Essay

Worauf du nicht verzichten kannst

Ein ganz persönlicher Führer zu den Dingen hinter den Endlosigkeiten.





Worauf du nicht verzichten kannst

Früher konnten wir verzichten. Wir gingen in Geschäfte, um eine Hose zu kaufen oder ein Kleid, und weil klar war, dass wir nicht sämtliche Hosen oder Kleider kaufen konnten, weil dafür sowohl das Portemonnaie als auch der Kleiderschrank zu klein waren, bekamen wir etwas, was sich Beratung nannte. Von einer Person, die Verkäufer hieß. Beziehungsweise Frau Scholz. Das war die Verkäuferin, zu der meine Mutter immer ging. Um mir ständig neue Hosen zu kaufen, weil ich ein Kind war und überall rauswuchs. 

Frau Scholz sagte: „Cordhose“. Weil sie annahm, dass ich viel draußen spielte, was ich als Stubenhocker nicht tat, aber das konnte sie nicht wissen. Ich sagte: „Gelb“, weil ich mitreden durfte und das eine tolle Farbe war, insbesondere für Hosen. Soweit ich mich erinnere, verdrehte Frau Scholz nicht die Augen, vermutlich auch, weil sie froh war, dass überhaupt irgendwer die gelben Hosen kaufte. Meine Mutter zeigte auf die Jeans, doch Frau Scholz schüttelte den Kopf: „Das ist nur eine Mode, darauf können Sie verzichten.“ Das war falsch, aber das wussten wir noch nicht. Und es war auf jeden Fall gut, dass wir auf etwas verzichten konnten.

Später wollte ich verzichten. Die Läden hatten immer länger geöffnet, das Angebot wurde immer größer, die Schlussverkäufe hechelten einander hinterher, und die Kaufhäuser waren übersät von Tischen voller Sonderangebote. Meine Mutter und Frau Scholz waren längst an einem besseren Ort, und so stoppte mich niemand, als ich beschloss, dass ich als Student mit sehr geringen Einnahmen meine Kleidung nach Preis kaufen würde. Zehn Mark war das Limit, später waren es zehn Euro, was stilistisch keinen großen Unterschied machte. 

Möglicherweise wäre mir irgendwann etwas aufgefallen, aber ich hatte zu Hause nur einen Badezimmerspiegel, und da sah man eben nur den Kopf. Außerdem waren meine Freunde ähnlich gekleidet. Ja, okay, das waren sie nicht. Jahre später erfuhr ich, dass ich überall „der schrille Peter“ genannt wurde. Als ich es das erste Mal hörte, fragte ich: „Warum?“ Ich fand es völlig normal. Ich brauchte keine Mode, meine Schränke waren ohnehin zu voll, und ich war mit dem, was ich hatte, total zufrieden. Als noch viel später Marie Kondo den Menschen erzählte, Verzicht würde sie glücklicher machen, schien mir der Neuigkeitswert gering: Ich wollte schon immer verzichten.

Heute müssen alle verzichten. Und nicht nur auf Hosen. Die Geschäfte öffnen, so lange es geht, um ihre Kundschaft mit Angeboten, Themenwochen und verkaufsoffenen Sonntagen maximal durchs Jahr zu begleiten, doch sie sind entschleunigte Wellnessoasen im Vergleich zu Onlineshops, die 24/7 alles anbieten. Immer. Oder auch nicht, vielleicht gibt es diese eine Hose oder den limitierten Sneaker nur Sonntag von 12:00 Uhr bis 12:05 Uhr. Oder bis er ausverkauft ist. Um 12:03 Uhr. 

Was besser ist als die vielen Plattformen, die mehr streamen, als irgendwer sehen oder hören kann. Spotify zum Beispiel. Da gibt es zurzeit 100 Millionen Tracks, die, sagen wir, mindestens drei Minuten lang sind, was sich zu 300 Millionen Minuten summiert. Total super. Außer für Menschen. Wer 90 Jahre alt wird, hat in seinem Leben 47,3 Millionen Minuten zur Verfügung – das langt nicht für Spotify. Zumal kaum jemand seine gesamte Zeit auf Erden mit einem einzigen Dienst verbringen wird – es gibt schließlich noch Netflix. Oder Amazon Prime. Deezer. Disney+. Und so weiter. Denn so sieht es aus: Du klickst auf eine Website – willkommen in der Endlosigkeit. Du klickst auf eine andere Website: willkommen in einer ­anderen Endlosigkeit. Scheint so, als müssten wir auf ­etwas verzichten.

Das wissen die Anbieter von Endlosigkeiten natürlich und geben uns Algorithmen. Das sind kleine elektronische Tiere, die Datenpakete sortieren, damit wir nur solche bekommen, die zu den Datenpaketen passen, die wir schon haben. Nun gut, das ist technisch vielleicht nicht ganz korrekt. Aber es liegt nahe, auf Kinderniveau zu sinken, wenn es um Angebote geht, die Algorithmen automatisch für die Nutzer von Streaming-Portalen erstellen. Denn letztlich erhalten dort jeder und jede das, was er oder sie früher mochte, weil das zufrieden macht. Angeblich. So, als wären wir alle zwei Jahre alt und bekämen von der Babysitterin die ganze Zeit Schokolade, damit wir nicht wegrennen. 

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Und das tun nicht nur Streaming-Dienste, denn den kleinen Tieren ist es egal, was in den Datenpaketen steckt, die sie hin- und herschieben: Musik? Filme? Oder lieber Hosen? Felgen? Pfannen? Südeuropäische Süßigkeiten? Ich war einmal unvorsichtig und bestellte meiner Tochter nach einem Urlaub in Portugal einige ihrer neuen Lieblingsleckereien – bis heute werde ich aufgefordert, das noch mal zu machen. Hey, Algorithmus, falls du das liest: Meine Tochter isst keine Schokolade mehr. Und sie will auch nichts anderes!

Als ich endlich nicht mehr verzichten wollte und es auch nicht musste, interessierte mich die Endlosigkeit nicht mehr. Vielleicht muss man da langsam reinwachsen, wie in die Hosen der Nachbarn, die ich auch trug. Vermutlich musst du schon als Kind oder spätestens als junger Erwachsener vor überfüllten Schränken stehend „Ich hab’ nichts anzuziehen“ rufen können, um den Überfluss normal zu finden. Doch mein Studium war endlos, es ging einher mit einer endlosen Zeit der Pleite, und als ich ­endlich mehr Geld verdiente, hatte ich neue Freunde, die fanden, dass ich stilistisch den Status „Männerwohnheim“ hinter mir lassen könnte. 

So lernte ich Prada kennen. Yohji Yamamoto. Comme des Garçons. Und so weiter. Die erste Überraschung: Da gab es eine Frau Scholz. Die natürlich anders hieß, Doris oder Eva, freundliche Vornamen, die meistens beim zweiten Besuch fielen. Wer sich jetzt wundert – für Talea oder Ada war es zu früh, das ist schon ein paar Jahre her. Eva verkaufte mir jedenfalls gerne eine gelbe Hose, aber nur, weil ich der Typ dafür war, denn sie wusste, was ich erst lernte: Schrill bedeutet, dass sich die Leute an dich erinnern – das kannst du auch mit Beige nicht verhindern. Außerdem ist es nicht schlecht! Zudem begriff ich langsam, dass das teure Zeug wirklich besser aussieht und außerdem ewig hält; die meisten der in dieser kurzen Phase gekauften Sachen habe ich bis heute. 

Während die Welt ins Internet abwanderte, wo es ­jederzeit alles zum halben Preis gibt, schlenderte ich durch Geschäfte, die kurz darauf zur bedrohten Art erklärt wurden, und sprach mit Menschen, die sich auskannten, über Rum, Schokolade oder Multireiben. Das Ergebnis war immer dasselbe. Du brauchst eine Sache: den Rum, die Schokolade, die Reibe. Okay, bei Schoko—lade und Rum kannst du einige wenige Alternativen probieren – aber was willst du mit mehr als einer Reibe? ­Darauf kannst du verzichten.

Heute verzichte ich nie und kaufe immer weniger. Zugegeben, was ich kaufe, wird immer teurer. Ich höre gerne Musik – Vinylplatten kosten mehr als im vorigen Jahrtausend. Ich lese gerne Comics, die mittlerweile Graphic Novels heißen und ungefähr das Dreißigfache von dem kosten, was in meiner Kindheit Comic-Hefte genannt wurde. Ich verdiene wieder weniger Geld, weshalb ich Kleidung fast nur secondhand kaufe, aber das tue ich ohnehin nicht oft – mein Schrank ist voll. Und alles geht nach demselben Prinzip: Ich überlege mir sehr genau, was ich will und brauche, und dann schaue ich, bis ich exakt das finde. 

Zurzeit suche ich ein Messer. Messer sind nicht nur sehr schwierig, sondern auch sehr teuer. Was ich mir leisten kann, ist nicht besser als das, was ich habe – vielleicht brauche ich gar kein Messer? Wie Kevin Kelly, „Wired“-Gründer und letzter Weiser des Silicon Valley, kürzlich in einem Interview sagte: Wir könnten nicht immer mehr haben, aber fürs Besserwerden gäbe es keine Grenze. Marie Kondo hatte trotzdem nur halb recht: Sortiere aus, was dich nicht glücklich macht, ist prima – aber dann gönne dir auch was Neues. Zehn Paar Schuhe raus macht gute Laune, aber nach zehn Paar Schuhe raus und ein Paar Schuhe rein ist die Laune definitiv besser. Nur sorge dafür, dass es ein Paar ist, von dem du auch noch in zehn Jahren weißt, warum du es gekauft hast. Schrill hilft. Überlegt auch. 

Und selbstverständlich sollte das Paar nicht von einem kleinen Tier ausgesucht worden sein, das in deinem Computer haust und findet, dein Leben sollte wie eine Spotify-Playlist aussehen: unauffällig. Im Gegenteil. Die Antwort auf das Warum sollte auch in der fernen Zu-kunft auf jeden Fall so beginnen: „Darauf konnte ich nicht verzichten.“ //


Dieser Text stammt aus unserer Redaktion Corporate Publishing.