Erfahrungsberichte: Umgang mit Rheuma, Parkinson, Multiple Sklerose

Rheuma, Parkinson, Multiple Sklerose – nach der Diagnose ist nichts mehr, wie es war. Drei Berichte über ein neues Leben.



Frank Balzer ist Betriebsrat, macht Politik im Kreistag und leitet die Orts- und Landesverbände einer Patientenvertretung.


• Frank Balzer ist seit 30 Jahren krank, er leidet unter Morbus Bechterew, und das ist für seine Firma nicht nur ein Unglück. Denn ihm ist es zu verdanken, dass es im Eisen- und Stahlwerk Eisenhüttenstadt, das zu DDR-Zeiten Eisenkombinat Ost (Eko) hieß und heute zum weltgrößten Stahlkonzern ArcelorMittal gehört, inzwischen sogar in der Produktion ergonomische Arbeitsplätze gibt – dort können die Arbeiter ihren Rücken auf Stehsitzen entlasten. Weil er selbst schwerbehindert ist, hat Balzer Gesundheitsvorsorge zu seinem Fachgebiet gemacht. Er war Schwerbehindertenvertrauensmann und ist seit vielen Jahren Betriebsrat. „Ich weiß doch, wie es Betroffenen geht“, sagt er. „Und ich habe schnell gemerkt, dass es mir hilft, anderen zu helfen.“

Morbus Bechterew ist eine chronisch-entzündliche Erkrankung aus dem rheumatischen Spektrum, die vor allem die Wirbelsäule schädigt. Typisches Symptom ist die Versteifung der Wirbel; im schlimmsten Fall wird der Rücken so krumm und unbeweglich, dass der Betroffene sich nicht mehr aufrichten kann. Zwischen 100.000 und 150.000 Menschen in Deutschland sind der Deutschen Vereinigung Morbus Bechterew e. V. (DVMB) zufolge diagnostiziert, wobei leichtere Verläufe oft unentdeckt bleiben. Die Ursachen der Erkrankung sind noch nicht vollständig erforscht: Derzeit gehen Mediziner davon aus, dass eine genetische Veranlagung und ein Auslöser – wie zum Beispiel schwere seelische Belastung oder eine Entzündung – zusammentreffen müssen, damit die Krankheit ausbricht.

Es ist 1985, kurz vor dem Ende seiner Armeezeit, als Frank Balzer mit dem Moped in strömenden Regen gerät und sich böse erkältet. „Ein paar Tage später konnte ich mich kaum noch rühren“, erinnert er sich. Mit einem fast gelähmten rechten Bein fährt er während eines Manövers noch einen schweren Lastkraftwagen – dann ist Schluss. Er kommt ins Armeelazarett nach Dresden, wird anschließend an der Charité in Ost-Berlin durchgecheckt, und nach drei Monaten steht die Diagnose: Morbus Bechterew mit Gelenkbeteiligung. Bis zu diesem Zeitpunkt lief Balzer Marathon und spielte Fußball. Aus der Armee wird der 21-Jährige krank entlassen. „Das Schlimmste war für mich damals, dass es hieß, Sport wäre für mich von nun an passé“, erinnert er sich.

Wie geplant beginnt Balzer in Wismar Maschinenbau zu studieren. Immer wieder muss er das Studium wegen Klinikaufenthalten unterbrechen. „Ich hatte pausenlos Schmerzen, manchmal konnte ich nur noch kriechen“, erzählt er. Irgendwann kann er den Stoff nicht mehr aufholen. Im Oktober 1987 gibt Frank Balzer das Studium auf.

Das Eisenkombinat in seiner Heimatstadt bietet ihm eine Stelle an. Dort hat er schon nach dem Abitur gejobbt, Koks geschaufelt in der Sinteranlage. Er wird in der Produktionsplanung eingesetzt. Nebenbei beginnt er ein berufsbegleitendes Fernstudium an der kombinatseigenen Betriebsakademie und eine Ausbildung zum Betriebsschlosser. Der Fernstudiengang wird eingestellt, als nach der Wende die meisten Kommilitonen abspringen. Die Ausbildung aber zieht Balzer durch – obwohl er weiß, dass er in dem Beruf nie wird arbeiten können. „Ich wollte einen Abschluss haben“, sagt der 51-Jährige.

Arbeiten, studieren, sich engagieren – das geht

Im Betrieb macht er seine Krankheit zur Aufgabe. Parallel dazu baut Frank Balzer Mitte der Neunzigerjahre in seiner Freizeit die örtliche Gruppe der DVMB auf. 60 bis 70 Bechterew-Patienten leben in Eisenhüttenstadt, allein im Stahlwerk kennt er elf Betroffene, erzählt Balzer. Inzwischen ist er Vorsitzender des Landesverbandes Berlin-Brandenburg.

Sein Büro bei ArcelorMittal darf er für die Verbandsarbeit mitnutzen. Dort stapeln sich Broschüren zu Morbus Bechterew, an der Wand hängt ein Plakat mit dem Bild einer Wirbelsäule. Sein Schreibtischstuhl ist besonders rückenfreundlich, mit Kopfstütze und flexibler Federung. Das Telefon steht bewusst auf einem hohen Pult ganz am Ende des Schreibtischs, sodass Balzer gezwungen ist aufzustehen, wenn es klingelt. Seit 1994 arbeitet er in der Personalabteilung, zurzeit ist er als hauptamtlicher Betriebsrat freigestellt. Berufsbegleitend studiert er an der Technischen Universität in Dortmund „Management und Partizipation“, ein Angebot, das sich an Personalfachleute und Arbeitnehmervertreter richtet.

Balzer hat Glück: Bei ihm verläuft die Krankheit glimpflicher als bei manch anderem. Zwar leidet er wie alle Morbus-Bechterew-Patienten häufig an Schmerzen, vor allem im Liegen, weshalb er nachts nicht durchschlafen kann. Er muss regelmäßig zum Hausarzt, zur Rheumatologin und jede Woche zur Bewegungstherapie. Sind die Schmerzen stark, nimmt er Schmerztabletten, werden sie unerträglich und dauern wochenlang an, hilft nur eine mehrwöchige Kortison-Behandlung, um den Schub zu stoppen. Von solchen wochenlangen Schüben ist er seit 1998 verschont geblieben, seit er einmal pro Jahr zur Radonstollen-Therapie fährt. Seine Wirbel und Gelenke sind noch nicht so steif, dass er nicht mehr arbeiten könnte – und wenn er Glück hat, bleibt das noch lange so. „Nicht jeder Bechterew-Patient wird steif und krumm“, sagt er.

Balzer ist aber auch als Arbeitnehmer in einer privilegierten Position: weil er einen großen Konzern hinter sich hat, mit Betriebsrat, Schwerbehindertenvertrauensleuten, medizinischem Dienst und Fachleuten für Ergonomie. „Wenn in unserem Betrieb jemand krank wird, muss er sich nicht gleich Sorgen um seinen Arbeitsplatz machen“, sagt Balzer.

Er kennt aber auch viele Betroffene, denen es weniger gut geht als ihm. Viele Bechterew-Patienten sind arbeitsunfähig, weil ihr Rücken schon stark verkrümmt ist. Ihnen bleibt nur die Frühverrentung aufgrund von Berufsunfähigkeit. Und dann sind da noch diejenigen, die arbeiten können, aber wegen ihrer chronischen Erkrankung und der daraus resultierenden Behinderung Probleme am Arbeitsplatz haben. Schwierig sei die Situation vor allem in kleinen Betrieben, sagt Balzer. Betroffenen auf Jobsuche rät er grundsätzlich davon ab, ihre Schwerbehinderung im Bewerbungsgespräch von sich aus anzusprechen – solange die Behinderung für die Arbeitsaufgaben nicht relevant ist, sind sie dazu nicht verpflichtet. „Wenn Arbeitgeber den Begriff Schwerbehinderung hören, denken die meisten sofort: ‚Oh Gott, einen solchen Mitarbeiter werde ich nie wieder los‘“, sagt Balzer.

Tatsächlich stellt das Arbeitsrecht Schwerbehinderte unter besonderen Schutz. Als schwerbehindert gilt, wer einen Behinderungsgrad von mindestens 50 hat. Das trifft auf viele chronisch Kranke zu, aber zum Beispiel auch auf Krebspatienten nach einer Operation.

Zuständig für die Einstufung des Behinderungsgrades sind die Versorgungsämter der Kommunen. Schwerbehinderte Arbeitnehmer haben Anspruch auf fünf zusätzliche Urlaubstage pro Jahr und können nur mit Zustimmung des Integrationsamtes entlassen werden. Viele Personalchefs schrecken deshalb davor zurück, Schwerbehinderte einzustellen.

Andererseits sind Betriebe mit mehr als 20 Mitarbeitern gesetzlich verpflichtet, mindestens fünf Prozent ihrer Arbeitsplätze mit Schwerbehinderten zu besetzen. Tun sie das nicht, müssen sie eine sogenannte Ausgleichsabgabe ans Integrationsamt zahlen.

Wenn Frank Balzer von Mitpatienten in seiner Stadt hört, die Probleme im Beruf haben, spricht er auch schon einmal persönlich beim jeweiligen Chef vor und leistet Überzeugungsarbeit. Dabei hilft ihm, dass er bestens vernetzt ist und viele Gesprächspartner bereits kennt: Er leitet nicht nur die Orts- und Landesverbände der DVMB, sondern ist auch stellvertretender Vorsitzender der Bürgerstiftung Eisenhüttenstadt und sitzt für die SPD in der Stadtverordnetenversammlung und im Kreistag. Da lässt sich so manches Problem im Gespräch lösen, zumal er selbst ein gutes Beispiel dafür ist, dass chronisch Kranke durchaus sehr leistungsfähig sind, wenn sie ihre Kräfte einteilen.

Job, Studium und die vielen Ehrenämter: Sein Körper braucht regelmäßige Pausen, wenn er sein enormes Pensum schaffen will, das hat Balzer gelernt. Zum Ausgleich treibt er inzwischen wieder regelmäßig Sport. Er geht rund ums Jahr Laufen und im Winter gern zum Langlauf. Alle ein bis zwei Jahre fährt er zur Reha.

Seine Arbeitstage strukturiert Frank Balzer konsequent: 85 Prozent seiner Zeit verplant er im Voraus, der Rest ist für kurzfristige Aufgaben vorgesehen. „Vorbeugenden Überlastungsschutz“, nennt er das. Ist der Puffer aufgebraucht und kommen kurzfristige Termine dazu, sagt er ab. „Das passiert pro Woche ein- bis zweimal“, sagt er. Dabei helfe ihm, dass er nicht nur sich, sondern auch anderen gegenüber offen eingestehe, dass seine Reserven begrenzt sind. „Ich muss und kann auch mal Nein sagen.“ Auch das ist etwas, was er seit seiner Erkrankung immer wieder geübt hat. Genauso übrigens wie die Kunst des Delegierens: „Ich versuche alle Aufgaben auf mehrere Schultern zu verteilen.“

Michael Melcher wollte eigentlich nie im Büro arbeiten. Jetzt tut er es gern und in Vollzeit.

Mit seinen Kräften hauszuhalten, das hat auch Michael Melcher erst lernen müssen. Den breiten Händen des 43-Jährigen aus Welzow in der Lausitz sieht man an, dass sie zupacken können. Vor rund zehn Jahren noch ist das Zupacken sein Alltag gewesen. Damals arbeitet er als Disponent und Fahrer in einer Spedition, Zwölf-Stunden-Tage sind keine Seltenheit. Am Wochenende baut er an dem Haus für sich und seine Frau oder spielt Fußball im Verein.

Bis er irgendwann mit der linken Hand nicht mehr richtig greifen kann und ständig Schmerzen im Nacken und Rücken hat. Er schiebt es auf die schwere körperliche Arbeit und geht zum Orthopäden. Der testet und therapiert anderthalb Jahre, stellt fest, dass Melcher orthopädisch nichts fehlt, und überweist ihn zum Neurologen. Als Melcher das Sprechzimmer betritt, sagt ihm der Nervenarzt auf den Kopf zu, dass er vermutlich Morbus Parkinson habe. Im Gehirn von Parkinsonpatienten sterben Nervenzellen ab, und es kommt zu Dopaminmangel, dadurch wird die Steuerung der Muskeln gestört. Typische Symptome sind Muskelzittern und starre Bewegungen. Diese glaubt der Arzt bei Melcher zu erkennen. „Ich habe ihn erst mal ausgelacht“, sagt Melcher. „Ich dachte, Parkinson kriegen nur alte Leute.“ Wenige Wochen später, im Januar 2007, bestätigt ein Gehirnscan die Vermutung des Neurologen. Michael Melcher ist da gerade mal 35 Jahre alt.

Die Diagnose stellt sein Leben auf den Kopf. Und er steckt den Kopf in den Sand. „Ich habe mich eingeigelt und von allen Freunden zurückgezogen“, erzählt er. Seinen Chef ruft er an und sagt, dass er nicht mehr kommen wird. Anderthalb Jahre lang ist er krank geschrieben, sitzt zu Hause, liest alles, was er im Internet über Parkinson findet, und macht sich verrückt.

Kurz bevor sein Krankengeld ausläuft, schickt ihn die Krankenkasse zur Reha. Als er dort berufsunfähig geschrieben wird, beschäftigt er sich zum ersten Mal mit der Frage nach seiner beruflichen Zukunft. Die Knappschaft schlägt ihm eine Umschulung zum Bürokaufmann vor. „Einen Job im Büro habe ich mir bis dahin nie vorstellen können“, sagt er. Eine Freundin rät ihm, sich beim Bergbautourismusverein Welzow zu bewerben. Er tut es – und erzählt dem Chef im Vorstellungsgespräch offen von seiner Krankheit. Der Chef lässt sich überzeugen, dass er trotzdem arbeitsfähig ist. „Ich hatte Glück“, sagt Melcher. „Ich war zur richtigen Zeit am richtigen Ort.“ Im August 2008 beginnt er die Umschulung zum Kaufmann für Tourismus und Freizeit. Der Bergbautourismusverein Welzow organisiert unter anderem Touren in den offenen Braunkohlebergbau in der Region. Melcher arbeitet zunächst im Kundenzentrum und inzwischen in der Tourenplanung.

Jetzt hat er einen Job im Büro und fühlt sich wohl damit. Sein Schreibtisch ist höhenverstellbar, sodass er seine Sitzposition stufenlos verstellen kann. Wenn er merkt, dass seine Muskeln sich durch zu langes Sitzen verkrampfen, macht er eine Pause oder arbeitet im Stehen weiter. Alle vier Stunden muss er seine Tabletten nehmen. „Am meisten beeinträchtigt mich das Muskelzittern in der linken Hand“, sagt Melcher. „Zum Glück bin ich Rechtshänder.“

Es gibt Tage, an denen er mittags merkt, dass sein Körper bald nicht mehr kann: Die Muskeln versteifen, das Zittern wird stärker, er wird schlapp und müde. Nicht nur der Chef, auch alle Kollegen wissen, dass er Parkinson hat, und nehmen Rücksicht. Wenn er einmal nicht mehr kann, darf Melcher nach Hause gehen – und bleibt dafür an einem besseren Tag länger. „Vieles ist von der Tagesform abhängig“, sagt er. Eine wichtige Rolle spielt der Schlaf: Wie die meisten Parkinsonkranken hat auch Melcher Schlafstörungen; manchmal schläft er nur vier Stunden pro Nacht.

Langsam lernt er, seinen Körper einzuschätzen – und offen zu sagen, wenn es nicht mehr geht. Das gilt nicht nur für die Arbeit, sondern auch im Privatleben. „Manchmal merke ich am Samstagvormittag, dass es mit der geplanten Radtour oder dem Essengehen nichts wird“, sagt er. Auch das Autofahren ist von der Tagesform abhängig. Sehnsucht nach seinem alten Leben habe er trotzdem nicht, sagt er. „Das ist das Positive an der Krankheit: dass ich aus dem Hamsterrad rausgekommen bin.“

Anderen Mut machen – das treibt an

Michael Melcher arbeitet Vollzeit. Damit ist er unter seinen Mitpatienten eher die Ausnahme. Krankheitsbedingte Probleme im Beruf seien keine Seltenheit, viele hätten es schwer, einen Job zu finden. „Das Problem ist: Jeder, der nicht viel über die Krankheit weiß, denkt bei Parkinson sofort an einen gebrechlichen alten Mann“, sagt Melcher. „Dabei können vor allem jüngere Parkinsonkranke mit ein paar Hilfen sehr leistungsfähig sein. Aber das können sich die meisten Chefs nicht vorstellen.“

Viele Patienten schämen sich für die Krankheit. Vor allem der Tremor, das typische Zittern, sei ihnen peinlich, sagt Melcher. „Das ging mir am Anfang auch so. Ich wollte zum Beispiel nicht im Lokal mit Messer und Gabel essen.“ Er kennt Betroffene, die sich bald nach der Diagnose lieber verrenten lassen, als sich unangenehmen Situationen am Arbeitsplatz auszusetzen. „Für mich wäre das keine Option gewesen“, sagt er. „Arbeit bedeutet ja nicht nur Geld, sondern eine Aufgabe und soziale Strukturen – das bricht mit der Rente alles weg.“

Um anderen jungen Erkrankten Mut zu machen, hat Melcher im Frühjahr 2014 gemeinsam mit drei anderen Parkinsonkranken den Verein „Jung und Parkinson“ gegründet, der ein Forum im Internet betreibt und bundesweit Veranstaltungen organisiert. Zahlen der Deutschen Parkinson Gesellschaft zufolge sind in Deutschland zwischen 250 000 und 280 000 Menschen erkrankt; nur bei fünf bis zehn Prozent von ihnen tritt die Krankheit vor dem 40. Lebensjahr auf. „Mit Mitte 30 bedeutet die Diagnose etwas ganz anderes als mit 70“, sagt Melcher.

Akzeptieren, was ist – das hilft

Frank Balzer und Michael Melcher sieht man ihre Krankheit noch nicht an. Bei Karin Dähn ist das anders. Die 60-Jährige hat Multiple Sklerose und sitzt seit 15 Jahren im Rollstuhl. „Seit 2000 benutze ich ihn auch zu Hause, weil die Beine gar nicht mehr wollen“, sagt sie. Aber wenn sie gefragt wird, wie sie es schafft, trotz ihrer Behinderung als Berufsschullehrerin zu arbeiten, hakt sie ein. „Warum eigentlich trotz Behinderung?“, fragt sie. „Ich lebe und arbeite mit Behinderung und nicht gegen sie. Weglaufen geht nicht.“ Sie sagt es mit einem Funkeln in den Augen, Lebensfreude und Angriffslust liegen darin.

Lehrerin Karin Dähn bei der Arbeit.

Vor 40 Jahren, da ist sie gerade 20 und steckt mitten im Studium zur Diplom-Handelslehrerin, bemerkt sie zum ersten Mal ein Kribbeln in Armen und Beinen, manche Bewegungen gehen plötzlich nicht mehr so flüssig. Sie geht zum Arzt, der Massagen und Vitaminspritzen verordnet. Aber was ihr fehlt, findet jahrelang niemand. Sie beendet ihr Studium, und weil sie im Staatsdienst zunächst keinen Referendariatsplatz bekommt, jobbt sie an der Volkshochschule und einer privaten Wirtschaftsakademie. 1985, sie ist endlich Referendarin, kann sie in der Schule plötzlich die Treppen nicht mehr steigen. Sie kommt zur Untersuchung in eine Nervenklinik, wo die Analyse ihres Nervenwassers den Beleg liefert: Sie hat Multiple Sklerose.

Ein halbes Jahr ist sie krankgeschrieben und grübelt über die Zukunft nach. Ihr Sohn ist vier Jahre alt, sie muss Geld verdienen. Sie erwägt einen Bürojob am Computer. „Aber mir wurde klar, dass ich Lehrerin sein will“, sagt sie. „Ich dachte mir: Wenn ich mal im Rollstuhl sitze, kann ich doch eine Schülerin bitten, für mich etwas an die Tafel zu schreiben. Alles Weitere wird sich schon lösen lassen.“

Genau so sollte es kommen. Sie beendet ihr Referendariat und sucht sich eine barrierefreie Schule – weil sie weiß, dass sie erst Krücken brauchen und früher oder später wahrscheinlich im Rollstuhl sitzen wird. Multiple Sklerose ist eine Autoimmunerkrankung, bei der Nervenbahnen im Gehirn und im Rückenmark zerstört werden, was zu Bewegungs- und Empfindungsstörungen führt.

Die Krankheit, an der laut der Deutschen Multiple Sklerose Gesellschaft (DMSG) in Deutschland etwa 130 000 Menschen leiden, kann schubweise oder langsam fortschreitend verlaufen. Karin Dähn hat nur in den ersten Jahren Schübe. „Damals gab es noch fast keine Medikamente“, sagt sie. „Die Ärzte haben gesagt, ich soll mich bei einem Schub ins Bett legen und warten, bis er vorbei ist.“ Seit vielen Jahren schreitet die Krankheit langsam fort, Schmerzen hat sie keine. Medikamente nimmt sie kaum noch, „nur ab und zu ein paar Vitamine“. Krank war sie schon lange nicht mehr.

Seit 20 Jahren unterrichtet Karin Dähn am Oberstufenzentrum Gesundheit I in Berlin-Wedding Recht und Sozialkunde. „Außer mir gibt es wohl in ganz Berlin nur noch einen anderen Lehrer im Rollstuhl“, sagt sie. Wenn sie am ersten Schultag zu einer neuen Klasse ins Zimmer rollt, stutzen die Schüler zunächst. „Ich sage ihnen dann, dass ich ihnen gerne etwas von mir erzähle, wenn sie interessiert sind. Dann sprudeln die Fragen – und ich antworte auf alles.“

Kämpfen und Spaß haben – das passt zusammen

Hemmungen, über sich und ihre Krankheit zu sprechen, hat Karin Dähn nicht. Sie hat ihr Leben so eingerichtet, dass ihre Behinderung sie so wenig einschränkt wie möglich. Ihr schwefelgelber VW-Passat ist mit Handgas und einer Rollstuhl-Ladehilfe ausgerüstet, sodass sie allein Autofahren kann. Zur Arbeit fährt sie allerdings am liebsten mit dem Handbike. Oft legt sie damit die gesamte Strecke von ihrem Haus in Reinickendorf nach Wedding zurück, manchmal nimmt sie ein paar Stationen die S-Bahn. Ist an einer Station mal wieder der Aufzug kaputt, fährt sie eine Station weiter.

Karin Dähn auf dem Weg zur Arbeit. Sie fährt ihn am liebsten mit ihrem Handbike.

Karin Dähn geht Probleme pragmatisch an. „Vielleicht ist es naiv, aber ich wollte mir nie den Spaß am Leben nehmen lassen“, sagt sie. „Ich war jung, als ich die Diagnose bekam, und dachte mir: Die Krankheit kann mir nichts. Und eigentlich denke ich heute noch so.“

Diese Einstellung zu ihrer MS-Erkrankung hat Karin Dähn in den vergangenen Jahren drei Pokale im Handbike-Fahren eingebracht, diverse Auftritte mit ihrer Rollstuhltanzgruppe und überhaupt einiges an Lebensfreude.

Sie kann sich aber auch sehr ärgern. Über die Diskriminierung von Schwerbehinderten zum Beispiel. Das fängt bei unebenen Gehwegen, zu kurzen Ampelphasen und kaputten Aufzügen an Bahnhöfen an und reicht bis zu strukturellen Benachteiligungen im Arbeitsleben. So wurde Karin Dähn nicht verbeamtet, weil sie schwerbehindert ist. „Wäre ich Beamtin, würde ich etwa 1000 Euro mehr im Monat verdienen“, sagt sie. Im Krankheitsfall bekommt sie als Beschäftigte im öffentlichen Dienst mit altem Vertrag 26 Wochen lang ihr Gehalt weitergezahlt – das ist mehr als die meisten Arbeitsverträge in anderen Berufen vorsehen; Beamte jedoch bekommen bei langen Krankheitsphasen, etwa während einer Krebstherapie, über die komplette Zeit ihr volles Gehalt.

Ihre Erkrankung kostet Karin Dähn nicht nur Geld, sondern auch Zeit und Kraft. Mehr als drei Tage Schuldienst pro Woche schafft sie nicht mehr. Sie muss regelmäßig zum Arzt, zweimal wöchentlich zur Krankengymnastik und einmal pro Woche zur Selbsthilfegruppe, die sie inzwischen leitet; außerdem sitzt sie im Vorstand des DMSG-Landesverbandes Berlin. Ihre Arbeitszeit musste sie deshalb auf zwei Drittel reduzieren. „Das bedeutet für mich weitere 1000 Euro Gehalt weniger“, sagt sie. Von Mittwoch bis Freitag ist sie an der Schule. Der Sonderurlaub, auf den Schwerbehinderte Anspruch haben, ist auf ihre Stundenzahl umgelegt worden. Statt 15 muss sie nur zehn Stunden in der Woche unterrichten.

Obwohl sie sich über ihre finanziellen Einbußen ärgert, weiß sie, dass es ihr vergleichsweise gut geht. Die meisten Teilnehmer ihrer Selbsthilfegruppe sind seit Langem arbeitsunfähig und leben von einer kleinen Rente in oftmals prekären Situationen. Vor allem Geldsorgen seien für viele Betroffene das bei Weitem größte Hindernis dabei, ein möglichst normales Leben zu führen. „Inklusion muss beim Einkommen anfangen“, sagt Karin Dähn.

Wie Frank Balzer hat auch Karin Dähn aus ihrer Krankheit eine Aufgabe gemacht. Sie geht auf jede Demo für mehr Barrierefreiheit und scheut auch Konflikte nicht. „Ein Mensch im Rollstuhl wird immer als hilflos wahrgenommen“, sagt sie, „und als Mensch zweiter Klasse – leider.“


Dieser Text stammt aus unserer Redaktion Corporate Publishing.