AbbVie

Das betriebliche Gesundheitsmanagement umfasst alles, was hilft, die Menschen in ihrem Arbeitsumfeld vor Krankheiten, Stress oder Unfällen zu schützen. Es ist eine komplexe Aufgabe, zu deren Lösung mehr gehört als Sportkurse und Diätmargarine in der Kantine. Ein Besuch bei einem Vorreiter: AbbVie.





Doch dann sitzen da regelmäßig Männer, ihre panzer-gewordene Fleischigkeit gekleidet in den ihnen entsprechenden Symbolen, meist Anzug und Krawatte, und was auch immer hinter der Wand des Konferenzzimmers vorgehen mag, der ganz normale Alltag der vielen Mitarbeitenden verschwimmt und ertrinkt letztlich in Floskeln. Auf der Rückfahrt kichert das Misstrauen die ganze Zeit vor sich hin.

Aber das gilt nicht nur für Journalisten. Das gilt für alle Menschen, die Politiker, Unternehmer oder auch nur freund-liche Nachbarn betrachten und denken: „Red du nur!“ Ohne zu verstehen, dass das der sicherste Weg ist, jeglichen Fortschritt zu verhindern. Denn nichts kann sich ändern, niemand kann irgendetwas bewegen, wenn eine Sache fehlt:

1. Vertrauen

Alexander Würfel, der Geschäftsführer von AbbVie, kommt kurz vor neun in die Firma. Er wirkt wach und agil, aber nicht angespannt. Er trägt Jackett, keine Krawatte, denn „Krawatten sind wie eine Verkleidung, und darauf verzichten wir lieber. Unser Motto ist: Hier bin ich Mensch, hier darf ich sein.“ Auf dem Weg in die moderne, luftig eingerichtete Kantine, wo das Interview stattfindet, erzählt er von seinen beiden Kindern. Es ist der erste Tag, das erste Gespräch auf der Suche nach dem Kern des betrieblichen Gesundheitsmanagements (BGM) bei AbbVie. Was tun die hier? Funktioniert das? Warum?

AbbVie ist ein international tätiger Pharmakonzern, der 2013 als Abspaltung von Abbott Laboratories gegründet wurde, einem fast 130 Jahre alten US-Pharma- und Medizintechnikgiganten. AbbVie hat weltweit rund 26 000 Mitarbeiter, in Deutschland sind es etwa 2500, knapp 600 in der Verwaltung in Wiesbaden und im Außendienst, der Rest in der Forschung und Produktion in Ludwigshafen. Das Unternehmen beschäftigt sich mit chronischen Krankheiten, unter anderem mit Therapien für Hepatitis C, Multiple Sklerose, Alzheimer, Parkinson, chronisch entzündlichen Darmerkrankungen, Psoriasis und rheumatoider Arthritis. 2014 erwirtschaftete es einen Umsatz von knapp 20 Milliarden Dollar, von dem mehr als die Hälfte das Rheumamittel Humira einbrachte, das mit rund 900 Euro pro Dosis ein recht hochpreisiges Heilmittel ist, aber auch ein äußerst wirksames: Es bekämpft nicht bloß Symptome, sondern bremst den Fortgang der Krankheit und ermöglicht den Betroffenen, ein normales Leben zu führen – was auch immer sie darunter verstehen mögen.

Wie sämtliche Gesprächspartner bei AbbVie betont Alexander Würfel, dass ein Pharmakonzern selbstverständlich eine besondere Affinität zu Gesundheitsthemen und also zum BGM habe. Der 43-Jährige fügt hinzu: „Ein Unternehmen muss sich natürlich ein BGM leisten können, das kostet auch Geld. Aber es geht vor allem um die Einstellung. Viele sagen: Ich habe niemanden, der sich damit beschäftigen kann. Aber das hatten wir auch nicht. Entscheidend ist, dass das Thema der Chefetage wichtig ist.“

Würfel hat seine Karriere bei Knoll begonnen, der Pharma-Sparte von BASF, die 2001 von Abbott übernommen wurde. Er war für das Unternehmen erst in Australien tätig, übernahm später die Geschäftsführung des dänischen Zweigs und danach des schwedischen, bevor er zu AbbVie Deutschland kam. Die skandinavische Kultur, sagt er, ihr Gemeinschaftssinn und ihre Offenheit, haben ihn geprägt.

2006 ging er die Arbeitszeitmodelle des dänischen Zweigs an, unterstützt von der Beraterin Camilla Kring: Flexible Arbeitszeiten sollten Früh- und Spätmenschen fortan erlauben, zu den für sie jeweils optimalen Zeiten tätig zu sein. Würfel sagte damals der Zeitschrift brand eins über den Prozess: „Uns beeindruckte, dass (…) niemand erwartete, vom Arbeitgeber einen perfekten Zeitplan zu erhalten. Alle fingen bei sich selbst an. Ich glaube, dass in vielen Unternehmen das Problem (…) schon damit anfängt, dass diese Verantwortungsbereitschaft unterschätzt wird.“

Heute haben in der Zentrale von AbbVie Deutschland in Wiesbaden alle Mitarbeiter die Möglichkeit, über Vertrauens-arbeitszeit jederzeit und überall tätig zu sein. Würfel: „Natürlich bedeutet das erst einmal einen Kontrollverlust. Als klassischer Manager ist man da anfangs nervös und bekommt Zweifel, genau wie bei flachen Hierarchien. Aber ich muss das Unternehmen so führen, dass Entscheidungen auf den Ebenen getroffen werden können, auf denen die dafür nötigen Informationen vorliegen. Als forschendes Pharma-Unternehmen sind wir auf Innovationen angewiesen, wir müssen unsere Innovationskraft ständig steigern – und das geht nicht in einem starren, hierarchischen Umfeld.“

Dieser Gedanke spiegelt sich auch in der Raumgestaltung der Zentrale. Es gibt dort keine Einzelbüros, nur die Konferenzräume sind durch Glasfronten getrennt. Alle sitzen in Großräumen, in deren Zentren kleine Glaskabinen für kurze Gespräche bereitstehen. Es ist trotzdem überall auffällig ruhig, wohl auch, weil gut die Hälfte der Schreibtische nicht besetzt ist. Alexander Würfels Arbeitsplatz befindet sich am Ende einer Schreibtischreihe, für jeden jederzeit zugänglich. Primus inter Pares nannte man das früher: Erster unter Gleichen.

Das ist der Moment, in dem das Misstrauen zum Bahnhof muss, um grummelnd nach Hause zu fahren. Und siehe da: Ohne den kleinen, fiesen Begleiter wird alles einfacher.

2. Konsequenz

„Die flachen Hierarchien sind das Erste, was mir aufgefallen ist“, sagt der Leiter der Unternehmenskommunikation Florian Dieckmann. „Es wird wenig Energie darauf verschwendet, Status zu zeigen oder Hierarchiestufen aufzubauen. Es gilt nicht die Hierarchie des Organigramms, sondern die Hierarchie der besten Lösung. Und es gibt keine Ängste, die dazu führen, dass man sich überlegt, wer was gesagt hat und ob es opportun ist, ihm zuzustimmen. Die Abstimmungsprozesse dauern länger als woanders, aber dafür sind dann die Entscheidungen auch sehr durchdacht.“

Dieckmann hat mal für einen Bundestagsabgeordneten gearbeitet, danach war er für den Pharmakonzern AstraZeneca in Wedel bei Hamburg tätig, seit einem Jahr ist er bei AbbVie. Seine Begeisterung für die Unternehmenskultur wirkt echt. „Es wird durchaus positiv gesehen, wenn man zeigt, dass man einen Fehler gemacht hat“, sagt er zum Beispiel, „denn so kann man herausfinden, welche Probleme es in Prozessen, Abläufen oder Zeitplänen gibt. Außerdem glaube ich, dass viele Menschen besser sein könnten, wenn sie nicht ständig darauf achten würden, keine Fehler zu machen.“

Mit gutem Beispiel voran

Alexander Würfel spricht sogar vom angstfreien Arbeiten als Grundvoraussetzung für Innovation. Das gelte selbstverständlich auch für Gesundheitsfragen: „Wer eine Krankheit verstecken muss, hat bereits eine Blockade.“ Dann berichtet er von der ersten Vollversammlung nach der Gründung von AbbVie. „Ein chronisch kranker Manager hat sich damals vor gut 2000 Menschen gestellt, seine Geschichte erzählt und gesagt: ‚Ich würde mich sehr freuen, wenn sich weitere Kollegen mit ähnlichen Problemen fänden, mit denen wir ein Gremium bilden können, in dem wir über unsere Situation sprechen.“

Das war die Geburtsstunde des Mitarbeiter-Patienten-Gremiums. Inzwischen treffen sich drei- bis viermal im Jahr 27 Mitarbeiter, um über Veränderungen im Alltag zu sprechen, die chronisch Kranken und vielleicht auch anderen Menschen helfen könnten. Die Empfehlungen der Runde decken ein weites Feld ab: vom Führungskräftetraining für den Umgang mit chronisch Erkrankten und Schwerbehinderten bis zu einem kleinen Schrank, in dem chronisch Kranke Medikamente lagern können, sodass sie auch welche haben, wenn sie ihre zu Hause liegen lassen.

Das Gegenstück zum Mitarbeiter-Patienten-Gremium auf der Führungsebene heißt Arbeitskreis Gesundheit: Viermal im Jahr treffen sich Geschäftsführung, Personaldirektor, Schwerbehindertenvertretung, Betriebsrat, Arbeitsmedizin und Arbeitssicherheit, um über die innerbetrieblichen Gesundheitsmaßnahmen zu sprechen. Die Frage, ob zu dem Termin tatsächlich immer all diese viel beschäftigten Menschen kämen, quittiert der Betriebsarzt Andreas Erb mit einer winzigen Pause, als wolle er Raum lassen für ein leises Lächeln. Dann sagt er: „Ja, eigentlich schon. Das ist immerhin eine Priorität der Geschäftsführung.“

3. Wille

Andreas Erb fing 1996 bei der Knoll AG an, seit 2002 leitet er die Arbeitsmedizin im Unternehmen. Er ist sehr viel unterwegs, sehr beschäftigt, und so steht er für ein Interview nur telefonisch zur Verfügung. Doch im Gespräch wirkt er entspannt und recht zufrieden. „Wir haben auch schon früher Gesundheitstage durchgeführt“, erklärt er, „aber die waren eher ein Flickenteppich ohne System.“ Seitdem hätte sich die Situation grundsätzlich geändert, vor allem weil ihnen das Unternehmen offiziell den Auftrag gegeben habe, die gesundheitliche Situation zu verbessern.

„Der Wendepunkt“, sagt Erb, „kam 2008, 2009, als wir uns im Detail mit unseren Arbeitsunfähigkeitsdaten beschäftigt haben. Wir haben uns gefragt: Was bedeutet ein Krankenstand von vier Prozent? Es war schnell klar, dass dieser Wert in unserer Branche okay ist, aber dass es da trotzdem ein großes ökonomisches und soziales Potenzial gibt.“

Erbs Team entwickelte eine betriebsweite Gesundheitsumfrage, die 60 Prozent Rücklauf hatte – ein extrem gutes Ergebnis. Es stellte sich heraus, dass sich die Mitarbeiter mehr Sport- und Bewegungsangebote wünschten, ein besseres Angebot an Vorsorgeuntersuchungen, punktuell bessere Arbeitsbedingungen und bessere Führung. In der Folge wurde das BGM erheblich ausgebaut, heute gibt es Sportangebote und Business-Yoga, Entspannungsräume und Leichtkost-Kurse. Alles vor Ort, „und wir haben auch ein Budget dafür“.

Die Angebote hätten einen starken Zulauf, sagt Erb. „Klassische Vorsorgeangebote werden sonst wenig angenommen. Aber wenn man den Menschen ihre Wichtigkeit erklärt und sie dort durchführt, wo die Leute sowieso sind, nehmen sie auch teil. Zum Beispiel an Hautkrebs-Screenings: Wir haben mit 100 Terminen angefangen, jetzt sind wir bei 500. Und wenn ich einen neuen Termin bekanntgebe, ist der nach zwei Stunden ausgebucht.“ Auch die Sportkurse seien gut besucht, und das, obwohl die Mitarbeiter einen kleinen Eigenanteil von 10 bis 20 Euro zahlen müssen – damit sie wirklich dabeibleiben.

Erbs Team macht aber nicht nur Angebote – es misst auch ihren Erfolg. Das heißt: Es sucht erst mal Wege, wie das gehen kann. „Die Arbeitsunfähigkeitstage allein bringen uns nicht weiter“, erklärt der Mediziner. „Die erfassen auch Akuterkrankungen wie Grippe, auf die wir nur wenig Einfluss haben. Deshalb entwickeln wir gerade neue Kennzahlen. Wir fragen Mitarbeiter nach Tagen, in denen sie krank bei der Arbeit waren – wir messen also Präsentismus. Dann erfassen wir die Inanspruchnahme der BGM-Maßnahmen und wie zufrieden die Leute damit sind. Außerdem möchten wir – besonders im orthopädischen und psychiatrischen Bereich, also zum Beispiel bei Rückenschmerzen oder Depressionen – den Wiedereingliederungsprozess messen. Wie wir da vorgehen, diskutieren wir aber noch.“

Die Wiedereingliederung in den Betrieb kann schwierig sein, insbesondere wenn die Betroffenen lange zu Hause waren. „Je länger sie raus sind, desto schwerer sind sie wieder zu integrieren“, sagt Erb. Doch Genesende früher wieder reinzuholen scheitert oft an einem alten Dogma, das nicht immer passt, meint Marc Valentin, bei AbbVie für strategische Gesundheitsprojekte zuständig: „Wir alle haben es ganz tief verinnerlicht: Du gehst erst wieder zur Arbeit, wenn du gesund bist. Das ist auch richtig, wenn du eine Grippe hast. Aber für chronisch Kranke kann Arbeit gesund sein. Deshalb ist es wichtig, neue Lösungen zu finden, sodass sich etwa ein Rheumakranker bei einem Schub nicht krankschreiben lassen muss, sondern eben nur sechs oder vier Stunden arbeitet statt acht.“

Mit Partnern nach Lösungen suchen

Im Prinzip ist das banal, jeder kennt es aus eigener Erfahrung: Fliegt man nicht gerade im Delirium mit schillernden Fieber-engeln durch flimmernde Landschaften, sind Krankentage recht öde. Man starrt die Wand an, die man irgendwann viel zu gut kennt, und hat Zeit, über sein Leben nachzudenken. Das kann die Situation durchaus verschlechtern. Valentin weiß das, weil er viel Austausch mit Betroffenen hat: Der 47-jährige Biologe, der Anfang des Jahres zum ersten Mal Vater geworden ist, sucht nach Problemen im Gesundheitssystem, die mit AbbVies Therapiefeldern zu tun haben, und führt anschließend mit den zentralen Beteiligten Projekte durch, in denen Lösungen vorgeführt oder vorgelebt werden.

Valentin kümmert sich unter anderem um die Initiative „Nicht zu ersetzen“, die sich für die Integration chronisch Kranker ins Arbeitsleben engagiert, und außerdem, zusammen mit anderen Kollegen aus dem Innen- und Außendienst des Rheumateams bei AbbVie, um den RheumaPreis – damit zeichnet das Unternehmen, gemeinsam mit vielen Partnern, seit sieben Jahren erkrankte Mitarbeiter und ihre Arbeitgeber für gemeinschaftliche Lösungen ihrer Probleme aus.

Das kommt leider nicht so häufig vor, wie man es sich wünschte. „Die Betroffenen kennen ihre Möglichkeiten oft genauso wenig wie ihre Chefs“, sagt Valentin, „und so sind alle überfordert.“ Einige Muster kehren dabei immer wieder: „Die Betroffenen wollen gern verlässliche Arbeitskräfte sein – aber der Chef versteht sie nicht. Also müssen sie um etwas bitten – aber das wollen sie nicht.“ So entstehen Teufelskreise, aus denen nur schwer auszubrechen ist, weil die Beteiligten sie oft nicht erkennen und Außenstehende nichts davon ahnen. Um daran etwas zu ändern, muss man erst einmal darüber reden.

4. Erlebtes Wissen

Kommunikation ist wichtig. Das sagen alle. Und es stimmt wohl. Aber was bedeutet das? Wenn es so einfach wäre, wenn sich bloß alle zusammensetzen würden, bei einem Kaffee, um einander zu sagen, wie es ihnen geht, was sie wollen und was sie geben möchten, dann hätte längst niemand mehr Probleme.

Melanie Lang, studierte Betriebswirtin, leitet den Bereich Patient Relations – ihr Team ist für die Zusammenarbeit mit Patientenorganisationen zuständig. Es versucht gemeinsam mit Betroffenengruppen herauszufinden, was die Patienten wirklich bewegt, „statt Fragen zu beantworten, von denen wir nur glauben, dass sie der Betroffene hat“.

Also ein Kommunikationsjob? „Nein“, sagt sie, „es ist viel mehr. Man muss es sich erst einmal erarbeiten, dass jeder das Gefühl hat, er könne offen seine Meinung äußern.“ Das sei essenziell, denn „jede Perspektive, die hinzukommt, hilft uns, die Realität besser abzubilden und so unsere Angebote an die Patienten und ihre Angehörigen zu verbessern.“

Melanie Lang wirkt wie alle Gesprächspartner bei AbbVie sehr engagiert, sehr begeistert, sehr dabei. Sie nennt dafür aber auch gute Gründe. „Man trifft in meinem Job auf wunderbare Menschen. Es ist beeindruckend, welche Kraftreserven Betroffene, speziell Patientenvertreter, aktivieren, damit andere Menschen es leichter haben als sie selbst. Und sie teilen dabei etwas sehr Wertvolles: ihr erlebtes Wissen.“

Jutta Ulbrich, die als Mitglied des Managementteams den Gesamtbereich Patientenarbeit leitet, sieht das genauso. „Wenn wir uns mehr Informationen reinholen, statt sie immer nur rauszudrücken – also das Push-Prinzip durch ein Pull-Prinzip ersetzen, um von Patienten zu lernen, zum Beispiel durch die Patientenvertreter in Deutschland –, bewahrt uns das vor Betriebsblindheit“, sagt die Marketingspezialistin. Ulbrich war auch schon in anderen Pharmaunternehmen in patientennahen Bereichen tätig, so konsequent wie AbbVie bezieht aus ihrer Sicht aber kein anderes die Patienten ein. „Bei uns ist das Thema als strategisch wichtiger Unternehmensbestandteil im Managementteam angesiedelt – das gibt es sonst nirgends.“

Einsichten hingegen wachsen auch anderswo. „Allen, die sich länger professionell mit dem Engagement für Patienten beschäftigen, ist über die Jahre klar geworden, dass wir zu oft auf andere Fachleute im Gesundheitswesen hören und zu selten auf Patienten.“ Als Beispiel nennt die 44-Jährige die Packungsbeilagen von Medikamenten. Das Problem kennt jeder: Wenn man eine liest, ist man in der Regel unsicherer als vorher – dabei sollte es genau umgekehrt sein. „Aber wenn Sie Patienten auf so eine Packungsbeilage schauen lassen und fragen, was sie verstehen und was nicht, was sie nicht unbedingt brauchen und was ihnen fehlt – dann können Sie hier sehr viel bewegen.“ Deshalb engagiert sich AbbVie mit anderen Partnern in der „AG Beipackzettel“, die an der Umsetzung von patientenfreundlicheren und verständlicheren Packungsbeilagen arbeitet.

Wissen gilt als der Rohstoff der Zukunft – und Kommunikation soll es zutage bringen. Das ist einfach gesagt, doch es gibt ein grundsätzliches Problem mit solchen großen Begriffen: Je länger man sie anschaut, desto leerer werden sie. Kommunikation. Werte. Führung. Jeder versteht darunter etwas anderes – und alle haben recht, denn es sind nur Worte, die helfen sollen, der Unübersichtlichkeit einen Namen zu geben.

Am Ende bestimmt jedes Gespräch die Kommunikation, so wie jede Entscheidung die Werte definiert und jeder Austausch ein Element der Führung sein kann. Erst die Gesamtheit der Momente erfüllt die Begriffe mit Leben. Sodass am Ende entsteht, was ein weiterer großer Begriff auch nur bezeichnet, aber nicht beschreibt: die Unternehmenskultur. 1000 Momente, geleitet von einer Grundhaltung, die zunächst in der Chefetage existieren muss, entscheiden nachhaltiger über die Gesundheit der Mitarbeiter und des gesamten Unternehmens, als es ein Manifest oder eine Zielsetzung jemals könnte.

AbbVie ist quasi ein Kommunikationskonzern, aber nicht, weil das einer postuliert hat, sondern weil es sich aus den Notwendigkeiten ergibt. „Wir legen großen Wert darauf, das Silodenken auch in der Zusammenarbeit mit anderen Akteuren im Gesundheitswesen zu überwinden“, sagt Philipp Huwe, der für die politische Interessenvertretung zuständig ist – Lobbying nannte man das früher. „Aber das kostet viel Zeit, denn es gibt ein Grundproblem: In Silos – das gilt für die Politik wie für Unternehmen – gibt es Verantwortliche, die ihre Aufgaben immer häufiger nicht allein lösen können. Verlässt man die Silos, lassen sich die Aufgaben in der Regel besser lösen – aber dann ist die Verantwortung nicht mehr klar zuzuordnen, was viele nicht mögen. Also braucht man flache Hierarchien, in denen man Menschen überzeugen muss, was wiederum eine Menge Arbeit macht. Silodenken ist auf jeden Fall bequemer – aber so funktioniert die Welt nicht mehr.“

Das ist die neue Zeit, von der alle sprechen, ohne sie so recht zu erfassen, und in der nun wichtig sein soll, was in der harten Geschäftswelt mit ihren harten Regeln und dem harten Durchgreifen oft immer noch verpönt ist: die weiche, emotionale Kompetenz. „Doch ohne Empathie“, sagt der Betriebsarzt Andreas Erb, „kommen Sie als Führungskraft nicht weit. Sie brauchen eine Einsicht in die Bedürfnisse der Menschen, um neue Ideen überhaupt denken zu können. Erst danach kommen andere Motive hinzu, die Erhöhung der Produktivität oder der Leistungsfähigkeit.“

5. Die Vielfalt

Was soll man sagen? Die großen Worte sind leer, die kleinen banal. Aber das ist das Schöne an erlebten Wissen, insbesondere wenn man es gemeinsam erlebt hat: Man muss es nicht erklären. Und ein Unternehmen ist ein wunderbarer Ort, um etwas gemeinsam zu erleben. Auch weil alles immer weitergeht.

Andreas Erb wird noch lange am BGM basteln. Er sagt: „Drei Dinge sind wichtig, damit das betriebliche Gesundheitsmanagement gelingt: ein klares Commitment der Geschäftsleitung, die Unterstützung der Führungskräfte und ein langer Atem.“ Letzteren müssen sie noch beweisen, denn es gibt noch viel zu tun. Besonders in der Produktion sind Eingriffe sehr schwierig. „Für einen Schichtarbeiter“, sagt der 51-Jährige, „kann es schon ein Problem sein, regelmäßig einen Kurs zu besuchen.“ Deshalb braucht es viele neue Lösungen: Leichtkost-Angebote gibt es jetzt auch online, demnächst sollen Trainer herumgehen, damit die Menschen direkt am Arbeitsplatz etwas für ihre Gesundheit tun können.

Unkonventionelle Ideen sind besonders gefragt. „Normalerweise“, erzählt Andreas Erb, „kommunizieren wir über Intra- net und Sammel-E-Mail, aber beim Thema Männergesundheit haben wir alle Männer im Betrieb per Post angeschrieben, mit einem richtigen Brief. Das hat für Aufsehen gesorgt. Vielleicht werden wir das beim Thema Darmkrebs wieder machen.“

Ein großes Problem bleibt der Stress. In der zweiten betriebsweiten Umfrage, die Ende 2014 durchgeführt wurde, waren viele Verbesserungen erkennbar – nur bei zwei Fragen hatten sich die Werte kaum geändert: Wie empfinden die Menschen ihre Gesundheit? Und wie psychisch belastend empfinden sie ihre Arbeit? An den Stellen etwas zu ändern, wird auch eine Führungsaufgabe sein. Schließlich ist die „Verantwortung für die Gesundheit der Mitarbeiter“ ein Führungsziel, das Alexander Würfel ernst genug nimmt, um es in Umfragen messen zu lassen, damit es in die Leistungsbewertung der Führungskräfte einfließen kann. „Das Wichtigste“, sagt er, „für gesunde Führung ist Wertschätzung.“

Aber das ist natürlich nicht alles. Einmal in der Woche, erzählt der Geschäftsführer, findet ein Management-Treffen statt – im Stehen. „Das ist gesund“, sagt er grinsend, „und es dauert nicht so lange.“ Kommunikation und Bewegung sind eben ein sehr gutes Paar. Stolz ist Würfel auch auf den alljährlichen Abb-Vie-Tag: Da tauschen sich alle Mitarbeiter gemeinsam über ihre Kunden aus, die Kranken, die Betroffenen, die Menschen also, mit ihren Ängsten und Wünschen und ganz individuellen Geschichten. Das könnte ein Tag der Floskeln sein, aber wahrscheinlich ist er das nicht: Dafür kennen in diesem Unternehmen zu viele Leute zu viele Details aus dem echten Leben.

Gerade wurde ein neues Programm auf den Weg gebracht, mit dem Menschen angesprochen werden, die chronisch krank sind und sich beruflich orientieren, zum Beispiel einen Praktikumsplatz suchen. Wenn mehr chronisch Kranke bei AbbVie arbeiten, wird das möglicherweise mehr Aufwand bedeuten, aber vermutlich auch mehr Erkenntnis, sowohl über den Entwicklungsstand der Firma wie über chronische Krankheiten allgemein. Und das ist gut so. „Unser Geschäftsmodell“, sagt Florian Dieckmann, „ist es, Menschen mit chronischen Krankheiten zu helfen oder ihr Leben zumindest zu verbessern. Also ist es für uns ein Wettbewerbsvorteil, solche Leute in der Firma zu haben.“

Der Kommunikations-Chef wirkt, als wäre er für die Firma gemacht und sie für ihn. „Leistungsfähig“, sagt er, „sind Menschen, wenn sie in einem Umfeld arbeiten, in dem sie ihr Potenzial entfalten können. Solche Rahmenbedingungen kann man nicht schaffen, indem man alles regelt.“ Und dann stellt er die Frage, die am Ende vermutlich über den langfristigen Erfolg oder Misserfolg jedes Unternehmens entscheidet: „Haben die Leute morgens Lust, zur Arbeit zu kommen, oder nicht?“ 


Dieser Text stammt aus unserer Redaktion Corporate Publishing.