Die Vermessung der Welt

Die Fähigkeit zu rechnen ist im Hirn von Kleinkindern ähnlich angelegt wie das Erlernen der Muttersprache. Das mathematische
 Talent muss nur richtig gefördert werden, meint Professorin Elsbeth Stern.




Der lebenslange Lernprozess des Menschen beginnt mit einem kleinen Wunder: Alle Kinder lernen Sprechen, von der ersten Minute an. Obwohl keiner genau weiß, wie sie das tun, wie der Prozess des Spracherwerbs abläuft, was im Gehirn des Menschen dabei geschieht. Niemand kann wirklich erklären, welcher Mechanismus dafür sorgt, dass schon wenige Tage alte Babys auf die spezifischen Laute ihrer Muttersprache sensibler reagieren als auf Laute einer Fremdsprache, wie es kommt, dass sie irgendwann zum ersten Mal „Mama“ oder „Hunger“ sagen – trotzdem geht jeder Vater und jede Mutter ganz selbstverständlich davon aus, dass der Sprössling irgendwann perfekt sprechen wird. Die Natur hat es schließlich so eingerichtet.

Die Mathematik dagegen erscheint den meisten Menschen als etwas zutiefst Artifizielles, als eine Spezialwissenschaft, ein Buch mit sieben Siegeln. Wer sie beherrscht, hat die Gabe von den Göttern in die Wiege gelegt bekommen. Oder war schon immer ein Tüftler, ein Streber. „Mathe? Habe ich nie gekonnt“, der Satz würde wohl mindestens der Hälfte der Bevölkerung locker über die Lippen gehen.

Dabei ist eine Fünf in Mathe kein Schicksal. Im Gegenteil: Ein intuitives Grundverständnis für Mathematik ist dem Menschen angeboren, genau wie die Sprachfähigkeit. Säuglinge lernen ihre Welt durch Worte kennen – und sie bekommen mithilfe der intuitiven Mathematik erste Vorstellungen von Mengen und Größen. Genau wie beim Erlernen einer Sprache kommt es jedoch darauf an, dieses mathematische Talent nicht verkümmern zu lassen, sondern es möglichst schon im Vorschulalter spielerisch zu fördern und im Laufe der Jahre auszubauen. Wie das funktioniert und welche Erkenntnisse der Linguistik, Hirnforschung und Pädagogik dabei von Nutzen sein können, untersucht die Kognitionspsychologin Elsbeth Stern schon seit Jahrzehnten. Die Wissenschaftlerin ist eine der gefragtesten Expertinnen im deutschsprachigen Raum, wenn es darum geht, wie kleine Kinder lernen, insbesondere Naturwissenschaften – und sie weiß, dass gerade auf diesem Gebiet die Weichen für Interesse, Leidenschaft und Verständnis bereits in jungen Jahren gestellt werden.

Elsbeth Stern
Puppe Fido

Seit vergangenem Oktober hat Elsbeth Stern, Jahrgang 1957, eine Professur für Lehr- und Lernforschung an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich inne, zuvor war sie zehn Jahre am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung (MPIB) in Berlin als Forschungsgruppenleiterin tätig. Jetzt sitzt sie in ihrem alten Arbeitszimmer am MPIB, die Übergangsphase ist noch nicht ganz abgeschlossen, ein paar Dinge hat sie hier noch zu erledigen. Dazu zählt auch dieser Termin, bei dem sie erklärt, wie Kinder mittels der Sprache ihre Welt erfassen.

Fido – oder ein Fido? Der Unterschied ist gewaltig

„Kleine Kinder leben mit der Herausforderung, dass ständig Worte auf sie einprasseln, deren Bedeutung sie nicht kennen“, sagt Elsbeth Stern, „sie müssen sich den Sinn induktiv erschließen. Das gelingt ihnen, weil sie von Geburt an auch Feinheiten des sprachlichen Ausdrucks und der Grammatik wahrnehmen.“ Stern erklärt den Zusammenhang gern mit einer blauweiß gestreiften Handpuppe. „Wenn ich einem Kind diese Puppe zeige und sage: ‚Das ist Fido‘, weiß es, dass Fido der Name ist. Sage ich aber: ‚Das ist ein Fido‘, registriert das Kind sinngemäß: Aha, davon gibt es anscheinend noch mehr, das ist also eine Gattungsbezeichnung. Oder ich greife in den Papierkorb, krame darin herum und nenne das meinetwegen ‚muggeln‘ – das Kind hat zwar keine Ahnung, was das heißt, aber es begreift, dass es sich um eine Tätigkeit handeln muss.“

So nutzen Kinder jeden kleinen Hinweis, um ihre Welt kennenzulernen und zu verstehen – beim Sprechenlernen tun sie das, ohne bewusst auf eine Grammatik zuzugreifen. Dieses seit Jahrtausenden erprobte Erfolgsmodell funktioniert erstaunlicherweise unter so ziemlich allen Umständen. Es schadet Kindern nicht im Geringsten, wenn die Großtante auf Besuch grundsätzlich nur dutzi-dutzi und eia-eia sagt, solange die Hauptbezugspersonen normal sprechen. „Eltern können bei der Sprachförderung eigentlich nicht viel verkehrt machen. Sie müssen nur mit den Kindern reden. Und wenn die Kleinen einen falschen Satz sagen, sollten die Eltern ihn einfach korrekt neu formulieren. Durch dieses Feedback werden Kinder immer kompetenter“, sagt die Expertin.

Das gilt auch für die Sprachförderung außerhalb der Familie: „Gute Erzieherinnen fragen ein Kind, das gerade den Tisch deckt: ‚Was machst du da? Wie ordnest du die Teller an? Wo möchtest du dich hinsetzen?‘ Dann muss das Kind kommunizieren, beschreiben, Worte finden.“

Wissensgrundlagen schaffen, damit Kindern der Wissenserwerb später leichter fällt, Fehlentwicklungen entgegenwirken – das sind für Stern zentrale Aufgaben frühzeitiger Förderung. „Wer beispielsweise einer Lese-Rechtschreibschwäche vorbeugen will, kann mit Kindern im Kindergarten singen und dichten, damit sie eine phonologische Bewusstheit für die Sprache entwickeln. Lieder, mit denen P und B unterschieden werden, oder die berühmten ‚Drei Chinesen mit dem Kontrabass‘ für Vokalfeinheiten. Längsschnittstudien zeigen, dass ganz einfache tägliche Dinge im Kindergarten enorme Wirkung auf die Sprachkompetenz haben, etwa wenn die Kinder erklären müssen, was Laus, Maus und Haus gemeinsam haben.“

Selbstverständlich sind selbst solche simplen Konzepte nicht, bis weit ins 20. Jahrhundert hinein glaubte die Wissenschaft sogar, die kognitiven Fähigkeiten von Kleinkindern seien zu schwach entwickelt, als dass man sie überhaupt sinnvoll fördern könne. „Nun hängen viele Bildungspolitiker und Eltern dem anderen Extrem an und glauben, wir müssten schon bei den Säuglingen mit der Förderung beginnen, um nicht noch mehr Lost Generations zu produzieren.“

Mithilfe der Puppe Fido erforscht Professorin Elsbeth Stern die kindliche Sprache.

Zu diesem Pendelausschlag haben nicht zuletzt Erkenntnisse aus der Neurobiologie beigetragen. Seit langem ist bekannt, dass in den ersten, erfahrungsintensiven Lebensjahren eines Kindes sehr viele Neuronen, also Nervenzellen, Verbindungen miteinander eingehen. Wenn das Kind älter wird, lösen sich viele dieser Verbindungen wieder – so weit die Fakten. Umstritten ist ihre Interpretation. Einige Hirnforscher haben daraus geschlossen, dass ungenutzte Verknüpfungen aufgegeben werden und sich Zeitfenster zum Erlernen bestimmter Dinge unwiderruflich schließen. Deshalb komme es darauf an, dem Gehirn so viele Anregungen wie möglich anzubieten, damit die Verbindungen erhalten bleiben. „Mittlerweile wissen wir aber, dass eine hohe Neuronendichte nicht automatisch eine hohe Lernfähigkeit bedeutet“, sagt Stern. Vielmehr sei das Gehirn erst wirklich lernfähig, wenn sich ganz bestimmte Neuronen verbunden hätten und gleichzeitig eine Reduzierung stattgefunden habe – viele kleine Trampelpfade sind weniger effizient als eine gut ausgebaute Hauptstraße.

Bis ins Jugendalter hinein lernen Kinder manche Dinge sogar deutlich schlechter als Erwachsene. Das hängt mit der Entwicklung der Stirnlappen des Gehirns zusammen, des Frontalhirns. Besonders der sogenannte präfrontale Cortex hat große Bedeutung für die kognitiven Prozesse. Er sorgt dafür, dass der Mensch seine Umwelt einordnen, langfristige Pläne fassen und sich in den unterschiedlichsten Situationen richtig verhalten kann – er ist das Zentrum der Einsicht und der Affektkontrolle. Und er ist der Teil des Zentralorgans, der am langsamsten heranreift. Deshalb sind die meisten Kinder auch erst mit ungefähr sechs Jahren so weit, Lerninhalte sinnvoll und dauerhaft aufzunehmen und zu verstehen, die ein gewisses Maß an Selbstbeherrschung, Frustrationstoleranz und anhaltender Konzentration verlangen, wie etwa Lesen und Rechnen.

Das heißt nicht, dass Mathematik erst in der Grundschule ein Thema sein sollte, die Grundlagen einer erfolgreichen Mathe-Karriere werden schon früher geschaffen. Denn ein mathematisches Grundverständnis ist dem Menschen angeboren – und es kann, ähnlich wie die Sprachkompetenz, gefördert oder vernachlässigt werden.

Die amerikanische Psychologin Karen Wynn veröffentlichte 1992 eine aufsehenerregende Untersuchung, in der sie nachwies, dass Kinder schon mit sechs Monaten ein Bewusstsein für Mengenverhältnisse haben. Die Wissenschaftlerin setzte vor Babys eine Puppe auf den Boden und verbarg sie nach einer Weile durch einen Vorhang. Dann zeigte sie den Kindern eine zweite Puppe und versteckte auch sie hinter dem Sichtschutz. Anschließend entfernte Wynn den Vorhang. Waren erwartungsgemäß beide Puppen zu sehen, verloren die Kinder nach kurzer Zeit das Interesse. Erblickten sie dagegen überraschenderweise nur eine Puppe, weil eine Figur unbemerkt entfernt worden war, starrten die Babys deutlich länger hin – ganz so als würden sie nachrechnen. Dasselbe geschieht bei der umgekehrten Variante: Zwei Puppen, der Vorhang fällt, eine wird deutlich sichtbar hinter dem Sichtschutz hervorgezogen, Vorhang auf, und es sitzen noch zwei Puppen da – großes Erstaunen beim Probanden.

Babys können nicht rechnen – sie registrieren Widersprüche

Als die Studie publik wurde, vereinfachte die Presse die Ergebnisse gern zu der Schlagzeile „Babys können rechnen“. Mit Folgen, die die Psychologinnen Kathy Hirsh-Pasek, Roberta Michnick Golinkoff und Diane Eyer in ihrem Buch „Einstein never used Flash Cards“ beschreiben: Eine Frau liest in der Zeitung von den Forschungsergebnissen und ist entsetzt – ihr zwei Jahre alter Sohn kann gerade mal bis zehn zählen, aber nicht addieren. Sofort macht sie sich auf und kauft spezielle Lernkarten, um mit dem Kind Rechnen zu üben. Vergebliche Liebesmüh. Zweijährige kennen zwar schon Zahlwörter und verwenden sie spielerisch, aber sie sind nicht in der Lage wirklich zu rechnen – ganz zu schweigen von den Säuglingen aus den Versuchen Karen Wynns. Sie quantifizieren lediglich eine Menge von Gegenständen und registrieren Widersprüche zwischen dem, was sie erwarten, und dem, was sie sehen.

Elsbeth Stern hält es für sinnvoll, Kinder ab vier Jahren gezielt zu fördern und auf die Inhalte vorzubereiten, die sie in der Schule lernen müssen. In diesem Alter haben die Kinder in der Regel die sogenannte Fähigkeit zur Perspektivübernahme entwickelt: Sie verstehen, dass andere Menschen andere Gedanken haben – eine Grundvoraussetzung für erfolgreiches Lernen. Das verdeutlicht ein Beispiel: Zeigt man einem Dreijährigen eine Buntstiftschachtel und fragt ihn: „Was ist da drin?“, wird er sagen „Buntstifte“. Dann wird die Schachtel geöffnet, und der Junge sieht, dass sich statt Stiften Salzstangen in der Schachtel befinden. Auf die anschließende Frage „Was glaubt wohl dein Bruder, was in der Schachtel ist?“, wird das Kind antworten: „Salzstangen“, weil es noch nicht von seinem eigenen Wissen abstrahieren kann.

Muster erkennen, musizieren – Mathe ist ein Kinderspiel

Vierjährige sind in ihrer Entwicklung schon weiter, was aber nicht bedeutet, „dass sie das Einmaleins lernen sollen“, wie Stern betont. „Ziel ist es, Kindern die Konzepte näherzubringen, auf denen Mathematik beruht. Beispielsweise kann man sie auffordern, an einer gemusterten Tapete oder an einem Kachelboden gleich aussehende Muster zu finden, weil Symmetrie ein wichtiges Prinzip der Mathematik ist. Oder sie beginnen zu verstehen, was Zählbarkeit überhaupt bedeutet, indem man die Blätter eines großen Baums mit denen einer einzelnen Tulpe vergleicht. Sogar Musik kann hilfreich sein, etwa wenn mit Trommeln das Zählen im Takt geübt wird.“

Diese spielerischen Ansätze knüpfen an das angeborene intuitive mathematische Verständnis des Menschen an. Sie sind die Basis für die nächsten Schritte, mit denen Kinder anspruchsvollere Operationen begreifen sollen, die Prinzipien der sogenannten kulturellen Mathematik – der Begriff hebt die Rolle einer über Jahrtausende hinweg entwickelten Wissenschaft hervor. Was intuitive und kulturelle Mathematik unterscheidet, verdeutlicht Elsbeth Stern mit einer Rechenaufgabe, die sie im Rahmen einer ihrer Studien zum mathematischen Verständnis bei Kindern verwendet hat: Fünf Vögel haben Hunger. Sie finden drei Würmer. Auf die Frage „Wie viele Vögel bekommen keinen Wurm?“ können 96 Prozent der Erstklässler die richtige Antwort geben. Die Frage „Wie viel mehr Vögel als Würmer gibt es?“ kann nur noch ein Viertel der Schüler korrekt beantworten. Diese Diskrepanz liegt nicht an Unterschieden im Sprachverständnis, sondern daran, dass Variante B einen Vergleich zwischen Mengen darstellt. Vergleichsaufgaben jedoch erfordern ein fortgeschrittenes Zahlenverständnis, das über die reine Zählfunktion hinausgeht.

Das Üben dieser Form von Textaufgaben in der Grundschule – und anderer anspruchsvoller Aufgaben, die früh zu einem abstrakteren Verständnis von Mathematik führen – ist ein Stützpfeiler für anhaltend gute Leistungen im weiteren Verlauf einer Schulkarriere. In einer Langzeituntersuchung fand Stern heraus: Nur wer bereits in der Grundschule – in diesem Fall in der zweiten Klasse – ein großes Verständnis für Mathematik entwickelt hat, kann auch in der elften Klasse gut in Mathe sein. Besonders bemerkenswert: Dieses Vorwissen spielt sogar eine deutlich größere Rolle für die Leistungen in Klasse 11 als die Intelligenz der Schüler.

„Es ist also nicht gut für die Schüler, wenn der Lehrplan vor allem Aufgaben beinhaltet, die nur an das intuitive mathematische Verständnis anknüpfen. Denn fördern heißt auch fordern“, sagt Elsbeth Stern. „Konsequenterweise müssen die Lehrer dann aber auch Fehler erlauben und die Schüler daraus lernen lassen. Wer ihnen immer nur einen möglichen Lösungsweg präsentiert, macht sie unselbstständig.“

Für diese Art von Trial-and-Error-Unterricht ist eine offene Kommunikation zwischen Lehrern und Schülern wichtig, und „das bedeutet, dass das Lehrpersonal immer wieder nachfragt, was die Kinder eigentlich wissen, auf welchem Stand sie sind“, so Stern. Beispielsweise haben Grundschüler oft recht eigene Vorstellungen und Erklärungen für naturwissenschaftliche Phänomene. „Wenn man Kinder fragt, warum ein Schiff aus Eisen schwimmt, sagen sie, ‚weil der Kapitän mitfährt‘ oder ‚weil es einen Motor hat‘. Diese intuitiven Erklärungen muss der Lehrer kennen und berücksichtigen, wenn er sie ausräumen will.“

Holz, Metall, Styropor – was schwimmt? So geht Physik

Gerade auf dem Gebiet der Physik hat die Wissenschaftlerin während ihrer Zeit am Berliner Max-Planck-Institut für Bildungsforschung sehr viel darüber herausgefunden, wie kleine Kinder sich Wissen aneignen. In einem eigens eingerichteten Lernlabor hat sie beispielsweise Grundschüler mit einer Balkenwaage experimentieren lassen. Die Kinder lernten anhand von Teilen aus Holz, Metall, Styropor und anderen Stoffen, dass Volumen und Masse eine Rolle spielen bei der Entscheidung, ob ein Gegenstand schwimmt oder nicht. Durch die Anschaulichkeit der Versuche und die Darstellung der unterschiedlichen Messergebnisse mithilfe eines Graphen verinnerlichten die Kinder das physikalische Prinzip des Auftriebs.

„Wir müssen versuchen, so früh wie möglich die Neugier der Kinder zu wecken, egal, auf welchem Wissensgebiet“, sagt Elsbeth Stern, „aber diese Erkenntnis ist eigentlich ein alter Hut. Der zweite Schritt ist wichtiger: Wenn sie gepackt sind, muss man ihnen gezielt Lerngelegenheiten zur Verfügung stellen. Man muss sie richtig rannehmen.“


Dieser Text stammt aus unserer Redaktion Corporate Publishing.