mdexx

Mittendrin im echten Leben: Bei der Siemens-Tochter mdexx in Bremen arbeiten Behinderte seit vielen Jahren in der Fertigung mit.




Heute Morgen kommt Cristian Tene ausnahmsweise mit dem Taxi zur Arbeit. Er hat verschlafen und will noch halbwegs pünktlich erscheinen. Der 26-Jährige nimmt seinen Job bei der Siemens-Tochter mdexx Magnetronic Devices in Bremen sehr ernst. „Guten Morgen“, murmelt Tene, als er das Pförtnerhäuschen passiert. Der Mann hinter der Scheibe kennt ihn lediglich vom Sehen, weiß, dass Tene der Mann mit dem blondierten Pony ist, dass er auf seinen krummen Beinen nur mühsam vorankommt und dass er zum Bremer Martinshof gehört, einer der größten Werkstätten für Behinderte in Deutschland. Doch an Tenes Hosenbund hängt ein Firmenausweis von mdexx. Der Pförtner erwidert den Gruß mit routiniertem Nicken, zwanzig Minuten nach dem offiziellen Arbeitsbeginn um acht Uhr steht Tene an seiner Maschine.

Cristian Tene ist ein ganz besonderer Mitarbeiter in einer ganz besonderen Firma. In Deutschland arbeiten einige Tausend Menschen mit Behinderung im Auftrag von Behörden und Unternehmen, aber die meisten tun es in den Werkstätten ihrer Einrichtungen; nur für sehr wenige ist der Arbeitsplatz die Fabrik ihres Auftraggebers. mdexx, eine Tochter der Siemens AG, praktiziert diese integrierte Form der Auftragsvergabe an Behinderte schon seit einer Dekade. Mit zehn Martinshöflern fing es an, inzwischen sind es zwei Teams mit insgesamt 38 Mitarbeitern, die ihren 460 mdexx-Kollegen an verschiedenen Stellen des Werks zuarbeiten. Und es ist das erklärte Ziel der Geschäftsführung, die Gruppe vom Martinshof weiter zu vergrößern, rund 50 von ihnen sollen bis 2010 in den Hallen von mdexx arbeiten. Das Geschäft mit Trafos, Drosseln, Ventilatoren und Stromversorgungssystemen brummt – auch dank der Behinderten. Da ist es nur logisch, dass ihre Präsenz im Werk verstärkt werden soll.

Für Cristian Tene ist mdexx schon seit sieben Jahren „seine“ Firma, „sein Arbeitgeber“, obwohl er nicht dort angestellt ist; seinen Lohn erhält er vom Martinshof. Im grasgrünen Firmen-T-Shirt steht er an seiner Kabel-Ablenkmaschine und studiert die Auftragsliste. Ein Wust aus Zahlen- und Buchstabenkombinationen und Abkürzungen für Ader-Endhülsen, Kabelschuhe, Plastikhülsen. Einige der Zahlen überträgt Tene ins Display der Maschine: die Länge der zu schneidenden Kabel, den Abisolierwert und den Teilabzug; durch eine Prozentkorrektur auf dem Display bereinigt er „Diskrepanzen“, die er zwischen einem vorgegebenen Wert auf der Liste und dem Leistungsvermögen der Maschine entdeckt hat; zuletzt füttert er die Maschine mit einem Endloskabel von einer Kabeltrommel. Die Maschine hackt das Kabel auf Länge, schneidet die Isolierung an und zieht sie ein Stück weit vom metallenen Kern. „Die Kollegen müssen das von Hand abziehen können. Wenn man es mit der Zange macht, könnten sie den Draht verletzen“, erklärt Tene.

Bibi Blocksberg hilft beim Deutschlernen

Wenn man Cristian Tene ein paar Stunden durch den Tag begleitet, kommt man kaum umhin, in ihm ein Genie zu entdecken, trotz seines Sonderschulabschlusses. Tene hat nicht nur von Geburt an eine Gehbehinderung, er gilt zudem als lernbehindert. Zwei Monate zu früh kam er auf die Welt, in Rumänien, und er hat Glück gehabt, dass er damals nicht als „Krüppel“ in eines von Ceausescus berüchtigten Kinderheimen abgeschoben wurde. Mit zehn zog er mit Mutter und Stiefvater nach Bremen, damals konnte er gerade „auf Wiedersehen“ sagen. Mit Kassetten von Bibi Blocksberg und Pumuckl und Peter Steiners Theaterstadl im Fernsehen lernte er Deutsch, er spricht es so perfekt, dass man ihn für einen Bremer hält. „Man tut, was man kann“, sagt Tene, „kann schon sein, dass ich eine gewisse Sprachbegabung habe.“ Schwierig wird es manchmal, wenn es darum geht, „große Datenmengen aufzunehmen, viele Zahlen, viel Schriftliches“. Vor allem unter Stress verlässt ihn seine Konzentrationsfähigkeit. Dann kann die Welt um ihn herum ganz schön unsortiert erscheinen. Solange aber Maß und Rhythmus den Alltag bestimmen, sieht Cristian Tene ziemlich klar. Zum Beispiel, „dass ein normaler Betrieb so einen wie mich doch nie einstellen würde – wegen des Kündigungsschutzes. Der wird mich ja nie mehr los.“

Cristian Tene ist der Sprecher seiner zwölfköpfigen Gruppe. Zusammen stellen sie konfektionierte Kabel her, die später in anderen Abteilungen des Werks als verschlungene Kabelbäume in Stromversorgungskästen für Industrieroboter oder Computertomografen eingebaut werden. Was zugeschnitten und abisoliert aus Tenes Maschine rattert, landet auf den Tischen seiner Kollegen, die mit sogenannten Crimpzangen Beschlagteile auf die offenen Kabelenden knipsen. Es ist eine monotone Arbeit, gerade richtig für Menschen wie Helga, Denise oder Jürgen. Denise lacht laut auf. Ihr „kleiner Mann im Ohr“ hat ihr wieder mal einen Witz geflüstert. Welchen? Sie hat es vergessen. Dafür kann sie detailliert den neuen Alibert-Schrank im Bad ihrer Eltern beschreiben. „Denise lacht immer sehr laut“, rügt Jürgen, „aber Lachen ist gesund, oder?“

Jürgens Hände zittern. „Ich hab’s mal an einer Crimpmaschine probiert, aber das geht nicht, schau, wie die zittern, dann hat mich mein Chef wieder an die Zange gesetzt, das mach’ ich besser.“ Währenddessen erzählt Helga zum x-ten Mal an diesem Morgen, dass sie im nächsten Jahr sechzig wird und dann Rente bekommt. „Dann komm’ ich nicht mehr zur Arbeit“, sagt sie mit provozierendem Unterton. Als sie dann auch noch lange vor der Frühstückspause mit einer Tasse durch die Werkstatt läuft, bringt das die ganze Truppe auf. Sie schimpfen und grummeln, „das geht nicht, das ist doch verboten. Bring die Tasse sofort zurück“. Die bunten Kisten auf den Tischen füllen sich derweil nur langsam mit den vercrimpten Kabelstücken.

Die Kooperation birgt Vorteile für alle

Das alles mag chaotisch wirken, nach Komplikationen aussehen, doch ein Zuschussgeschäft ist die Arbeit der Behinderten für mdexx nicht. Die Kooperation mit dem Martinshof hat weder mit Almosen noch mit Alibi zu tun – sie ist das Resultat einer einfachen ökonomischen Rechnung: Was früher die eigenen Angestellten machten, leisten heute die Behinderten zu Stückkosten, die konkurrenzfähig sind mit jenen in Osteuropa oder Fernost; außerdem hat die Integration der Behindertengruppen im Betrieb im Gegensatz zu einer ausgelagerten Produktion den zusätzlichen Vorteil der kurzen Wege. Probleme lassen sich meist gleich vor Ort lösen.

Wie eng Behinderte und Nicht-Behinderte zusammenarbeiten, sieht man in Halle 4: Auf der einen Seite steht mit seiner Gruppe Enver Balci, 34, und steckt mit der linken Hand Bauteile auf eine Metallplatte; klick, klick, klick – immer mehr Ampereschalter, Leistungsschalter, Schutzschalter und Kabelkanäle klickt Balci in metallene Schienen, die seine Arbeitskollegen zuvor auf die Platten geschraubt haben. In seinem alten Leben hätte Enver Balci dafür seinen rechten Arm und die rechte Hand benutzt. Bis er in ein neues Leben katapultiert wurde: Von einem Urlaub unter Palmen brachte er ein seltenes Grippe-Virus mit, tagelang hatte er hohes Fieber, dann fiel er ins Koma und erlitt drei Schlaganfälle. Seither spricht Balci sehr mühsam. Natürlich habe er sich einmal eine andere Arbeit erträumt als diese einfache Vormontage, „aber im Moment ist nicht mehr drin, ich muss froh sein, so einen Job zu haben.“

Nur ein paar Meter entfernt steht Matthias Hölling, Leiter der Gruppe G4, die Stromversorgungssysteme baut für medizinische Geräte, Verpackungsmaschinen oder Bestückungsautomaten. Einige Bauteile dafür kommen auf Rolltischen aus Enver Balcis Gruppe. „Sicher, zuerst gab es bei manchen Kollegen die Sorge, die Leute vom Martinshof könnten uns die Arbeitsplätze streitig machen“, sagt Hölling. Denn früher packten die Behinderten die Bauteile nur aus, jetzt schaffen sie schon die Vormontage. Inzwischen, sagt Hölling, würden seine Mitarbeiter aber von selbst anregen, die eine oder andere Arbeit „rüberzuschieben“ zur Martinshof-Gruppe. Hölling spricht vom Konkurrenzkampf und vom mörderischen Preisdruck im Markt. Dass mdexx dort mitspielen kann, hat auch mit der Arbeit der Martinshöfler zu tun – sie helfen, die Kosten zu senken und damit Aufträge an Land zu ziehen, die sonst vielleicht verloren gingen. Im Schnitt verdienen die Martinshöfler 250 Euro pro Monat. Viel ist das nicht, doch die meisten leben von Sozialhilfe, und das Sozialamt würde von einem höheren Lohn reichlich einbehalten.

Keine Frage, die Beschäftigung behinderter Menschen rechnet sich. Aber hinter der Zusammenarbeit von mdexx mit dem Martinshof steckt weit mehr als nur eine ökonomische Überlegung, auch wenn die wichtig ist. „Wir werden von mdexx redlich bezahlt“, meint Wilfried Hautop, Geschäftsführer des Martinshofs. Davon abgesehen, sieht Hautop in solchen Kooperationen den enormen Mehrwert, als Behinderteneinrichtung vom „Besen-Bürsten-Pinsel-Image“ wegzukommen, von der Vorstellung also, aus Behindertenwerkstätten kämen nur Produkte, die niemand wirklich braucht, die man mehr aus Mitleid kauft als aus einem echten Bedarf heraus. Vor zehn Jahren richtete der Martinshof bei mdexx die erste Außengruppe ein und demonstrierte damit, dass es auch anders geht. Mittlerweile hat er Teams in 15 anderen Unternehmen. „Unsere Beschäftigten sind heute an der Herstellung von Produkten beteiligt, die in Luxusautos, im ICE und sogar in Airbus-Flugzeugen eingebaut werden“, sagt Hautop stolz. „Das ist nicht mehr Einpacken-Auspacken, das ist kein Lego-Kasten, das ist echte Wirtschaft.“

Echtes Leben ist es auch, und am schönsten sieht man das in der Kantine von mdexx, wo sich Martinshöfler täglich Punkt 13 Uhr in die Schlange an der Essensausgabe einreihen. Dann kann es passieren, dass Geschäftsführer Jan Reinecke, ein Fan von Hertha BSC Berlin, auf den eingefleischten Werder-Anhänger Thomas Böger vom Martinshof trifft und sie beim gemeinsamen Warten auf Hühnchenschlegel ein paar Sätze über ihre Vereine austauschen und sich fortan „Hallo, Jan!“ und „Hallo, Thomas!“ zurufen, wenn sie sich begegnen. Jan Reinecke und sein Geschäftsführerkollege Eckard Eberle gehen regelmäßig durch die Hallen und kommen stets mit dem Gefühl zurück, dass eine „sehr angenehme Selbstverständlichkeit im Umgang miteinander“ herrscht. „Es gibt längst keine Berührungsängste mehr. Wir leben täglich mit den Menschen vom Martinshof, und sie leben mit uns.“ Das Außergewöhnliche bei mdexx ist die Normalität. Und vielleicht stimmt ja, was man von mdexx-Mitarbeitern immer wieder hört: dass die Martinshöfler das gesamte Betriebsklima verbessert haben, auch wenn sich das nie verifizieren lässt. Einfach deshalb, weil sie anders sind.

„Unsere Kollegen vom Martinshof sind sehr herzlich“, sagt eine mdexx-Mitarbeiterin, „die haben so gar nichts Falsches an sich. Die sagen, du bist blöd, und zeigen den Vogel, wenn sie es so empfinden. Bei uns Nicht-Behinderten passiert es doch eher, dass man hört, wie nett man sei, aber hintenrum heißt es: blöde Kuh.“ Dieter Bernsen, einer von drei Gruppenleitern, die einmal mdexx-Beschäftigte waren und heute als Angestellte des Martinshofs mit einer sonderpädagogischen Zusatzausbildung die Behindertengruppen im Werk betreuen, meint: „Es gibt keine Konkurrenz, keiner sägt am Stuhl des Meisters. Man kann hier Mensch sein, Fehler machen. Niemand trägt es einem nach.“

Die Behinderten verbessern das Betriebsklima

Fast schon zum Firmen-Fundus gehört das Erlebnis von Karin Brekeller, Sekretärin der Geschäftsleitung. Sie kümmert sich um eine Gruppe vom Martinshof, die unter der Anleitung eines Gärtners die Außenanlagen der Firma pflegt. „Einmal stand ich am Fenster und sah, wie einer der Behinderten in einer Frühstückspause lauthals sang“, erzählt sie. „Da dachte ich: Guck mal, wenn es dem in seiner Situation so gut geht, dann geht’s uns doch prächtig mit unseren kleinen Jammereien.“

In der Kabelkonfektionierungsgruppe hat Cristian Tene gerade entdeckt, dass ein Kollege die Löcher fast freihändig in die Schalenkerne bohrt, weil sich die Vorrichtung zum Einspannen der Werkstücke gelöst hat. „Stefan, geh doch bitte gleich zu Dieter und sag ihm, dass er dir das wieder einrichten soll“, rät Tene. „Sicherheitstechnisch ist das nämlich überhaupt nicht okay.“ Er ist mächtig stolz auf seine Aufgabe als Gruppensprecher: „Ich hab’ hier Leute mit spastischen Problemen oder eine, die ist Doktor der Chemie, aber seit sie im Krieg in Jugoslawien missbraucht wurde, ist Feierabend. Solche Menschen machen auch mal Fehler, jeder macht doch Fehler.“ Als Gruppensprecher, sagt Tene, müsse er für alle ein offenes Ohr haben, „auch für den, der ohne seine Zigaretten ungenießbar ist.“

Es ist kurz nach vier Uhr mittags, von der Martinshof-Gruppe geht Tene als Letzter in den Feierabend. Er sieht noch eine Crimpzange am falschen Platz liegen und sagt, dass er es gar nicht mag, wenn die Arbeitsplätze nicht aufgeräumt verlassen werden. Auf dem Nachhauseweg in der Straßenbahn erzählt er, dass er gern auch mal am Wochenende arbeiten würde, „wenn die Firma unsere Arbeit braucht, die Auftragslage ist ja blendend“. Aber die vom Martinshof wollten das nicht, dass Behinderte so eingespannt würden. „Na ja“, sagt Tene, „ein geregelter Feierabend hat auch was Schönes.“

Cristian Tene lebt allein, seine Mutter wohnt in der Stadt. Er beschäftigt sich viel mit Linux, er geht ins Fitness-Studio, bei einem Internetradio macht er regelmäßig Dienst als DJ bis spät in die Nacht. Über seinem Bett hängt ein großer hölzerner Kasten mit den Bibi-Blocksberg- und Pumuckl-Kassetten aus seiner Kindheit, mit denen er Deutsch lernte und die er später den Kindern seines Gruppenleiters bei mdexx auslieh. „Jeder kann sich weiterentwickeln“, sagt Tene. „Wenn du einen hast, der gestern Pappe gefaltet hat und morgen schon mit einer Crimpzange arbeiten kann, dann ist das doch ein Quantensprung.“ Pause. „Das macht doch was mit der Seele.“


Dieser Text stammt aus unserer Redaktion Corporate Publishing.