Kleine heile Welt

Das Neue. Das Unbekannte. Die Veränderung. Wozu soll das gut sein? Wolfgang Schneider liebt die Gewohnheit.
Die Sicherheit, die sich aus der Routine ergibt. Das gute Gefühl des Vertrauten. Deshalb fährt er seit 38 Jahren so oft er kann, von Mülheim an der Ruhr zu einem Campingplatz nach Essen-Werden. Dort steht sein Lux. Sein Leben.




Ein heller, warmer Herbsttag an der Ruhr. Die Sonnenstrahlen kommen durch die grünbraunen Blätter der hohen Buchen am Rand des DCC Stadtcampingplatzes Essen-Werden. Zur Info: DCC steht für Deutscher Camping Club. Aber hier am Tor, gleich gegenüber dem Gewerbegebiet, steht nicht nur das, sondern noch viel mehr. Auf der Plastikplane eines kleinen einachsigen Anhängers wird für den Geburtstagsservice Max und Moritz geworben, man sieht von hier aus das Schild „Kein Durchgang zur Ruhr“, das vom Biergarten „Zum Campertreff“, das, auf dem es heißt: „Strom für Juli–September bezahlen“, das mit „Küche – Trinkwasser“, „Müll – Abfall“, „DCC Stadtcamping-Essen“, das ... so viele Schilder. Und so viele kleine überbunte Aufkleber auf der Scheibe des Kassenhäuschens. In grellen Farben, mit Werbung für Caravan Plus und für Verbände und Vereine. Ein großes Plakat mit den Campingplatzregeln, die als Paragrafen präsentiert werden. Es ist ein geordnetes, beschildertes, beklebtes Leben auf dem Campingplatz. Drei Schritte hinter den Schlagbaum am Eingang, und ein Mann kommt ziemlich drohend angerannt: „Halt, wohin wollen Sie?“ Zu Wolfgang Schneider. „Weiß er, dass Sie kommen?“ Ja. „Gut, rechts, an der vierten Wassersäule, es ist ein Lux.“ Aha.

Ein Lux, das sollte man wissen, ist ein Bürstner Lux, Wolfgang Schneiders Campingwagen seit 28 Jahren. Seit 38 Jahren ist er Dauercamper hier auf dem Stadtcampingplatz, 1967 fing er an „mit einem Zelt“. Nach ein paar Jahren dann ein gebrauchter Wagen. Es kam die Zeit, da hat er den verkauft und sich den neuen zugelegt, den Lux, der seitdem nicht einmal bewegt worden ist.

Unter den Rädern, die wegen des Vorzeltes vom Plastiktisch aus nicht zu sehen sind, wo Wolfgang Schneider, Friedhelm und ein namenloser, unbekannter, völlig wortloser Camper sitzen und Pilsner aus der Flasche trinken, liegen Waschbetonplatten. Dazu später mehr. Erst mal erklärt Wolfgang Schneider, warum er hier steht, warum er so lange hier steht und warum es ihm gefällt, hier zu stehen.

Es gibt einige Gründe. Beharren, Nostalgie, Festhalten, Durchhalten, Immer-gleich-tut-gut, ein Mischmasch. Schneider gefällt es einfach. „Ja, es ist schön.“ Schneider ist seit 31. März dieses Jahres arbeitslos, die Karstadt AG, für die er 39 Jahre im Lebensmitteleinkauf arbeitete, ein Jahr länger, als er hier auf dem DCC-Platz Essen seinen Camper stehen hat, entließ ihn und fand ihn ab, „nach 39 Jahren, können Sie sich das vorstellen?“. Schneider macht eine Pause. „Man muss der Realität ins Auge sehen.“

„Des Campers größter Fluch: Regen und Besuch.“

Es ging eine Konstante verloren in seinem Leben, eine wichtige. Irgendwann mal sagt Schneider, dass er nicht mehr verheiratet ist, und drückt sich in der Folge vor dem Thema. Herauszuholen ist aus ihm nur, dass er keine Kinder hat, dass seine Frau hier mit dabei war auf dem Campingplatz, so wie anfangs auch seine Freundin. Könnte sein, das ist ein und dieselbe Frau, es ist auf jeden Fall derselbe Campingplatz. Könnte sein, er ist geschieden, könnte sein, er ist Witwer. Er will nur über Camping reden. Alles andere stört ihn. Jedenfalls scheint da eine andere Konstante verloren gegangen zu sein. Was blieb und bleibt, ist der Camper hier links hinter der vierten Wassersäule. Der Lux. „Die Oase“, sagt er. Oder: „Mein ruhender Pol.“

Wolfgang Schneider erklärt nun also, was ihn nach Essen-Werden treibt: „Camping hat den Vorteil absoluter Ruhe.“ – „Gewohnheit, lieb gewordene Gewohnheit.“ – „Raus aus dem Alltags-Stress, ich treff’ den Friedhelm und den Kurt.“ – „Sie sehen und hören was anderes hier draußen.“ Klingt alles okay, aber oberflächlich, vielleicht sogar gelernt. Anders kommt Schneider rüber, als er vom Grillen erzählt. Da ist mehr Enthusiasmus, mehr Authentizität. Über das Grillen kann er viel verzählen, macht er auch, Holzkohle, aber wenn es regnet, dann ist das Matsch, es stinkt. Er habe jetzt einen Gasgrill, „schmeckt nicht so gut, aber ...“ Er hat, der Campingplatz habe schon lange Strom, ein Gefrierfach. Und immer was zum Grillen drin. „Wir haben hier schon im Winter gegrillt, in der Daunenjacke, mit Glühwein.“ So geht das weiter. Gewürzt mit Sprüchen wie: „Des Campers größter Fluch: Regen und Besuch.“

Während er das und Ähnliches erzählt und immer wieder Nostalgie-Schübe hat, raucht er Roth-Händle oder zieht an einer seiner Pfeifen, trinkt Köpi aus der Flasche. Ab und zu bezieht er Friedhelm mit ein. Meist aber redet Schneider. Das Vorzelt seines Wagens ist grau-weiß-schwarz gestreift, die Tür ist offen, davor hängen aber silberne oder graue, das ist eine Frage, wie man es wahrnehmen will, Puschelwürste. Man kann nicht reinschauen. Die Fenster des Zeltes sind aus echtem Glas, man kann sie aufschieben, sie sind aber zu und blickdicht dank Vorhängen und Gardinen.

Friedhelm wohnt im Dethleffs Beduin

„Irgendwann steigen die Ansprüche“, sagt Schneider, während die Sonne auf seinen glatten runden Schädel scheint und auf das vielfarbige Polo-Sport-Shirt. Es ist sehr bunt und ein Kontrast zu der Kleidung all der anderen Camper auf dem DCC-Stadtcampingplatz. Er könnte es extra angezogen haben, weil heute Besuch da ist. Jedenfalls sieht er ganz anders aus als Friedhelm oder die vielen Camper, die auf ihren Fahrrädern vorbeifahren und die Hand dabei zum Gruß heben. Das Campen war immer ein Fundament seines Lebens. Ist heute das einzige, das noch steht: „Es erzieht einen, man lernt Ordnung halten, hier kann man die Arbeit nicht abschieben, man ist verpflichtet, die Aufgaben regelmäßig zu erledigen. Das macht auch Spaß.“ Was für Arbeiten? „Aufräumen. Rasenmähen beispielsweise.“

Wobei, als er noch arbeitete, da hatte er manchmal vier, fünf Wochenenden am Stück, an denen er nicht kommen konnte, wegen der Arbeit eben. Immer wieder mal. Da hat er dann den Friedhelm angerufen und ihn gebeten, doch für ihn mit zu mähen. Friedhelm nickt. Wolfgang Schneider sagt: „Bei uns alten Campern gibt es ein unheimliches Gefühl der Zusammengehörigkeit.“ Nun klingt er wieder so, als würde er vom Grillen sprechen. Es ist offensichtlich: Zusammengehörigkeitsgefühl, wichtig, vielleicht gar Familienersatz. Dafür nimmt er gern lange Wege zur Toilette in Kauf. Friedhelm hat übrigens keinen Lux, der hat einen Dethleffs Beduin. Das sollte erwähnt werden, weil Camper eine eigene Sprache haben, ja, „es gibt so was wie eine Camper-Kultur, ernsthaft“. Er wiederholt den Satz. Zusammengehörigkeit gehört zur Camper-Kultur. „Wobei, ganz wichtig, man kann sich hier aus dem Weg gehen, hier geht einem keiner auf den Keks.“ Er erzählt vom Seele-baumeln-Lassen, vom Abspannen, vom Sich-Erholen, vom In-der-Sonne-Sitzen und Ein-Buch-Lesen. Man könne hier allein sein oder aber das Gegenteil haben. „Wenn ich Kontakt möchte, hat man den schnell hier.“ Es habe mal einen Arzt hier gegeben und einen Rechtsanwalt, unterschiedliche Meinungen zu einem Thema, und es gibt immer was zu tun.

Anfangs sei auch die Freiheit wichtig gewesen. „Jetzt ist es die Konstanz, das Wohlfühlen.“ Konstanz gleich Wohlfühlen in dieser schnellen Welt. Veränderung? Bloß nicht. Wolfgang Schneider redet ein bisschen über Politik, oberflächlich, über Wirtschaft, Arbeitslosigkeit, schnell, hektisch, immer mit der Botschaft, es ändert sich was, und das ist gar nicht schön. Der Campingplatz aber, der Campingplatz, der ist Konstanz. Die Krise des Interviews kommt später, als diese Konstanz in Frage gestellt wird. Erst mal kommt das, was einen Camper ausmacht: Ja, klar, Wasser muss er vorne holen an der Wassersäule Nummer vier, mit vier Wasserhähnen. „Wenn der erste Frost kommt, gibt es da kein Wasser mehr, dann muss man ganz vor. Abwasser muss man selber wegbringen. Es ist nicht bequem.“

Härten ohne Klagen hinnehmen – das macht einen Camper aus

Hat ihn denn nie etwas anderes gereizt? Etwas Neues, vielleicht Besseres? Doch, schon, er hat viele Cluburlaube hinter sich, viel Sightseeing, „ganz normale Urlaube“, so formuliert er das. Aber immer war da der Lux, wartete auf ihn. Weiter mit den unangenehmen Seiten. Die Stromkabel hat er selber legen müssen. Alle drei Monate muss er 40 Euro für den Strom bezahlen. Ein Jahr Stellplatz kostet 850 Euro. Nachts aufs Klo? Tja, er nimmt dann das Fahrrad, um vorzufahren, zur Toilette. Zum Waschen morgens, abends? Auch. Heizung? Schon, „aber es ist schon oft vorgekommen, dass nachts die Heizung ausging, weil die Gasflasche leer war, und es macht keinen Spaß, die zu tauschen in der Kälte.“ Und mehrmals habe er keine dagehabt, als er gerade eine brauchte. Es gibt eben harte Sachen im Camper-Leben, und die auf sich zu nehmen ohne Klagen, das macht einen Camper aus.

Genauso wie der Stolz genau darauf. Früher gab es, mit Zimmerantenne im Vorzelt, nur drei oder vier Fernsehprogramme hier. Anfang der Siebziger habe er das kleine TV-Gerät gekauft, für 499 Mark. Heute steht, wie eine Fahne, vor seinem Lux eine kleine Satellitenschüssel an einem Metallmast, wie an allen Caravans hier. Schneider erzählt viel von früher, sehr viel. Heute, das klingt immer nach Krise, nach Niedergang, nach „früher, da war alles besser“. Trotzdem, es ist sein Ding, auch heute noch.

„Man trifft sich hier, heute gehen wir zu Kurt, morgen zu mir, heute gucken wir das Spiel vorne in der Gaststätte. Es gibt Feste, Sommerfest, Anzelten, Abzelten, es gibt oft ein ‚Okay, gehen wir nach vorne, Bier trinken‘.“ Wolfgang Schneider deutet in Richtung Camper-Kneipe. Steht auf, Bier holen aus seinem Lux. „Nein, hat nichts mit dem Tier zu tun, kommt von Luxus.“ Die Sonne steht in seinem Rücken, sein Schädel scheint zu leuchten. Er ist 1,90 Meter groß, eigentlich schlank, hat jedoch eine kleine, gemütliche Wampe und ist sehr gesprächig. Stammt aus Essen, lebt jetzt in Mülheim, spricht Hochdeutsch, warum, weiß er nicht. Erzählt vom heutigen Camper-Nachwuchsmangel, einiges über den Campingplatz: 220 Plätze insgesamt, 150 Dauerplätze belegt, viele Dauercamper. Friedhelm ist seit 26 Jahren hier. Ach früher: keine Nachwuchssorgen bei den Campern. „Es gab Wartelisten für den Platz hier, zwei Jahre musste man sich gedulden.“ Schneider deutet um sich, auf die vielen leeren Plätze. Zündet wieder eine Pfeife an und schwelgt in der Vergangenheit: „Früher waren Sie hier nicht erreichbar. Es gab ja noch kein Handy. Besuch musste sich vorne melden. Ich konnte sagen, bin nicht da, lasst niemanden rein. Privat und beruflich, hier konnte man abgeschottet sein.“

Wie sieht so ein Lux von innen aus? Er zeigt es. Erst das Zelt, acht Quadratmeter Wohnfläche. Anders als die Zelte, mit denen Wolfgang Schneider anfangs hier war. „Damals waren Wohnwagen eine Seltenheit. Es gab die Zelte mit den Spitzen, solche Hundehütten. Damals, in den heißen Monaten, habe ich von der Firma Trockeneis mitgebracht. Gab ja keinen Strom. Wir durften, das war so ab ‘70, ‘71, die Zelte unter der Woche stehen lassen, nur alle zehn Tage mussten sie ein paar Meter versetzt werden, damit darunter der Boden nicht fault. Deshalb auch die Bodenplatten. Anders geht das nicht. Später hab’ ich gebraucht einen Wohnwagen gekauft, ein paar Jahre später dann den hier.“

Im Zelt ist die Ausstattung einer normalen Küche, Spüle, Kühlschrank, Herd. Ach, waren das Zeiten, als er noch mit der Kühltasche kam am Wochenende. Eine Sitzecke an der Wand, also der Wand des Wohnwagens von außen, drei Blechbilder von Humphrey Bogart, Marilyn Monroe und King Kong, die für ein Dortmunder Bier werben. Eine kleine Stereoanlage, eine leere Magnumflasche Champagner mit Blumen drin. Acht Quadratmeter deutsche Enge unter dem Plastik-Imitat einer Holzdecke, die unter dem Zelthimmel hängt oder klebt, wellig, provisorisch, seit Mitte der Siebziger. „Das war so schon drin.“ Im Wagen elf Quadratmeter. „Hier spielt sich alles ab.“ Dunkel, Sitzecke mit kleinem Tisch, Essecke mit rundem Tisch, großes Bett, so breit wie der Wagen, eine Chemietoilette, die er möglichst wenig benutzt. Schränke, nicht tief, mit Kunstholz außen. Es wirkt steril, es liegt nichts rum, nichts, gar nichts Persönliches. „Man lernt, Ordnung zu halten“, sagt er. Kurz darauf: „Man muss Individualist sein“, und einige Minuten später: „Man muss Kompromisse eingehen.“

Nachwuchssorgen bei der Ersatzfamilie

Das gefällt ihm? „Mir gefällt das Zusammengehörigkeitsgefühl der alten Camper. Wir sitzen hier und reden von früher, das ist schön.“ Es gibt noch um die zwanzig hier, die er dazuzählt, die schon lange hier stehen. Berthold, das ist der im Privileg direkt neben seinem Lux, na ja, es sind zwei Stellflächen frei dazwischen, Berthold kommt immer noch hierher zur Ersatzfamilie, trotz seines Schlaganfalls. „Er hat die Reha-Maßnahmen meistens hier gemacht, die Therapeutin kam hierher. Jetzt ist er wieder richtig fit, mäht den Rasen selber, will sich nicht helfen lassen.“ Es freut ihn, dass es Berthold wieder gut geht. Ja, sie seien so was wie eine Familie. Dann sind da die mittelalten Camper, schon weniger, aber noch einige, und es fehlen die jungen. „Kein Nachwuchs. Scheint vorbei zu sein.“

Und jetzt auch noch das: Die Stadt Essen will Steuern, Zweitwohnsitzsteuer, zehn Prozent der Gebühren. Nun redet er sich in Rage, nein, er ist in Rage, und die darf jetzt endlich durchbrechen. Es ist so: Der Stadtrat von Essen hat 2003 beschlossen, dass Wohnwagen Zweitwohnungen sind, dass also Steuern fällig sind, wenn man sie länger als drei Monate auf einem Platz stehen lässt. Die Verwaltung hat die Steuer aber nie eingetrieben, weil es sich kaum rentiert hätte. Jetzt aber macht sie das, will das Geld auch rückwirkend haben. Für Schneider heißt die Rechnung: 850 Euro Jahresgebühr für den Campingplatz, wobei 100 Euro für Müll und anderes abgezogen werden, also 750 Euro, davon zehn Prozent, macht 75 Euro. Rückwirkend ab 2003 sind das auf einen Schlag 225 Euro.

Schneider sitzt wieder draußen auf dem gepolsterten Plastikstuhl und sagt: „Ich denk’ darüber nach aufzuhören.“ Er sei ja jetzt arbeitslos, müsse mit dem Geld gut aufpassen, er könne sich nicht mehr alles leisten. Doch, das sagt er. Es hätten sich schon einige abgemeldet. Er denke darüber nach. Er lügt. Er sagt das sicher nur, um Druck auszuüben. Schneider hat viele Artikel gesammelt zum Thema, er will sich wehren, klar machen, was hier passiert. Es geht, sagt er einmal, „ums Überleben“. Um ein Stück heile Welt.


Dieser Text stammt aus unserer Redaktion Corporate Publishing.