Und raus bist du

Zehntausende Jugendliche verlassen jedes Jahr ohne Abschluss die Schule, vor allem Haupt- und Förderschüler. Warum das so ist, erklärt Ulrich Heimlich, Professor für Lernbehindertenpädagogik an der Ludwig-Maximilians-Universität München.

Karte und Interview von Ingo Eggert

Dieses System ist nicht mehr zeitgemäß
Ulrich Heimlich, Professor für Lernbehindertenpädagogik an der Ludwig-Maximilians-Universität München

Herr Heimlich, was sehen Sie auf der Karte?

Mich überrascht der deutliche Unterschied zwischen Ost und West, da die Bildungspolitik in der ehemaligen DDR immer die Zielsetzung hatte, alle mit einzubeziehen. Die neuen Bundesländer wie Sachsen und Thüringen schließen bei internationalen Vergleichen wie der PISA-Studie immer relativ gut ab. Dennoch liegt der Landkreis mit dem höchsten Wert im Osten Deutschlands.

Sie sprechen den Landkreis Mansfeld-Südharz in Sachsen-Anhalt an, in dem jeder siebte Schulabgänger ohne Abschluss geblieben ist. Wie kann das sein?

Dafür kann es eigentlich nur zwei Gründe geben: Entweder liegt es an der Qualität der Schule, die es nicht schafft alle Schüler zu einem Abschluss zu führen, oder an den Schülern, die die Voraussetzungen des Schulabschlusses nicht erworben haben. Ganz allgemein sind Entwicklungsrückstände von bis zu zwei Jahren bei Kindern aus sozial schwachen Verhältnissen keine Seltenheit. Leider schaffen wir es mit unserem aktuellen Bildungssystem nicht, diesen Rückstand wieder auszugleichen. Das ist ein Riesenproblem.

Sind die Förderschulen nicht gerade dafür da, um es zu lösen?

Nein, dieses System ist nicht mehr zeitgemäß. Auf Förderschulen werden Kinder mit Problemen zusammengeführt, damit sie unter sich bleiben. Das halte ich für den falschen Ansatz. Kinder mit und ohne Förderbedarf sollten zusammen unterrichtet werden.

Also Inklusion. Wie weit ist Deutschland?

Leider noch nicht so weit wie die skandinavischen Länder. Dort gibt es bereits mehr inklusive Schulen als Förderschulen. In Deutschland gehen Kinder mit Förderbedarf immer noch vornehmlich auf Förderschulen. Dennoch glaube ich, dass wir auf einem guten Weg sind. Die Stadtstaaten und Schleswig-Holstein sind bei der Inklusion schon recht weit, die Flächenländer Bayern, Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen und Brandenburg hinken noch etwas hinterher.

Wie lässt sich das ändern?

Die Förderschulen könnten enger mit den allgemeinen Schulen zusammenarbeiten. Oder sich, wie hier in Bayern, auch für Schüler ohne Förderbedarf öffnen. In Nürnberg gibt es beispielsweise die Jakob-Muth-Schule, auf der Schüler mit und ohne Förderbedarf unterrichtet werden.

Ist das für Eltern mit Kindern ohne Förderbedarf attraktiv?

Wenn wir bei der Jakob-Muth-Schule bleiben: Die Schule bietet eine Ganztagsbetreuung an, beschäftigt Sozialpädagogen und Schulpsychologen und hat ein tolles pädagogisches Konzept. Sie fördert außerdem die Entwicklung von Toleranz und den Umgang miteinander. Das finden immer mehr Eltern in der Nachbarschaft interessant.

Was passiert mit Schulabgängern, die vor dem Problem stehen, ohne Abschluss keinen Ausbildungsplatz zu finden?

Die Berufsbildungswerke vermitteln einen Großteil dieser Schüler in Ausbildungsverhältnisse. Auch die Industrie- und Handelskammern kommen ihnen entgegen. Sie können vereinfachte Ausbildungen durchlaufen und prüfungserleichternde Maßnahmen in Anspruch nehmen. Dieses System finde ich sehr gut, auch im Vergleich mit skandinavischen Ländern.

Was passiert mit den Jugendlichen, die durch das Raster fallen?

Ein wichtiges Thema. Unser Bildungssystem ist nach wie vor hochgradig sozial selektiv. Wir müssen deshalb anfangen, frühzeitig mit benachteiligten Familien zusammenzuarbeiten. Wir müssen überlegen, was wir diesen Jugendlichen anbieten können. Sie schlagen Karrieren fernab von bürgerlichen Normalvorstellungen ein. Sie werden häufig kriminell.

Kann man das Problem von Grund auf angehen?

Ja, wenn wir ganz früh damit beginnen – in den ersten Lebensjahren, in der Frühförderung von sozial benachteiligten Familien, mit gezielter Elternberatung und Förderprogrammen bei Lern- und Entwicklungsproblemen. In den Landkreisen, in denen die Prozentwerte aktuell besonders hoch sind, müsste man gemeinsam mit den Schülern neue Projekte entwickeln, um ihre Situation zu verbessern. Mittelfristig setze ich große Hoffnungen auf die inklusiven Schulen. Erste Studien aus Norwegen und der Schweiz zeigen, dass Schüler, die in inklusiven Schulen gefördert werden, bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben.