Goethe, Algebra, lateinische Grammatik – all das sollte ein junger Mensch schon kennen, findet
 Claus Otto Scharmer, Professor
 am MIT in Cambridge.
 Viel wichtiger aber sei die Fähigkeit, grundsätzliche Fragen stellen
 und eigene Antworten finden zu können. Ein Gespräch.




Professor Scharmer, Sie waren Waldorfschüler, gehörten zum Gründungsjahrgang der Universität Witten/Herdecke und gelten heute als Vordenker eines neuen Wissensbegriffs. Inwieweit hat Ihre Ausbildung zu dieser Spezialisierung beigetragen?

Ohne sie wäre ich ganz sicher nicht da, wo ich heute bin. Ich hatte das große Glück, sowohl meine Schul- als auch meine Hochschulzeit in einem geistigen Umfeld zu verbringen, das es mir erlaubte, Freude am Gestalten und Schaffen zu entwickeln. In Waldorfschulen wird Kreativität und der eigenen Entwicklung viel Raum gelassen. Genauso war es später auch bei meinem Wirtschaftsstudium in Witten/Herdecke.

Ekkehard Kappler, der Gründungsdekan, verstand das Studium als eine Praxis der Freiheit. „Studieren heißt nicht, ein Fass zu füllen“, gab uns Kappler frei nach Heraklit mit auf den Weg, „sondern eine Flamme zu entzünden.“ Dieser radikal erneuernde Ansatz war für mich unheimlich entscheidend. Das hat mich aufgeweckt. In Witten/Herdecke gab es damals noch keine fixen Lehrpläne, wir sollten selbst entscheiden, was wir lernen wollten. Natürlich mussten wir auch Kostenrechnung und Makromodelle pauken. Aber da hieß es immer: Dafür gibt es Bücher. Lest euch das allein an. Und entscheidet dann, was ihr noch wissen wollt. Die Professoren gaben uns nur das Handwerkszeug, die Inhalte mussten wir selbst entwickeln. Wir haben viel über Fundamentalfragen der Philosophie gesprochen, immer versucht, den Dingen auf den Grund zu gehen – und konnten so den Mut entwickeln, eigene Wege zu gehen.

Eigenverantwortung kann auch eine Bürde sein. Woher soll ich als Student wissen, was ich später können muss? Haben Sie sich nie gewünscht, einfach einem Lehrplan zu folgen?

Natürlich kostet es Kraft, selbst zu entscheiden. Und es dauert eine Weile, bis sich das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten und Interessen einstellt. Andererseits lernt man dadurch vieles: offen zu sein, neugierig zu bleiben, sich inspirieren zu lassen.

Unser heutiges Verständnis von Bildung ist enorm verakademisiert. Uns fehlt der Raum zu diskutieren – und die Praxis. Als Folge wissen viele Menschen gar nicht mehr, wie sie an ihre eigenen Quellen des Wissens und der Kreativität herankommen. Sie lernen nicht zu lernen. Stattdessen wird ihnen „Bildung“ beigebracht: vorgedachtes, vorgekautes und vergangenes Wissen – letztlich totes Konserven-Wissen.

Ein guter Lehrer muss mehr können als bloß Lehrbücher nachzuleiern. Die gibt’s auch im Internet. Er muss zuhören, inspirieren, experimentieren, motivieren, Möglichkeitsräume aufzeigen. Und er muss in der Lage sein, Methoden zu vermitteln.

Wie soll er das schaffen? Lehrkräfte müssen heute möglichst viel in möglichst kurzer Zeit durchboxen. Von der Lust einmal abgesehen – oft fehlt die Zeit für einen offenen Diskurs.

Momentan haben wir es mit Rahmenbedingungen zu tun, die dafür sorgen, dass Schulen und Hochschulen zu reinen Abprüfstationen degenerieren. Aber das ist nicht gottgegeben. Bildungsstätten müssen wieder werden, was sie einst waren: Orte, an denen man lernt, Lösungen und Handlungsimpulse aus sich selbst heraus zu entwickeln. Räume, in denen echte Begegnungen entstehen und die Geburtsstätten für das Neue sind.

Natürlich muss man Schülern auch beibringen, ein Gedicht auswendig zu lernen oder unregelmäßige Verben zu pauken. Aber das schiere Anhäufen von Wissen ist eben nur ein Lern-Paradigma und darf nicht alle anderen verdrängen.

Was fehlt aus Ihrer Sicht vor allem? Oder anders gefragt: Wodurch sollten wir das klassische Wissen ersetzen?

Das ist die falsche Frage, denn genau das gilt es ja herauszufinden. Solange wir immer nur an dem festhalten, was wir sicher zu kennen meinen, bewegen wir uns in der Vergangenheit. Mit den Kenntnissen und Fertigkeiten von gestern werden wir die Fragen von heute oder morgen aber nicht beantworten können. Wir leben in einer Zeit sich zuspitzender Konflikte und massiven institutionellen Versagens. Und das betrifft längst nicht nur die Bildungssysteme, sondern fast alle anderen sozialpolitischen Systeme auch. Gleichgültig, wohin man schaut, überall wird die Notwendigkeit von erheblichen Veränderungsprozessen erkannt – aber was soll sich überhaupt verändern? Und wie?

Wir haben in Wahrheit keine Ahnung. Das Problem sind unsere alten Strukturen und Denkgewohnheiten. Wenn es uns nicht gelingt, sie aufzubrechen, werden wir es nicht schaffen, den Anforderungen der Gegenwart auf Augenhöhe zu begegnen. Momentan befindet sich unser Geist in einem Gefängnis der Vergangenheit. Aber wir selbst haben den Schlüssel dazu – und wir können uns jederzeit entscheiden, den selbst gebauten Knast zu verlassen.

Können Sie einen Fluchtweg skizzieren?

Ich bin auf einem Bauernhof nahe Hamburg aufgewachsen. Eines der ersten Dinge, die mir mein Vater beigebracht hat, war, dass die Qualität der Ernte von der Fruchtbarkeit des Bodens abhängt, also von den Elementen eines Feldes, die für das Auge zunächst unsichtbar sind. Ein Landwirt, der sich nicht um seinen Boden schert, darf sich nicht wundern, wenn die Ernte karg bleibt. Mit unserem Geist verhält es sich nicht viel anders: Jede gute Führungskraft weiß, dass das unsichtbare Gefüge von Teams oder Organisationen ungemein wichtig ist für die Entwicklung und den Erfolg eines Unternehmens. Wir müssen wieder lernen, diese verborgenen Quellen von sozialen Feldern für unsere Arbeit zu nutzen.

Übrigens macht der Landwirt nichts anderes. Die Begriffe Kultivierung und Kultur leiten sich aus genau dieser Aktivität ab – die Erde wird gepflügt, gegrubbert, geeggt, damit sich die Qualität des Bodens verbessert. Das Resultat ist besseres Wachstum.

Das klingt plausibel, aber auch sehr abstrakt. Was bedeutet das für die Organisation oder für den Einzelnen: Wie gelangt der Mensch zu seinen inneren Quellen?

Es ist eine Frage der inneren Aufmerksamkeit – und der eigenen Entscheidung. Ein Beispiel: Wir haben mindestens drei Möglichkeiten, ein Kunstwerk anzuschauen. Man kann nur das Endergebnis betrachten, also beispielsweise ein Gemälde. Man kann aber auch den Künstler bei der Arbeit beobachten, sich also auf den Entstehungsprozess eines Bildes konzentrieren. Oder man kann den Maler beobachten, während er noch vor einer leeren Leinwand steht.

Wir können fast alles um uns herum anschauen, nachdem es geschaffen wurde, während es geschaffen wird oder bevor der Schaffungsprozess überhaupt begonnen hat. In Management und Organisationsprozessen beschränken wir uns in aller Regel auf die beiden ersten Dimensionen, also auf das Was und das Wie von Prozessen. Der blinde Fleck unserer Wahrnehmung ist die dritte Dimension: die Quelle oder der innere Ort, von dem aus wir handeln, wenn wir tun, was wir tun.

Sie meinen, wir gehen den Dingen nicht auf den Grund? Wir halten Beobachtungen für gegeben, wir hinterfragen nicht und neigen dazu, uns Problemen und Fragestellungen nur halbherzig zu nähern?

Unsere Interaktionen mit der Umwelt basieren oft auf unseren Erfahrungen der Vergangenheit. Wir nehmen nicht wirklich neue Informationen auf. Ich nenne diesen Modus der Wahrnehmung analog zur Computerwelt das Downloaden. Die Auseinandersetzung mit den Inhalten dient dabei nur der Bestätigung bereits vorhandener Urteile. Infolgedessen sehen wir auch nur das, was unseren gewohnheitsmäßigen Meinungen entspricht.

Wer Dinge nachhaltig gestalten will, darf aber nicht nur auf vergangene Erfahrungen zurückgreifen, er muss auch die eigenen Potenziale und noch im Entstehen begriffene Entwicklungen erspüren. Dieses andere Vorgehen, dieses Lernen aus der Zukunft, nenne ich „presencing“. Presencing ist eine Wortschöpfung aus den beiden englischen Wörtern sensing, also fühlen oder spüren, und presence, der Gegenwart. Die Kombination aus beidem halte ich in der heutigen Welt für eine unerlässliche Grundkompetenz – vielleicht sogar für die wichtigste Kompetenz in diesem Jahrhundert.

Sie haben im Rahmen Ihrer Forschungsprojekte weltweit zahlreiche Interviews mit Führungskräften geführt. Wie gelingt es Ihren Gesprächspartnern, schöpferische Imaginationen und Inspirationen zu vergegenwärtigen? Gibt es ein Muster?

Ja, das gibt es. Brian Arthur, ehemaliger Leiter des Economics Department am Santa Fe Institute, beschrieb es wie folgt: Observe, observe, observe; retreat and reflect; allow the inner knowing to emerge und act in an instant. Also: hinschauen, hinschauen, hinschauen; sich einlassen und eins werden, spüren, dann sich zurückziehen, den inneren Ort der Stille suchen, an dem das Neue auftaucht und in die Welt gebracht werden will, warten, bis ein Funke oder eine Idee an die Oberfläche kommt, und dann nicht erst in einen langwierigen Planungsprozess gehen, sondern handeln. Direkt. Jetzt!

Am Santa Fe Institute arbeiten hochrangige Wissenschaftler der unterschiedlichsten Disziplinen Hand in Hand an den Fragen unserer Zeit. Aber kann man das Modell dieser Denkwerkstatt übertragen?

Natürlich, denn wir alle tragen riesige, nicht genutzte Potenziale in uns. Es ist, als würden wir in einem Haus mit vielen Zimmern leben – aber nur zwei davon nutzen. Viele wissen gar nichts von dem leer stehenden Raum. Andere haben vielleicht eine Ahnung davon, versuchen sogar, die leeren Zimmer zu betreten. Aber wir haben keinen Erfolg. Weil wir nicht gelernt haben, die tieferen Schichten des Lernens, des Werdens und der Veränderung wirklich zu erreichen.

Dabei ist uns diese Fähigkeit sogar angeboren, wir verlernen sie nur im Laufe unseres Lebens. Man hat bei Intelligenz-Tests herausgefunden, dass Kinder im Alter von vier Jahren im Grunde genommen nahezu ausnahmslos Genies sind: Sie sind musikalisch, wissbegierig, haben eine große mathematische und sprachliche Begabung, können räumlich denken und sind ungeheuer kontaktfreudig. Testet man dieselben Kandidaten im Alter von etwa zwanzig Jahren, verfügen gerade noch rund zehn Prozent über diese breit gefächerten Begabungen. Mit zunehmendem Alter sinkt der Anteil noch rapider.

Sie haben Ihre Kernthesen in einer U-Theorie zusammengefasst. Danach steht am Anfang eines schöpferischen Prozesses die Auseinandersetzung, am Ende das Prototyping, also die schnelle Umsetzung der eigenen Ideen. In der Mitte, dem Bogen des U, steht ein Moment innerer Einkehr und Meditation. Stoßen Sie damit Gesprächspartner nicht vor den Kopf? Die meisten sind stolz auf ihren Verstand und ihre Ratio – und nun sollen sie sich in ihren Innenraum zurückziehen?

Ich bin völlig überrascht, auf wie viel Zustimmung und wie wenig Ablehnung ich bisher mit der U-Theorie gestoßen bin. Das ist fast schon ein wenig bedenklich. Vielleicht liegt es daran, dass ich bisher vornehmlich mit Praktikern und Change Leadern in großen Unternehmen, Institutionen und Organisationen gearbeitet habe.

Überall, wo Menschen echte tiefere Lebenserfahrung mit Veränderungen und sozialen Prozessen erleben, gibt es ein unmittelbares und intuitives Verständnis für das, was ich mit der U-Theorie beschreibe. Übrigens weltweit. Dies gilt für Afrika wie für Asien, für Nord- und Südamerika und für Europa.

Irritation und Ablehnung habe ich dagegen überall dort erlebt, wo sich die Menschen in einer Powerpoint-Welt von abstrakter Stabsarbeit oder akademischen Diskursen bewegen, in denen der Zugang zu tatsächlichen sozialen Veränderungsprozessen verschlossen bleibt. Was daraus folgt, ist bekannt: Statt unser Denken für neue Wege zu öffnen, bewerten wir uns und andere. Statt unsere Herzen für unser Einfühlungsvermögen zu sensibilisieren, schaffen wir zwischen uns und unserer Umgebung Distanz und verstecken uns hinter Zynismus. Und aus Angst zu versagen, blockieren wir auch noch die dritte Voraussetzung für nachhaltige Veränderungen: den Willen.

Wir sollten also wieder lernen, die Welt mit den Augen eines Kindes zu betrachten: staunend, wertfrei und voller Wissensdurst. Welchen Rat geben Sie Ihren Studenten noch?

Vielleicht sind es vier Kernpunkte. Erstens: Mach dir klar, was du willst. Wer bist du wirklich, und was ist es, das du in die Welt bringen willst? Zweitens: Geh zu den Orten der höchsten Möglichkeit. Dorthin, wo du die Keime der Zukunft entdecken kannst, die du in die Welt bringen willst. Dieser Ort ist vielleicht ein Mensch, der direkt neben dir sitzt. Oder er befindet sich auf einem anderen Kontinent. Entdecke dort die Zukunft, die deiner bedarf, um in die Welt zu kommen.

Drittens: Schaffe Räume der Stille, in denen du dich auf das besinnst, was für dich wichtig ist. In denen du das Wesentliche vom Unwesentlichen unterscheidest. Suche diese Einkehr jeden Tag, vielleicht nur für zehn Minuten, aber jeden Tag. Viertens: Schaffe dir Orte des Prototyping, in denen du die Zukunft erkundest. Indem du etwas Neues tust. Etwas riskierst. Indem du über die Schwelle des improvisierenden Handelns springst. Denn das Neue kommt nie aus dem Kopf. Es kommt aus dem Herzen. Und durch unser Handeln und durch unsere Hand.

Sie beschreiben eher eine Haltung als einen Prozess.

Es geht auch um Haltungen, um einen anderen Blick. Als ich klein war, ist mein Elternhaus bis auf die Grundmauern abgebrannt. Mein Großvater war damals ein sehr alter und kranker Mann. Trotzdem fuhr er zum Unglücksort. Ich sehe ihn noch heute aus dem Auto steigen und auf meinen Vater zugehen. Er nahm seine Hand und sagte: „Kopf hoch, mein Junge. Blick nach vorn.“ Darum geht es. Wir müssen lernen, nicht mit dem Geschehenen zu hadern, sondern alle Energie darin zu bündeln, die eigene Zukunft zu gestalten und in die Welt zu bringen.

Claus Otto Scharmer ist Senior Lecturer an der Sloan School of Management am Massachusetts Institute of Technology (MIT). Er gründete zusammen mit Peter Senge die Society for Organizational Learning (SoL) und leitet zahlreiche Change-Projekte, darunter in Kooperation mit UN Global Compact und SoL das Programm Elias (Emerging Leaders for Innovations Across Systems) sowie in Kooperation mit McKinsey & Company und SoL „Dialogue on Leadership“. Mitte dieses Jahres erscheint sein jüngstes Buch: „Theory U: Leading from the Future as it Emerges“. Cambridge, SoL Press, 2007; 38 Dollar.


Dieser Text stammt aus unserer Redaktion Corporate Publishing.