Der Egoismus ist Erbe der Evolution. Er sichert das Überleben von Individuum, Gemeinschaft und Gattung. Das ist Konsens. Doch auch die Fairness hat eine genetische Basis. Mit dieser Erkenntnis hat sich der Mensch lange schwergetan. Warum? Weil Altruismus verkappter Egoismus ist. Es lohnt sich langfristig, fair zu sein. Das passt zwar nicht allen Selbstlosen ins Selbstbild, macht biologisch aber Sinn.




1. DER GUTE DRILLPAVIAN

Für die ersten Menschen in der ostafrikanischen Savanne ist der Fall klar: Leben heißt Kampf ums Überleben. Die stärkere Rotte setzt sich gegen die schwächere durch. Innerhalb des eigenen Sozialverbandes steigt der Stärkste an die Spitze. Er ist sexuell der Attraktivste und vermehrt sich am häufigsten. Über Tausende Generationen hat sich das Recht des Stärkeren in das menschliche Erbgut eingebrannt. Aggression und Egoismus sind ein Erbe der evolutionären Selektion – angelegt, die Gattung Mensch zu erhalten und voranzubringen. Das ist nicht weiter neu und seit Darwin in der Forschung unstrittig. Wissenschaftshistorisch komplexer verlief die Debatte zur Frage: Ist der Mensch von Natur aus gut? Präziser formuliert: Gibt es eine genetische Basis für faires, hilfsbereites oder gar selbstloses Verhalten? Hierzu ein kurzer Ausflug ins Reich der wilden Tiere.

Ein Rotkehlchen, das einen Habicht im Anflug bemerkt, duckt sich und stößt einen bestimmten Pfiff aus. Damit warnt es seine Artgenossen, lenkt gleichzeitig die Aufmerksamkeit des Raubvogels auf sich und landet mit hoher Wahrscheinlichkeit in dessen Schnabel. Bei den afrikanischen Drillpavianen, auch Hundsaffen genannt, läuft es ähnlich: Einer warnt mit unterschiedlichen Schreien die Kollegen, je nachdem, ob sich die Gefahr auf dem Boden nähert – etwa in Gestalt eines Leoparden – oder durch fliegende Feinde aus der Luft. Dabei setzt der schreiende Hundsaffe genau wie das Rotkehlchen sein Leben aufs Spiel. Immerhin haben beide Warner theoretisch eine Überlebenschance. Die nackte Maulwurfsratte dagegen stirbt unweigerlich, wenn sie zum Schutz der Sippe mit ihrem Körper den Tunnel verstopft, in den eine Schlange eingedrungen ist.

Ebenfalls seit Darwin wissen wir, dass scheinbar selbstloses Verhalten in der Natur nichts mit bewusster Hilfsbereitschaft des Individuums zu tun hat, sondern ein Ergebnis der evolutionären Selektion ist. Eventuelle Ausnahme: der Menschenaffe. Arten, die wie Rotkehlchen einen Instinkt zum Warnschrei herausbilden, haben im Verdrängungswettbewerb um Lebensraum und Ressourcen bessere Überlebenschancen. Der Altruismus der Arterhaltung findet über die Generationen Eingang ins genetische Programm der Spezies. Ein Hundsaffe kann gar nicht anders als schreien, wenn er den Leoparden sieht. Er schreit auch, wenn seine Horde gar nicht in der Nähe ist oder wenn er, von seinen Artgenossen getrennt, von Menschen aufgezogen wurde.

Gute Tiere, böses Tier

Die Gattung Mensch zeigte immer ein großes Bedürfnis, sich vom Instinktverhalten der „guten Tiere“ zu distanzieren und zu betonen, dass unsere edlen Seiten reine Produkte unserer Kultur sind – wie eben die Fähigkeit, nicht den Instinkten zu folgen, sondern nach Normen zu handeln, die wir als moralisch definieren. Thomas Hobbes sah im Leviathan den Menschen im ständigen Kampf gegen die eigene Natur. „Denn jene Tugenden – Gerechtigkeit, Gleichheit, Bescheidenheit, Barmherzigkeit, kurz alles, was mit dem Satz zusammengefasst werden könnte: Handle deinem Mitmenschen gegenüber so, wie du wünschest, dass auch an dir gehandelt werde – laufen unseren natürlichen Trieben zuwider; denn diese führen uns ohne Zwang einer höheren Gewalt zu Parteilichkeit, Stolz, Rachsucht und dergleichen.“ Konrad Lorenz erkannte im Menschen ein besonders bösartiges Tier.

2. DAS EMPATHIEGEN

Der Mensch ist das sozial komplexeste Wesen. Der populärwissenschaftlich beliebte Übertrag von Verhaltensmustern aus der Tierwelt zur Erklärung menschlichen Verhaltens fällt immer platt aus. Wenn unfruchtbare Kriegerameisen bis in den Tod kämpfen, um die fruchtbare Königin zu retten, dann reagieren sie, wie es ihre DNS ihnen befiehlt. Damit ist keine Erkenntnis über das menschliche Miteinander gewonnen. Und dennoch gibt es eine entscheidende Parallele zwischen Altruismus in der Tierwelt und Fairness unter Menschen. Kooperatives Verhalten findet Eingang in den genetischen Code der Gattung, wenn es sich für das Individuum, die soziale Gemeinschaft oder die Gattung lohnt. Die entscheidende Frage der „Evolution der Fairness“ lautet also: Hat die Hilfsbereitschaft des Menschen eine genetische Basis erworben, weil der Altruismus – wie für Rotkehlchen, Hundsaffen oder Maulwurfsratten – für den Menschen ein Überlebensfaktor ist? Seit den achtziger Jahren mehren sich genau hierfür die Zeichen in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen.

Zum Beispiel in der Kinderpsychologie. Diese Zunft ging lange davon aus, dass Kinder bis zum Alter von sechs oder sieben Jahren kein selbstloses Handeln kennen, weil ihnen das Verständnis fehle, sich in andere Menschen hineinzudenken und mit ihnen zu fühlen. Dies würde bedeuten, dass die Empathie, also die Fähigkeit sich in die Gefühlswelt eines anderen zu versetzen, eine rein kulturelle Leistung ist – und keine genetische Anlage des Homo sapiens. Dahinter ist ein dickes Fragezeichen zu setzen.

In den siebziger Jahren nämlich belegten Studien am Institute of Mental Health in Bethesda bei Washington D.C., dass Einjährige Zeichen der Bekümmerung zeigen, wenn ihre Mutter weint. Aktuelle Studien am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig beweisen, dass bereits zwölf Monate alte Kinder Erwachsenen helfen wollen. Im Laborversuch spielten die Forscher den Babyprobanden ein kleines Schauspiel vor: Forscher A hantiert vor den Augen des Kindes mit einem Gegenstand, der für die kleine Testperson uninteressant ist, zum Beispiel einem Locher. Dann verlässt er den Raum. Forscher B versteckt den Locher unter einer Schachtel und geht ebenfalls hinaus. Forscher A kommt wieder herein und beginnt irritiert im Raum herumzuschauen. Etwa 20 Prozent aller Einbis Anderthalbjähriger zeigen in dieser Situation mit dem Finger auf die Schachtel. Kritiker der These von der genetischen Fairness wenden ein: Diese Muster sind bereits sozial erlerntes Verhalten. Schließlich werden Kinder von Geburt an getröstet, wenn sie selbst weinen. Und wenn sie nach etwas schauen, deuten die Eltern in die richtige Richtung. Kleinkinder könnten dieses Verhalten bereits sehr früh kopieren.

Lautes Rauschen, ethisches Verhalten

Dem widersprechen Versuche des Sozialpsychologen Martin L. Hoffmann mit Neugeborenen an der City University of New York. Säuglinge weinen schon an ihrem ersten und zweiten Lebenstag mit, wenn sie andere Kinder weinen hören. Dabei stört sie nicht der Lärm im Nachbarbettchen: Spielt Hoffmann den Babys ein gleich lautes Rauschen oder eine Bandaufnahme vom eigenen Weinen vor, zeigen sie keine oder zumindest weniger Reaktion. „Einfühlungsaktivierung“ nennt Hoffmann die Reflexreaktion auf den Kummer von anderen Kindern. Seine Interpretation: Die Einfühlungsaktivierung ist eine angeborene Reaktion. Beim Säugling ist ein genetisches Rohmaterial vorhanden, aus dem sich durch Sozialisation das Einfühlungsvermögen entwickelt – und in der Folge ethisches Verhalten.

Hinweise für die Erblichkeit von Hilfsbereitschaft liefert auch die Zwillingsforschung. Eineiige Zwillinge besitzen identisches Erbgut. Abweichendes Verhalten kann also nicht genetisch bedingt sein, sondern seine Ursache ausschließlich in der sozialen Prägung haben. Bei zweieiigen Zwillingen hingegen stimmt, wie bei gewöhnlichen Geschwistern, nur rund die Hälfte der Gene überein. Vergleicht man das Verhalten von eineiigen Zwillingen systematisch mit dem von zweieiigen, lassen sich daraus statistische Schlüsse über den Einfluss der Gene auf das menschliche Verhalten ziehen. Der Psychogenetiker J. Philippe Rushton von der University of Western Ontario hat mit diesem Ansatz das altruistische Engagement von Zwillingen untersucht. Anfang der achtziger Jahre entwickelte er einen Fragebogen, der spontane Hilfsaktionen wie das Anschieben von Autos bis hin zu regelmäßigem Helfen im Ehrenamt qualitativ und quantitativ erfasste. Er verschickte ihn an rund 600 Zwillinge, von denen jeweils die Hälfte einbeziehungsweise zweieiig war. Frappierendes Ergebnis: 50 Prozent des gemessenen altruistischen Verhaltens war den Genen geschuldet. Nur die Hälfte ließ sich nach statistischem Befund auf Erziehung und Umwelt zurückführen.

3. VON FLEDERMÄUSEN ZU POWERSELLERN

Die Evolution überlässt bekanntlich wenig dem Zufall, sondern funktioniert nach der Logik des Profits für Art und Individuum. Als wichtigen Faktor für den erfolgreichen Weg der Selbstlosigkeit in die DNS haben Psychologen, Soziobiologen und Verhaltensforscher ein Phänomen identifiziert, das sie „reziproken Altruismus“ nennen – die biologische Variante des Prinzips „Eine Hand wäscht die andere“. Wer kooperiert, profitiert. Kooperation wird zum Kriterium der natürlichen Zuchtwahl. Aus evolutionärer Sicht gelten hier für Mensch und Tier dieselben Regeln. Es lohnt sich zu kooperieren, wenn der Aufwand, den ich für die Hilfe treiben muss, geringer ist als der Nutzen, den ich aus der Zusammenarbeit ziehe.

Spendable Geber, enttarnte Schmarotzer

Auch hier eine kurze Expedition ins Tierreich. Gibst du mir, gebe ich dir – dieses einfache Prinzip findet in der Natur mitunter eine sehr komplexe Ausgestaltung. Eines der spannendsten Beispiele für reziproken Altruismus entdeckte der Biologe Gerald Wilkinson in Costa Rica. Mittelamerikanischen Vampirfledermäusen gelingt es bei ihren nächtlichen Streifzügen nicht immer, ein größeres Opfer zu finden, von dessen Blut sie unbemerkt trinken können. Alte Fledermäuse verstehen ihr Handwerk besser. Nur jede zehnte Nacht gehen sie leer aus. Unerfahrene Artgenossen hingegen kommen oft nur in jeder zweiten Nacht in den Genuss, einem Säugetier Blut abzunehmen. Bleiben Vampirfledermäuse zwei Nächte in Folge ohne Beute, wird es lebensgefährlich. Nach 60 Stunden ohne fremdes Blut verhungern sie.

So vom ständigen Hungertod bedroht, haben die Fledermäuse die Angewohnheit entwickelt, immer mehr Blut als nötig zu saugen – sofern sie die Gelegenheit dazu haben. Den Überschuss können sie herauswürgen und einem Tier spenden, das kein Jagdglück hatte. Genau das praktizieren die Vampirfledermäuse unabhängig davon, ob Geber und Nehmer miteinander verwandt sind. Damit Geben und Nehmen aber in einem fairen Verhältnis bleiben, haben Vampirfledermäuse ein erstaunlich gutes Gedächtnis entwickelt, welches Tier sich spendabel zeigt und welches nicht. Wilkinson konnte nachweisen, dass großzügige Fledermäuse bevorzugt behandelt werden, wenn sie selbst in einer Blutnotlage sind. Zudem verfügt die Spezies über einen raffinierten Kontrollmechanismus, Schmarotzer zu enttarnen. Vampirfledermäuse putzen sich gegenseitig, indem sie sich das Fell ablecken. Mit besonderer Sorgfalt geschieht das in der Magengegend. Ein gut gefüllter Bauch bleibt der Gruppe somit nie verborgen. Für Vampirfledermäuse gilt daher, was auch auf Verkäufer bei Internetplattformen zutrifft: Es lohnt sich materiell, sich einen guten Ruf zu erwerben. Mit den allzu Cleveren möchte niemand zusammenarbeiten, denn ihnen kann man nicht trauen.

Lässt sich hieraus eine genetische Veranlagung zur Hilfsbereitschaft ableiten? Der Evolutionsbiologe Robert Trivers, der den Begriff des reziproken Altruismus prägte, beantwortet diese Frage mit einem klaren Ja. In den vergangenen fünf Millionen Jahren hat seiner Einschätzung nach „eine scharfe Selektion zugunsten der Entwicklung reziprok altruistischer Verhaltensweisen stattgefunden“. Stämme, die besser kooperierten, setzten sich langfristig durch. Es nützt einer Gruppe, wenn sich in ihr eine bestimmte Anzahl von Menschen befindet, die kooperativ handeln.

4. HOMO RECIPROCANS

Das weist auf verschiedenen Ebenen auch der Züricher Ökonom Ernst Fehr mit seinen spieltheoretischen Experimenten nach. Der Wissenschaftler und seine Mitarbeiter führen sie am Institut für Empirische Wirtschaftsforschung mal im Labor, mal im Affenkäfig und mal unter dem Kernspintomografen durch. Fehr hat Ökonomen, Psychologen, Neurologen, Philosophen und Anthropologen in einem Sonderforschungsprojekt „Altruismus versus Egoismus“ zusammengebracht. Gemeinsam entwarfen sie ein Gegenbild zum in den Wirtschaftswissenschaften nach wie vor dominierenden Image vom menschlichen GewinnMaximierer – dem Homo oeconomicus. Homo reciprocans nennen die Schweizer ihre Modellvorstellung vom Menschen. Ein zentrales Ergebnis der Forschung: Die meisten kooperieren, wenn sie sehen, dass andere kooperieren. Und die Mehrheit ist bereit zu zahlen, um Egoisten für unkooperatives Verhalten zu bestrafen. Genauer: Der Mensch ist bereit, Kosten zu tragen, um andere Menschen zu fairem Verhalten zu zwingen, selbst wenn er unmittelbar keinen Vorteil davon hat. Der Grund ist biochemischer Natur. Dem Homo oeconomicus machen die eigenen Gefühle – also mindestens zum Teil genetisch codierte biochemische Prozesse im Gehirn – immer wieder einen Strich durch die rationale Rechnung.

Unfaires Verhalten, emotionale Belohnung

Fehrs Paradebeispiel hierfür ist das sogenannte Ultimatum-Spiel. Der Spielleiter schenkt dabei einem Spieler A 100 Euro – unter einer Bedingung: Er muss Spieler B einen Teil davon abgeben; wie viel, bleibt ihm überlassen. Lehnt Spieler B das Angebot allerdings ab, gehen beide leer aus. Wäre B ein Homo oeconomicus, würde er ohne Wenn und Aber dem Prinzip der Gewinnmaximierung folgen. Er nähme selbst ein Angebot von nur einem Euro an, wenig zwar, aber zweifellos besser als nichts.

In Wirklichkeit passiert das fast nie. Bietet A seinem Mitspieler weniger als ein Drittel der Gesamtsumme, lehnt der das Angebot fast immer ab. Die Offerte wird als unredlich wahrgenommen, die innere Bilanz fällt anders aus als die rein monetäre. Tatsächlich rächt sich B lieber am unsportlichen Bieter, denn der alte Satz „Rache ist süß“ hat ein wissenschaftliches Fundament: Unfaires Verhalten zu bestrafen wird vom Gehirn mit Glücksgefühlen belohnt. Zum Nachweis lässt Fehr das Ultimatum-Spiel unter dem Kernspintomografen spielen. Unfaire Angebote aktivieren die Gehirnregionen, die für Ärger, Schmerz und Abscheu zuständig sind. Während die rationalen Teile des Gehirns noch kalkulieren, werden die Hirnareale aktiv, die emotionale Belohnung verheißen. Sie senden die Botschaft: „Räche dich, dann fühlst du dich gut!“ Lehnt der Spieler ab, wird der Nucleus Accumbens aktiv, das Belohnungszentrum im Hirn.

Viele Egoisten, keine Kooperation

In einer anderen Versuchsanordnung führt genau dieser Mechanismus zu mehr Kooperation unter den Spielern. Die Spieltheoretiker nennen den Versuch das „Öffentliche-Gut-Spiel“. Dabei soll herausgefunden werden, unter welchen Bedingungen Menschen bereit sind, langfristigen Erfolg der Gemeinschaft vor kurzfristigen Gewinn des Einzelnen zu stellen. Das „Öffentliche-Gut-Spiel“ geht über zehn Runden. Zehn Spieler bekommen zunächst je 100 Euro. In allen Runden können die Akteure selbst entscheiden, welchen Betrag sie in einen Gemeinschaftstopf zahlen wollen. Der Spielleiter verdoppelt nach jeder Runde den Betrag im Pott und schüttet ihn dann gleichmäßig an alle aus. Das heißt im Umkehrschluss: Egoisten, die nichts einzahlen, profitieren zunächst am stärksten. Es hat schon Gruppen ohne einen einzigen Egoisten gegeben – dann wird es schnell für alle sehr profitabel. Sitzen hingegen Egoisten mit am Tisch, und seien es auch nur wenige, dann machen die Fairen schnell Verluste. Nach spätestens drei Runden – so zeigte die Versuchsreihe – ist Schluss mit Kooperation. Keiner zahlt mehr in den Gemeinschaftstopf.

Das ändert sich radikal, wenn die Spielregeln um einen Strafzoll erweitert werden, den die Fairen von den Egoisten verlangen können. Dann gewinnen die Kooperativen nach drei bis vier Runden die Oberhand. Und alle kooperieren. Übersetzt auf die ökonomische Wirklichkeit heißt das: Wir sind bereit zu zahlen, um andere zur Kooperation zu zwingen, weil wir wissen, dass es uns langfristig nützt. Und wie im Züricher Labor ist das oft eine Frage der kritischen Masse. Menschen tun viel dafür, dass andere sich ebenfalls fair verhalten. Wenige Egoisten aber können Kooperation verhindern. Es sei denn, man definiert Spielregeln, die dem entgegenwirken.

5. DER RATIONALE NARR

Der Selbstlose hilft, weil er sieht, dass Hilfe nötig ist, und nicht weil er profitieren möchte. Die Geschichte der Menschheit ist voll von Beispielen des wahren Altruismus. Vieles spricht allerdings dafür, dass der selbstlose Mensch „Opfer“ von Gefühlen ist, die sich in der Natur zu einem anderen Zweck herausgebildet haben. Interessant in diesem Zusammenhang: Wir helfen, weil wir uns danach gut fühlen. Doch emotional profitieren wir am meisten von der eigenen Großzügigkeit und Hilfsbereitschaft, wenn wir den psychologischen Eigennutz als Motiv komplett verdrängen. Psychologen nennen dieses Phänomen das „Altruismus-Paradox“.

Reicht die Einsicht, dass keine Bluttransfusionen mehr möglich wären, wenn alle zu bequem zum Spenden wären? Bei vielen Menschen ist das sicher so. Doch gerade bei Blutspendern ist eines auffällig: Sie teilen ihre Spendebereitschaft gern oft beiläufig mit. Dafür bekommt keiner das Bundesverdienstkreuz, und das erwartet auch niemand. Doch das Prinzip „Tue Gutes und rede darüber“ ist keine Erfindung amerikanischer CSR-Berater, sondern ein uraltes Signal an die Umwelt: Schau her, ich bin ein guter Kooperationspartner.

Faire Urgesellschaft, nützlicher Eigensinn

Der Schweizer Wirtschaftswissenschaftler Ernst Fehr ist davon überzeugt, dass unsere hochkomplexe Marktwirtschaft nur entstehen konnte, weil die Fairness im Menschen seit der Frühzeit angelegt ist. „Faire Urgesellschaften haben die wirtschaftliche Entwicklung des Menschen auf den Weg gebracht“, sagt er. Und ist überzeugt: Ohne einen biologisch verankerten Sinn für Fairness wäre der Mensch bereits am Tauschhandel in der Jungsteinzeit gescheitert.

Der biologische Kern der menschlichen Hilfsbereitschaft bleibt der weitsichtige Eigensinn. Blutspender – diesmal sind Menschen und nicht Fledermäuse gemeint – geben ihr Blut dem Roten Kreuz kostenlos. Sie kommen auch auf keine Liste, über die sie im Fall einer nötigen Bluttransfusion bevorzugt behandelt werden. Der einzelne Spender hat also kein materielles Interesse, die Unannehmlichkeiten des Blutspendens auf sich zu nehmen.

Die Triebfeder des Kapitalismus ist der Eigensinn. Wettbewerb und Leistung, das hat die Geschichte des 20. Jahrhunderts eindeutig entschieden, bilden die zurzeit einzig praktikable Basis für ein ökonomisch funktionierendes Gemeinwesen. Doch Eigensinn und Gemeinsinn sind keine sich widersprechenden Prinzipien. Im Gegenteil: Der Gemeinsinn kann sich den Eigensinn zunutze machen. Der Berliner Autor und Philosoph Wilhelm Schmid unterscheidet zwischen „dummem und klugem Egoismus“ – und er warnt die Eigensinnigen vor der eigenen Kurzsichtigkeit: „Wer ausschließlich sich selbst betrachtet, hat keine Freunde, findet keinen Partner, macht keine Karriere. Kluge Egoisten hingegen begreifen, dass sie andere Menschen brauchen. Wirklich reich im Leben werden wir nie durch uns selber, nur durch andere. Deshalb ist es kluger Egoismus, sich an andere Menschen, das heißt aber auch an andere Werte zu binden.“

Ganz ähnlich argumentiert der indische Wirtschaftsnobelpreisträger Amartya Sen. Er nennt den Egoisten einen „rationalen Narren“, der die langfristige Tragweite seines Handelns nicht bedenkt. Dabei muss der Mensch gar nicht zwingend denken. Er kann auch einfach seinen Instinkten folgen. Denn die leiten zu der biologisch codierten Erkenntnis: Es lohnt sich für Individuum, Kollektiv und Gattung, fair zu kooperieren – und anderen zu helfen. Wie gesagt: Selbstlosigkeit ist biologisch gesehen fast immer Eigennutz. Das sollte uns nicht weiter stören. Solange alle profitieren.


Dieser Text stammt aus unserer Redaktion Corporate Publishing.