alternativ-Netzwerk aus fünf Firmen. Wenn Junimond keine Kapazitäten für eine Beerdigung hat, fragen Ritz und Thiele bei den anderen nach, wer den Auftrag übernehmen kann.

Junimond will der Trauer und den Trauernden Raum geben. „Richtig ist, was sich richtig anfühlt, nicht irgendein Paketangebot“, sagt Ritz. „Man darf es auch anders machen, das ist wichtig. Wir sind ein leeres Blatt und schauen, was die Leute uns bringen an Wünschen und Fragen.“ Oft müsse man die Trauernden erst einmal auffangen, sie stünden unter Druck und seien mit Entscheidungen wie der Auswahl eines Sarges total überfordert. Junimond versucht, sie aus ihrem Tunnel zu holen und eröffnet dafür Möglichkeitsräume: Das Duo erfragt Wünsche, von denen die Kundinnen und Kunden oft gar nicht wissen, dass sie erfüllbar sind. Etwa dass man dabei sein darf, wenn der oder die Verstorbene ins Krematorium gefahren wird. Oder dass man den Leichnam selbst waschen und ankleiden kann. 

Vieles böten Bestattungshäuser den Angehörigen gar nicht an, weil es den betrieblichen Ablauf störe, sagt Thiele. Ritz erzählt von einer E-Mail, die sie gerade an die Tochter einer Verstorbenen geschickt hat. Die Mutter sehe so hübsch aus, stand darin, ob sie nicht vielleicht doch noch einmal vorbeikommen wolle? Und der Sarg, das sei doch nicht nur eine Holzkiste. „Er ist das letzte Zuhause, das man für jemanden einrichten kann“, sagt Ritz. Anlässlich der Bestattung eines Babys habe sie den Eltern kürzlich gesagt: Stellt euch vor, der Sarg ist das Kinderzimmer. „Da haben sie es schön und gemütlich gemacht, mit Kuscheltieren, einer weichen Decke, Kopfkissen und Fotos.“

Nähe und Zugewandtheit sind wichtige Verkaufsargumente in einem Gewerbe, in dem Menschlichkeit und Professionalität schon einmal aus der Balance geraten. Bestatter wissen alles. Sie sind die Fachleute. Selbstverständlich gehört eine Unterlage in den Sarg, damit keine Flüssigkeit ausläuft. „Deine Angehörigen suchen in einem Augenblick der Schwäche einen Spezialisten, der um seine Position der Stärke weiß“, schreibt der Reporter Roland Schulz in seinem Buch „So sterben wir“. „Im Bestreben, Angehörigen die beste Dienstleistung im Sterbefall zu bieten, verloren viele Bestatter aus den Augen, was es eigentlich bedeutet, nach dem Tod zu Diensten zu sein. Sie waren Teil einer effizienten Kette, die Tote von Krankenhäusern ins Krematorium transportierte.“ 

In der Branche wird viel kritisiert und geredet, hauptsächlich über die Konkurrenz. Start-ups wie Mymoria oder das 2019 von zwei Frauen gegründete Emmora empfinden viele Alteingesessene als graumäusig, altbacken und in Routinen erstarrt. Die Etablierten wiederum attestieren den Newcomern ein professionelles Marketing – wenn auch mit viel Chichi –, vermuten bei den „Laptop-Bestattern“ allerdings handwerkliche Defizite im Kerngeschäft, also bei der Arbeit am Verstorbenen. Können die einen Leichnam in Totenstarre wirklich ankleiden? Und geht es dabei auch respekt- und würdevoll zu? Solche Fragen schwingen häufig mit. 

Selbstkritik klingt allenfalls im Verborgenen an. Meist von Menschen, die ausgestiegen sind. Oder von Umsteigern wie Eric Wrede. Der 42-Jährige, einst erfolgreicher Musikmanager, hörte vor Jahren ein Radio-Interview mit
einem der Pioniere alternativer Bestattungsformen in Deutschland. Wrede wollte es dann selbst wissen und absolvierte ein Praktikum bei einem klassischen Branchenvertreter. „Ich bekam Einblick in ein Geschäft, das durchsetzt ist von Vorschriften und Regeln, von fehlender Menschlichkeit und vom Streben nach Gewinnmaximierung“, lautete sein nüchternes Fazit. 

Warum ist unsere Sterbe- und Trauerkultur so kommerzialisiert und unpersönlich? Und warum ändert sich daran so wenig?, hat er sich gefragt. Vor sieben Jahren hat er sein eigenes Bestattungshaus in Berlin gegründet. „Lebensnah“ ermöglicht „individuelle Bestattungen“ und stellt die Individualität über ein einfaches, transparentes Preismodell in Rechnung: Die Kundin bucht ein Grundpaket (Feuerbestattung oder Erdbestattung) zum Preis von 2600 Euro und zahlt Aufpreise für Zusatzleistungen. Für das gemeinsame Einkleiden, Waschen und Betten des Verstorbenen beispielsweise 350 Euro. 

Bei der Digitalisierung hinkt die Bestattungsbranche weit hinterher. Das könnte viele Existenzen gefährden.

Wer Nostalgie-Websites sucht, die anmuten wie Exponate aus den Pionierjahren des Internets, wird mit ein paar Klicks auf die Präsenzen alteingesessener Bestattungsunternehmen garantiert fündig. Der Befund ist offensichtlich: In puncto Digitalisierung liegt im deutschen Bestattungswesen einiges im Argen. Das Gros der Unternehmen hängt hinter Firmen vergleichbarer Größe aus anderen Wirtschaftszweigen weit zurück – auch ein Grund, warum Start-ups wie Mymoria oder November, die in die Tech-Lücke gesprungen sind, für so viel Wirbel sorgen und gut ins Geschäft kommen. 

Rund ein Viertel der Unternehmen, schätzt Holger Wende, verantwortlich fürs Deutschland-Geschäft von Memcare, einem in Norwegen beheimateten Anbieter von Softwarelösungen für Bestattungsunternehmen, „steckt noch komplett im vor­digitalen Zeitalter, diese Firmen nutzen nicht mal einen PC“. Auch digitales Marketing sei vielerorts kein Thema. Wende, der fast täglich mit Inhabern von Bestattungshäusern spricht, kennt sogar Fälle, wo die Website wieder abgeschaltet wurde. Immerhin: An Problembewusstsein mangelt es den Branchenvertretern nicht. 44 Prozent der ­Unternehmen sind nach einer Umfrage im Auftrag von Das Örtliche aus dem vorigen Jahr mit ihrem eigenen Digital-Auftritt unzufrieden. Ein Drittel gibt an, den Dschungel der digitalen Möglichkeiten nicht zu durchschauen.

Entsprechend groß ist offenbar die Skepsis: 59 Prozent der Firmen, so ein weiteres Ergebnis der Umfrage, würden durch mögliche hohe Kosten von einer konsequenteren Digitalisierung abgeschreckt. In Wahrheit, glaubt Wende, sei es nicht selten genau ­umgekehrt: Der Verzicht auf eine zeitgemäße Bestattungssoftware etwa – „da sehe ich oft Dinge, die vor 20 Jahren programmiert wurden“ – dürfte in den meisten Fällen mehr Geld kosten als die Investition in IT. Mit Zettelwirtschaft geht jede Menge Zeit für völlig unproduktive Arbeit verloren – und dringend nötige Effizienzgewinne ­bleiben aus. Das wird in Zukunft noch deutlicher werden, etwa wenn die Bestatterin sich nicht mehr persönlich zum Standesamt bemühen muss, um eine Sterbeurkunde abzuholen – vorausgesetzt, sie verfügt über eine digitale Schnittstelle zur Behörde.

Auch anderswo könnte die Technologie für Transparenz und Überblick sorgen, beim Materialeinsatz zum Beispiel, bei der Personalplanung oder bei der kosten­deckenden Kalkulation einer Bestattung mit Trauerfeier. Viele Betriebe schenken Strukturen, Prozessen und betriebswirtschaftlichen Zusammenhängen im Unternehmen viel zu wenig Beachtung, weiß Wende. Möglicherweise auch aus Sorge vor
den Blicken von Kunden und Wettbewerbern. Die Kalkulation einer Bestattung soll eine Blackbox bleiben. „Man möchte auf keinen Fall, dass der Kunde weiß, zu ­welchem Preis der Sarg eingekauft wird und wie viel der Bestatter daran verdient.“ 

Eine gefährliche Strategie, schließlich kann kein Bestatter mehr darauf vertrauen, dass ein Kunde, wenn er einmal die Türschwelle übertreten hat, das Haus mit einem unterschriebenen Vertrag wieder verlässt. Die Hinterbliebenen von heute sind darin geübt, im Netz Vergleichsangebote einzuholen. „Die interessiert nicht, wer der Hausbestatter war, der vor 15 Jahren bei der Beerdigung des Onkels einen ordentlichen Job gemacht hat“, sagt Holger Wende. „Sie setzen sich zu Hause ans Tablet und machen in ein paar Minuten ein Benchmarking.“ Wer heute digital nicht gut aufgestellt sei, ­gefährde über kurz oder lang die Existenz seines Betriebes, resümiert Wende. So ­jemand könnte sich dann bestenfalls noch überlegen, ob die Firma lieber an einen ­alteingesessenen Wettbewerber oder an eines der digitalen Start-ups verkauft werden solle, die derzeit Millionenbeträge für Expansion und Marketing verbrennen dürften.

Werner Kentrup wiederum versucht in seinem Geschäft nicht nur dem Menschen, sondern auch der Umwelt gerecht zu werden. Selbstverständlich würde er das Wort „Verwesungsstörungen“ gegenüber Angehörigen eines Verstorbenen niemals in den Mund nehmen. Aber es hilft ja nichts: Der Leichnam, wenn er im Sarg bestattet wird, soll und muss möglichst schnell und reibungslos verwesen. Dazu muss sich der Sarg gut zersetzen, und es müssen Sauerstoff und Bakterien an den toten Körper kommen können. Dicke Lackschichten auf dem Sarg verhindern das. Kentrup, der gemeinsam mit seiner Frau Editha das Bonner Bestattungshaus Hebenstreit & Kentrup führt, hat Särge mit Hochglanzlackierungen deshalb aus dem Programm genommen.

Auf dem Friedhof hinterlässt der Mensch seinen letzten ökologischen Fußabdruck. Aus Kentrups Recherchen entstand im Jahr 2017
die – mittlerweile mehrfach prämierte – Öko-
Bestattungsinitiative „Grüne Linie“: Das Holz für die Särge stammt aus nachhaltiger regionaler Forstwirtschaft, mit Griffen aus Holz oder Seil, die Innenauskleidung ist vollständig biologisch abbaubar; Kentrup nimmt Holzwolle oder Stroh und Folie aus Maisstärke. Und weil ins Grab auch keine Synthetikfasern gehören, ermuntert er Angehörige, im Kleiderschrank des Verstorbenen nach Schlafanzügen oder Nachthemden aus Leinen oder Baumwolle zu suchen. Streng genommen müsste er Hinterbliebenen auch den Wunsch nach Sonnenblumen im Winter oder Rosen aus Kenia abschlagen, aber er weiß, dass man eine Sache auch zu weit treiben kann.

Nur wenige Kunden, die Kentrups Bestattungsinstitut betreten, fragen gleich nach der Grünen Linie. „Aber spätestens bei der Sargauswahl sprechen wir das Thema an“, sagt der gelernte Schreinermeister, dessen Großvater noch selbst Särge gezimmert hat. „Und dann sagen fast alle: Selbstverständlich nehmen wir einen unlackierten Sarg.“ 

Auch Kentrup, dessen Unternehmen vor zwei Jahren 165. Firmenjubiläum gefeiert hat, investierte kräftig in die Digitalisierung. Die Website ist gepflegt und bietet neben Bestattungen auch Bestattungsvorsorgen an, in der Filiale im Bonner Stadtteil Beuel können die Kunden den gewünschten Schrein auf einem großen Monitor auswählen. Aber nicht alles lässt sich digitalisieren oder optimieren. Vor
allem nicht die Zeit, die Trauernde für den Abschied brauchen.

„Wir machen eine Abschiednahme auch um 23 Uhr, wenn die Angehörigen es nicht früher zum Flughafen geschafft haben“, sagt Kentrup. Und erzählt von dem Mann, der einen ganzen Tag im Abschiedsraum saß und zahllose Kohlezeichnungen von seiner verstorbenen Mutter anfertigte, deren Antlitz sich im Tod immer wieder veränderte. „Das war seine Art, Abschied zu nehmen“, sagt Kentrup. „So einem Menschen sage ich doch nicht nach
einer Stunde: So, jetzt ist’s aber gut.“

Auch die Ahorn Gruppe hat in der Vergangenheit einiges ausprobiert, in ihr Angebot integriert oder auch wieder verworfen. Der Flirt mit einer Billigstrategie beispielsweise war ein Flop. 2005 brachte Ahorn das Internetportal volksbestattungen.de an den Start, einen bundesweiten Online-Makler, der das jeweils günstigste Bestattungsunternehmen in der Region suchte. Kurz zuvor hatten die gesetzlichen Krankenkassen das Sterbegeld aus ihrem Leistungskatalog gestrichen; bei Bestattungen war nun häufig das Geld knapp, der Preisvergleich schien eine gute Idee. Doch die Website wurde nach wenigen Jahren wieder abgeschaltet. „24- Stunden-Service, schnell reagieren – das haben wir damals nicht hinbekommen“, resümiert Olaf Dilge, der Vorstandsvorsitzende der Ahorn Gruppe. Er kam 2005 ins Unternehmen, erlebte das Desaster und musste einsehen: „In Sachen Billigstrategie waren die Discount-Bestatter einfach besser.“

Seitdem hat sich die Welt gedreht, und der Marktführer hat gelernt: Man kann die Kunden nicht auf alternative Bestattungen einschwören oder sie drängen, Sarg und Trauerfeier auf der Website auszuwählen, bevor sie eine Filiale betreten. Die Ahorn Gruppe ist ein Vollsortimenter, und auch heute noch wünschen sich viele Kunden eine klassische Erdbestattung, mit Pastor und Ave Maria am Grab und Leichenschmaus in der Gaststätte gegenüber. „Wir müssen wir selbst bleiben“, bestimmt Olaf Dilge den Kurs. Das heißt, bewahren, was bewahrenswert ist, und modernisieren, was sich kulturell wandelt. 

Ahorn hat alle Sinne auf Empfang gestellt, beobachtet Entwicklungen im In- und Ausland, verfolgt neue Trends und Technologien und fragt sich regelmäßig: Was können wir lernen von angriffslustigen Start-ups, von alternativen Bestattungshäusern? Aber auch von mutigen Gründungen und Geschäftsideen aus anderen Industrien und Bereichen? 

In fünf Jahren wird die Branche anders aussehen, so viel ist sicher. Einige alteingesessene Institute durchlaufen derzeit eine Metamorphose zu regional oder bundesweit agierenden Mini-Konzernen. Größe ist Trumpf, jede zugekaufte Filiale verspricht Zukunft. Auf den Websites von Bestattungshäusern finden sich neuerdings auffällig viele Aufrufe wie dieser: „Wollen Sie Ihr Bestattungsinstitut verkaufen, übergeben oder durch uns weiter fortführen lassen? Kontaktieren Sie uns gerne.“

Auch die Ahorn Gruppe mischt mit bei den Übernahmen. 2021 wurden fünf Unternehmen eingegliedert, Anfang dieses Jahres weitere vier. Der Kampf um die Marktführerschaft ist eröffnet. „Ein Großteil der Branche hat die neuen Wettbewerber unterschätzt“, sagt Olaf Dilge. Und bleibt gelassen: „Aber die unterschätzen vielleicht auch das Beharrungsvermögen der Etablierten.“ --

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Billige Särge aus Osteuropa setzen deutsche Hersteller unter Druck. Der Berliner Sarghersteller Lignotec hat ein anderes Überlebenskonzept gefunden: Upcycling von Sägespänen. 

Michael Jagdt erinnert sich gern an unbeschwerte Zeiten, Anfang der Achtzigerjahre, als er „als kleiner Steppke“ mit einem kleinen Traktor zwischen den großen Holz­stapeln auf dem Werksgelände herumfuhr. Das war zwar verboten, machte aber Spaß. Sein Vater hatte die technisch völlig veraltete Sargfabrik im Berliner Stadtteil Moabit 1978 übernommen. 

Heute gehört die Lignotec GmbH zum letzten guten Dutzend deutscher Sarg­hersteller. 25 Mitarbeitende fertigen jährlich etwa 25 000 Särge. Nur noch jeder fünfte in Deutschland verkaufte Sarg stammt auch aus Deutschland. Importe aus dem ­Ausland, vor allem aus Polen, sind zum Teil deutlich billiger. Hinzu kommt, dass hochwertige Särge, an denen Bestattungshäuser und Sarghersteller früher gut verdienten, wegen der Zunahme von Urnenbestattungen immer seltener gefragt sind. Zwar ­benötigt man auch für eine Feuerbestattung einen Sarg, in den Worten von Michael Jagdt gleicht der allerdings eher einer „hochfunktionalen Transportverpackung“ und ist nicht unbedingt Eiche rustikal mit Palmzweig-Schnitzereien für 5000 Euro.

Als erster deutscher Sarghersteller nahm Lignotec den Trend zur Feuerbestattung auf. „Das ist ein Wachstumsmarkt, haben wir uns gesagt, dafür müssen wir ein Produkt haben.“ Schlicht, einfach und dabei doch ansehnlich sollte es sein. Im Jahr 2003 war der Prototyp eines Preiswert-Sarges für die Kremierung fertig, hergestellt aus ­Lignoboard, einer eigens für Särge entwickelten Faserplatte. Die besteht aus Sägemehl und -spänen, die im Sägewerk anfallen, mit Leim zu einem Teig verarbeitet und ­extrem verdichtet werden. Lignoboard-Särge lassen sich in Serien von 700 Stück ­rationell fertigen. Das bei Vollholz obligatorische manuelle Nachschleifen und Ausbessern von Astlöchern und Unebenheiten entfällt komplett. 

Der neue Werkstoff allein garantierte aber noch nicht das Überleben des Betriebs. „Wir mussten die Särge so herstellen, dass bei dem niedrigen Preis noch eine Marge bleibt“, sagt Jagdt, „sonst hätten wir unsere Mitarbeiter nicht halten können.“ An drei zentralen Stellen der Fabrik sind heute Roboter im Einsatz. „Wir haben sie Lara, Mona und Paula genannt, damit wir mehr feminine Anteile in der Produktion haben“, scherzt der Chef. Lara überzieht die fertigen und mit lösemittelarmem Wasserlack gestrichenen Särge mit einem Finish aus Klarlack. Der aufgeklebte Barcode sagt dem Roboter, welche Sargvariante er vor sich hat. Dann startet ein auf das Modell ­optimiertes Lackierprogramm. Ein menschlicher Lackierer sprüht etwa die Hälfte ­daneben, Lara ist da viel akkurater. 

90 Prozent der von Lignotec gefertigten Särge sind mittlerweile preiswerte Kremierungssärge aus Lignoboard. Vollholzsärge sind nur noch ein Nischenprodukt. „Natürlich ist ein handwerklich perfekt gearbeiteter Sarg aus Buche oder Eiche etwas sehr Schönes“, versucht Michael Jagdt gegen das Tackern der Nagelpistolen ­anzukommen. „Aber was bringt die Erinnerung an selige Zeiten? Wenn wir damals nicht radikal umgesteuert hätten, gäbe es unser Unternehmen nicht mehr.“

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Aus dem Magazin

Tod und Trauer, Menschen und Möglichkeiten, Abschied und Anteilnahme, Regeln und Rituale, Nachlass und Nachfolge, Produkte und Preise, Begleitung und Bestattung – eine Branche im Umbruch.

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Dieser Text stammt aus unserer Redaktion Corporate Publishing.