Entwickelt wird im Norden, produziert wird im Süden, Mexiko gilt als Werkbank der USA. So war das in der Vergangenheit, aber so muss es nicht bleiben, dachte sich ein Software-Ingenieur in Guadalajara – und startete eine kleine Bildungsoffensive.




1. DIE AUSSICHT

Wie oft hatte er das schon beobachtet? Hunderte Male? Tausende Male? Jorge Vázquez muss nur aus dem Fenster in seinem nüchternen Eckbüro schauen, um an das Problem erinnert zu werden. Über die Kläranlage und die Kakteen hinweg geht sein Blick direkt auf die riesige Montagehalle der Nachbarfirma, deren Dachaufsatz ein wenig aussieht wie ein mexikanischer Sombrero. Drüben werden Modems und Mobiltelefone, Drucker und Netzwerk-Router zusammengesteckt, die Kunden sind große Elektronikunternehmen. Jeden Tag verlassen schwere Trucks mit verchromten Auspuffrohren den Hof und halten Kurs Richtung USA.

Vázquez leitet die Abteilung Produktentwicklung bei Siemens VDO in Guadalajara, im Bundesstaat Jalisco, und es hat Zeiten gegeben, da hat er sich über die Sattelschlepper gefreut, brachten sie Mexiko doch einen gewissen Wohlstand. Inzwischen sind die schweren Lkw für ihn zum Symbol für technologischen Stillstand geworden, und damit mag sich der Ingenieur nicht abfinden. „Wenn wir nur montieren und nicht entwickeln, wandert die Industrie irgendwann ab“, sagt Vázquez. Vor zwei Jahren hat es ihm gereicht. Als wieder ein Laster mit einer Ladung Modems auf den staubigen Camino de la Tijera einbog, beschloss er, etwas zu ändern. Von außen betrachtet, mag es keine große Sache sein: Um das Forschungspotenzial vor Ort zu erhöhen, hat Vázquez einen Universitätskurs für junge Ingenieure auf den Weg gebracht, die in neuen Technologien geschult werden. Rund zwei Dutzend Kandidaten aus dem ganzen Land werden inzwischen ausgebildet. Das ist vielleicht nicht viel. Aber es ist ein Anfang. Und es nützt nicht nur den Unternehmen. Irgendwann, hofft Vázquez, hilft es auch der sozialen Entwicklung des Landes.

2. DAS PROBLEM

Mexiko hat das klassische Dilemma eines Schwellenlandes. Ausländische Unternehmen investieren in Montagehallen, um ihre Produkte vor Ort günstig fertigen zu lassen. Angelockt von den niedrigen Arbeitskosten für die Produktion, ziehen sie im ganzen Land seit Jahren riesige Fertigungshallen hoch. In den Fabriken im Norden Mexikos werden Hosen genäht und Sohlen geklebt, weiter südlich in Guadalajara Mobiltelefone zusammengesteckt und Modems verlötet. Zielland der meisten Produkte sind die USA, fast 90 Prozent der Exporte landen beim reichen Nachbarn im Norden. In der Vergangenheit hat die Arbeitsaufteilung Mexiko hohe Wachstumsraten beschert, allein im vergangenen Jahr verzeichnete das Land ein Plus von 4,7 Prozent.

Das Problem: Die ausländischen Unternehmen nutzen lediglich die niedrigen Arbeitskosten für die Produktion – Forschung und Entwicklung bleiben meist im Mutterland, ein Technologietransfer findet nicht statt. Wenn es mit der Werkbankökonomie so weitergeht, droht Mexiko der technologische Stillstand, befürchtet Jorge Vázquez. Eine Zukunft, mit der er sich nicht abfinden mag: „Wir haben gezeigt, dass wir nicht nur Produkte zusammenschrauben können, sondern auch dazu in der Lage sind, Hochtechnologie zu entwickeln“, sagt er. Seine Initiative soll das beweisen.

3. DIE NEUE KONKURRENZ

Verglichen mit großen Industrienationen, ist Mexiko ein armes Land. Sein Bruttoinlandsprodukt (BIP) beträgt rund 850 Milliarden Dollar, zum Vergleich: Das BIP der USA beläuft sich auf gut 13 Billionen Dollar, fast das Fünfzehnfache, obwohl der Nachbar im Norden nur etwa dreimal mehr Einwohner hat.

Trotzdem ist Mexiko die größte Volkswirtschaft Lateinamerikas und inzwischen die Nummer zwölf in der Welt. Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf erreichte im vergangenen Jahr etwas mehr als 8000 Dollar, Russland oder die Türkei liegen weit drunter. Doch der Wohlstand im Land ist extrem ungleich verteilt. Etwa 25 Prozent der Mexikaner müssen mit weniger als zwei Dollar pro Tag auskommen, die unteren 40 Prozent in der Einkommenspyramide verfügen über nur elf Prozent des Volkseinkommens. Und die mexikanische Wirtschaft durchleidet regelmäßig schwere Krisen. Zuletzt im Jahr 2001, als die Wirtschaftsleistung erheblich zurückging. „Als die Weltökonomie dann wieder anzog, sahen wir dabei zu, wie viele Produktionsstätten von Mexiko nach China umzogen, wo Waren noch billiger hergestellt werden können als bei uns“, erinnert sich Vázquez.

Der chinesische Billiglohnschock traf Mexiko hart: Ende 2002 importierten die USA zum ersten Mal ebenso viele Produkte aus China wie aus dem lateinamerikanischen Land. Seitdem öffnet sich die Schere weiter, trotz direkter Nachbarschaft und Freihandelsabkommen. „Mexiko muss die Wettbewerbsfähigkeit seines Exportsektors verbessern“, mahnt Alejandro Werner, früher Chefökonom bei der mexikanischen Zentralbank, heute bei der Weltbank, in einer Studie, die er mit zwei Kollegen verfasst hat. Doch wettbewerbsfähiger wird der Exportsektor nur mittels moderner Technologie. Die Zeiten, in denen Mexiko als Billiglohnland gegen den Rest der Welt konkurrieren konnte, gehen langsam vorbei.

4. DER SCHLÜSSEL: BILDUNG

Mit einer kleinen Gruppe von Ingenieuren entwickelt und programmiert Jorge Vázquez, was die Branche „Embedded Systems“ nennt. ABS-Bremssysteme, elektronische Schlüsselkarten, Anlasserknöpfe sind ihre Spezialitäten. Embedded Systems ist der Sammelbegriff für die Elektronik und Kleincomputer, ohne die heute kein modernes Fahrzeug mehr auskommt. Der Motor wird mit einem elektronischen Signal gestartet, die Heizungstemperatur reguliert ein Chip, um die Scheinwerfer einzuschalten, befiehlt der Bordcomputer „EnvSwitchLight“. Bis zu 40 solcher Applikationen stecken inzwischen in einem Auto, Siemens VDO in Mexiko hat auf dem Gebiet Fahrzeugelektronik schon einige Patente angemeldet. Damit bilden Vázquez und seine Mitarbeiter eine kleine Avantgarde in der Hochtechnologie.

Es war ein beschwerlicher Weg bis dorthin. Im Jahr 2000, als die Abteilung gegründet wurde, waren sie zu viert, inzwischen umfasst sie 170 Ingenieure, der Bereich Embedded Systems zählt im Land zu einer Schlüsselindustrie. Aber anders als beispielsweise in Deutschland, kann Jorge Vázquez vor Ort nicht einfach junge Ingenieure aus den Hochschulen rekrutieren. Wenn seine Abteilung Spitzenleistungen in Forschung und Entwicklung erbringen soll, muss er sie im Unternehmen erst ausbilden und trainieren.

Denn auch in puncto Bildung ist Mexiko ein Schwellenland. Nur 25 Prozent der 25bis 34-jährigen Mexikaner haben die Sekundarstufe beendet. Damit verzeichnet das Land den niedrigsten Wert bei den Sekundarabschlüssen der OECD-Länder in dieser Altersgruppe. Zwar hat der mexikanische Staat reagiert, der Anteil der Bildungsausgaben an den öffentlichen Ausgaben liegt gegenwärtig bei 23 Prozent und damit weit über dem OECD-Durchschnitt von 12,7 Prozent. Aber bis die ersten gut ausgebildeten Jahrgänge die Oberschulen verlassen, wird es noch dauern.

Dennoch ergibt sich in der höheren Bildung schon ein anderes Bild. An den Universitäten steigt die Zahl der Studierenden, die Ausbildungsinstitute bieten oft eine Top-Lehre an. So genießt beispielsweise die Autonome Universität Mexikos (UNAM) in Lateinamerika einen vorzüglichen Ruf. Als eine von drei lateinamerikanischen Universitäten brachte sie es beim Ranking des Times Higher Education Supplement im vorigen Jahr auf einen Platz unter den Top 200. Und während die Seminare in Disziplinen wie Physik oder Mathematik leer bleiben, füllen sich die Hörsäle der Ingenieure. Jedes Jahr verlassen fast so viele Ingenieure die Hochschulen Mexikos wie die der Vereinigten Staaten, heißt es stolz in der Bildungsbehörde des Bundesstaats Jalisco.

Für den technologischen Schub, den das Land so dringend braucht, reicht es dennoch nicht. Zudem können die Universitäten zurzeit unmöglich alle Bereiche der Ausbildung abdecken, die Mexiko für die Aufholjagd benötigt. Insbesondere die neuen Technologien kommen zu kurz, allen voran die Embedded Systems, für Jorge Vázquez ist das ein ständig spürbares Problem. Ehe ein Hochschulabsolvent in seiner Entwicklungsabteilung bei Siemens VDO richtig einsteigen kann, muss er ein Jahr lang mehrere Trainingsprogramme durchlaufen. Das kostet Geld – vor allem aber wertvolle Zeit.

5. DIE INITIALZÜNDUNG

Der entscheidende Impuls kam aus einem fast verlassenen Kaufhaus an der lärmenden Avenida López Mateos im Südwesten von Guadalajara, das heute junge Computerfirmen beherbergt. Die Fassade ist blau gestrichen, im Erdgeschoss sind fast alle Geschäfte geschlossen, der Springbrunnen ist ohne Wasser, das Licht gedämpft. Über eine spiralförmige Treppe geht es in den zweiten Stock zum Software-Zentrum. Hier sitzt in einem fensterlosen Büro Margarita Solis. Sie ist Direktorin der halbstaatlichen IT-Agentur von Jalisco (Ijalti).

„Wenn man technologisch weiterkommen will, muss man seine Chancen suchen“, sagt die 39-Jährige. Solis ist eine Strategin. Sie spricht durchdacht und präzise, bringt die Dinge schnörkellos auf den Punkt. Die Hightech-Branche der Region hat sie genau im Auge. Seit 1962 zieht es Elektro-Unternehmen nach Guadalajara. Damals kam Siemens, 1968 Motorola, 1975 IBM, noch als Hersteller von Schreibmaschinen, heute von Computern. Die Stadt hat mit der Entwicklung Schritt gehalten. Aber auf der Stelle treten und sich mit dem Erreichten zufriedenzugeben, ist die Sache von Solis nicht.

Schon gar nicht in einer Zeit rasanter Veränderungen. Also hat Solis nach neuen Marktnischen für die Elektroindustrie von Guadalajara gefahndet. Drei Bereiche kristallisierten sich als Wachstumsmärkte heraus: Entwicklung und Test von Software und Firmware, Multimedia und Animation und Embedded Systems. 30 Prozent der Industrie-Exporte des Landes entfallen auf den Automobilsektor, heißt es in der abschließenden Studie der Ijalti-Direktorin. Doch gerade hier fehlt es an Spezialisten. Die logische Konsequenz: „Kapazitäten schaffen.“ Schon gar nicht in einer Zeit rasanter Veränderungen. Also hat Solis nach neuen Marktnischen für die Elektroindustrie von Guadalajara gefahndet. Drei Bereiche kristallisierten sich als Wachstumsmärkte heraus: Entwicklung und Test von Software und Firmware, Multimedia und Animation und Embedded Systems. 30 Prozent der Industrie-Exporte des Landes entfallen auf den Automobilsektor, heißt es in der abschließenden Studie der Ijalti-Direktorin. Doch gerade hier fehlt es an Spezialisten. Die logische Konsequenz: „Kapazitäten schaffen.“

6. DIE KOOPERATION

Der Rest der Geschichte ist schnell erzählt, auch wenn sich dahinter viel Zeit und Überzeugungsarbeit verbirgt. Jorge Vázquez, der die Studie und seinen eigenen Bedarf zur Genüge kennt, wendet sich an Luis Leyva, den Direktor des Cinvestav in Guadalajara. Das Cinvestav ist ein staatlicher Forschungsverbund, mit neun Instituten im ganzen Land. Das Zentrum für fortgeschrittene Studien, in dem unter anderem die Bereiche Metallurgie, Bergbau und Keramik angesiedelt sind, liegt in der Region um Saltillo im Norden, das Institut für die genetische Erforschung von Nutzpflanzen in der Agrarregion um Irapuato, das für die Erforschung der Meere in der südlichen Küstenstadt Mérida. In Guadalajara befasst sich Luis Leyva mit Elektrotechnik. Für Hewlett-Packard testen die Ingenieure dort die Firmware der Drucker, für AT&T entwickelten sie einen Router.

Vázquez und Leyva beschließen, die von Margarita Solis geforderten Kapazitäten im Bereich der Embedded Systems zu schaffen. Konkret planen die beiden einen Spezialisierungskurs für Universitätsabgänger. Der Wissenschaftler stellt die Professoren, Vázquez und seine Kollegen konzipieren den Lehrplan. Für die Finanzierung wird der Leiter der Produktentwicklung von Siemens VDO im Wirtschaftsministerium vorstellig, wo es einen Fonds für Ausbildungsprojekte gibt. Seine Argumente überzeugen, allen voran die Marktperspektiven: Allein im Automobilsektor für die USA wird der Bereich Embedded Systems auf zehn Milliarden Dollar jährlich geschätzt. Kurz vor Weihnachten 2006 kommt die gute Nachricht: Die Regierung steuert vier Millionen Pesos bei, etwa 250000 Euro, das Projekt kann starten.

Der erste Ausbildungskurs beginnt im Juni 2007, Embedded Software steht auf dem Programm, außerdem das Thema Datenfunk. Die rund zwei Dutzend jungen Ingenieure, die dank der zielgerichteten Kooperation aller Beteiligten daran teilnehmen, kommen aus ganz Mexiko, die Ausbildung steht allen Hochschulabsolventen mit Ingenieursdiplom offen. Sie müssen nur den Aufnahme-Test bestehen, Studiengebühren fallen nicht an. Im Dezember 2007 startete der erste Jahrgang in die Praxis, der Abschluss, die „Especialización“ entspricht einem Postgraduierten-Zeugnis.

7. DIE VISION

Auf seinem Schreibtisch breitet Luis Leyva eine Karte von Guadalajara aus, sein Institut hat sie in Auftrag gegeben. „Guadalajara – Metropole der Elektronik“, steht darüber. Die Karte ist ein Mosaik vieler kleiner Firmennamen und Karikaturen. Im Süden ist das Cinvestav eingezeichnet, Leyva steht daneben, mit Igelfrisur und randloser Brille. Im Südosten liegen die Hallen von Siemens VDO, davor Jorge Vázquez mit großer Brille, einem Papierstapel in der Hand und einer Aktentasche, die er tatsächlich immer bei sich trägt. Etwas weiter Richtung Stadtzentrum liegt das Software-Zentrum, daneben Margarita Solis, mit Laptop unter dem Arm. Überall sind kleine Rechtecke, Kodak, Texas Instruments, IBM, Hitachi, Intel.

Das „Silicon Valley von Mexiko“ nennt sich Guadalajara selbstbewusst. Vielleicht zu selbstbewusst für eine Stadt, die nach Abgasen stinkt, und für eine Region, die in erheblichem Umfang von der Agrarindustrie lebt. Auch Leyva weiß, dass die Forschung niemals komplett die Montage wird ersetzen können. Trotzdem sagt er: „Wir suchen nach Möglichkeiten, die Region als Forschungsstandort weiterzubringen.“

Diese Vorstellung treibt auch Jorge Vázquez an, und dafür nimmt er persönlich einiges auf sich. Es ist 20.30 Uhr, Feierabend im Büro, er macht sich auf den Weg, im Software-Zentrum warten sie schon. Siemens VDO unterstützt die Kammer der Elektro- und Telekommunikationsunternehmen in Bildungsfragen, Vázquez investiert darüber hinaus auch viel Freizeit in das Thema. Seine beiden Töchter sieht er während der Woche meist nur morgens, wenn er sie zur Schule fährt. Sie kennen es nicht anders, der Vater denkt über die Familie hinaus. „Ich glaube, man kann Dinge verändern. Ich war nicht auf einer Privatschule, es war für mich kein einfacher Weg in meine Position. Deshalb möchte ich mit unseren Initiativen dem einen oder anderen eine bessere Zukunft ermöglichen“, sagt Vázquez. Das ist seine ganz private Form der Entwicklungshilfe, um das Land in eine neue Zeit zu lenken. Kann schon sein, dass sein Wirkungskreis begrenzt ist. Aber es ist ein Anfang.


Dieser Text stammt aus unserer Redaktion Corporate Publishing.