Nu, mir gönn!

In seinen Romanen "Helden wie wir" und "Am kürzeren Ende der Sonnenallee", der in der Verfilmung von Leander Haußmann erfolgreichster deutscher Film des Jahres wurde, hat Thomas Brussig sein Talent als sensibler Beobachter von Ost und West einer internationalen Leserschaft nachdrücklich unter Beweis gestellt. Für brandeinsNeuland hat sich der Schriftsteller, der in Ostberlin aufwuchs, auf die Suche nach der Seele des Menschen in und um Dresden herum gemacht.




Der Himmel ist dramatisch bewölkt, als der Intercity über die Elbe fährt. Flussaufwärts die Augus- tusbrücke und das Herz der einstigen Barockstadt: Kathedrale, Frauenkirche, Semperoper, Schloss und Kunstakademie. Das Dresden Canalettos ­ für einen Moment ist es vorstellbar, ehe der Zug das südliche Elbufer erreicht und wieder von sozialistischer und post-sozialistischer Wegschau-Architektur verschluckt wird.

Es ist ein Sonntagabend im Juni. Das Europäische Parlament wird gewählt, und außerdem sind in Sachsen Kommunalwahlen. Vor zwei Tagen wurde Dresden von der ganz großen Politik gestreift: Obama war hier, allerdings nur auf Durchreise. In der Frauenkirche war er kurz, erfahre ich, aber es war ja alles abgesperrt. Er ist rein, raus und dann gleich ins Auto. Für ein Foto hat's nicht gereicht, nicht mal gewunken hat er. Die Stadt hätte Obama freundlich, ja geradezu freundschaftlich empfangen. Seinen Slogan haben sie hier gleich mal adoptiert: "Nu, mir gönn!"

Dresden ist vermutlich eine Großstadt, die wie eine Kleinstadt funktioniert ­ und es so versteht, die Kehrseiten großstädtischen und kleinstädtischen Lebens von sich fernzuhalten. Doch das Geheimnis der Dresdner (oder sächsischen) Könnerschaft, das mit "Nu, mir gönn!" reklamiert wird, liegt vielleicht eher in der Art, wie in Sachsen schon seit Jahrhunderten gearbeitet wird. Hier gab es den Bergbau, die Industrialisierung und die Fabrikarbeit ­ aber vor allem gab es immer wieder ein entwickeltes Handwerk. Gerade in der Residenzstadt war anspruchsvolle Fingerfertigkeit gefragt. Das Tüfteln, die Suche nach der besseren Lösung, der Wille, es einen Tick besser zu machen als bisher ­ das kennzeichnet das Arbeitsethos der Sachsen. Sachsen sind findig und improvisationsfreudig, sie haben Innovations- und Pioniergeist.

Nun ist Arbeit nicht gleich Arbeit. Im Ruhrpott versteht man darunter das Malochen, also etwas, bei dem man schwitzt und sich dreckig macht. Und hinterher erschöpft ist. Dass sich im Ruhrgebiet dieser Arbeitsbegriff durchsetzte, ist kein Wunder. Kohle und Stahl, was kann man da schon erwarten! Während sich die Malocher zusammenschlossen und für Arbeitszeitverkürzung, mehr Urlaub und Vorruhestandsregelungen kämpften (was angesichts der Arbeitsbedingungen unter Tage oder in den Stahlwerken nur verständlich ist), war für die Sachsen immer klar, dass aller Reichtum von der Arbeit kommt ­ und weniger Arbeit weniger Wohlstand bedeutet. Nur so ist zu erklären, weshalb die SPD hier bis heute keine Rolle spielt: Die Partei gilt als gewerkschaftsnah, Gewerkschaften wollen immer die Arbeitszeiten verkürzen, und das ist dem Sachsen suspekt. Gar das politische System durch schlichte Arbeitsverweigerung untergehen zu lassen, das ist mit Sachsen nicht zu machen. Sie haben gegen das DDR-System demonstriert, ohne Sachbeschädigung und, bitte schön, nach Feierabend.

Oder sie sind gleich in den Westen gegangen. Wenn Journalisten die Neuankömmlinge fragten, wie die sich ihr Leben jetzt vorstellen, war die Antwort immer: Anständsch orbeedn! Das Selbstbewusstsein der Menschen, dass sie sich in dieser fremden Welt schon orientieren werden, imponierte mir schon damals, und tatsächlich ist es eine der auffälligsten Eigenschaften der Sachsen, sich überall auf der Welt zurechtzufinden. Aus dem Mangel und dem Missmanagement der DDR haben sie Kapital schlagen können: Ihr Improvisationstalent, die Gabe, auch unter widrigen Bedingungen den Laden weiterlaufen zu lassen, ihre Vorsorge für den Katastrophenfall ­ all das sind typisch sächsische Anpassungsleistungen an den Realsozialismus.

Ist das nur mein persönlicher Eindruck? Oder ist Sachsen wirklich anders? Dem will ich auf den Grund gehen. Vor Ort, im Gespräch mit gebürtigen Dresdnern, Neu-Dresdnern und mit Dresdnern, die nach Jahren oder Jahrzehnten zurückgekehrt sind.

Die Kommunalpolitikerin

Christiane Filius-Jehne ist eine Gewinnerin der gestrigen Kommunalwahl. Die Grünen, für die die Parteilose auf die Liste gesetzt wurde, haben zulegen können ­ zugleich wurde das CDU-Wahlziel durchkreuzt. "Klare Verhältnisse für Dresden" wollte die CDU, womit gemeint war, dass sie nach Bund und Land auch in der Kommune Dresden das Sagen hat.

Ich frage Christiane Filius-Jehne, ob in Dresden der Filz regiert, und an der Art, wie sie antwortet, spüre ich, dass sie die Stadt einerseits nicht in die Pfanne hauen will, andererseits aber wenig Gutes über das Rathaus sagen kann. Der Filz ist nicht das Problem. Doch im Moment scheint die Truppe, mit der die Oberbürgermeisterin regiert, nach Willfährigkeitsaspekten zusammengestellt zu sein. Schon intellektuell sind die einer Stadt wie Dresden unwürdig. Irgendwann wird sich das rächen. (Der Stadthistoriker Matz Griebel, mit dem ich mich später treffe, wird sagen: Wir haben unter einem sehr merkwürdigen Stadtregiment zu leiden.)

Doch wenn Christiane Filius-Jehne jenseits der Kommunalpolitik über Dresden spricht, bekommt sie lokalpatriotische Züge. Die in Ulm aufgewachsene Mutter zweier Kinder, die 1993 ihrem Mann aus Bayern nach Dresden folgte, als der an der TU eine Stelle bekam, fand die Stadt auf Anhieb ideal für Familien. Ganztagskindergärten! Hortbetreuung! Das fantastische Sicherheitsgefühl! Nie macht sie sich Sorgen, wenn ihre 15-jährige Tochter allein unterwegs ist, auch nachts nicht. Und Dresden hat einen Bürgersinn, der einzigartig ist. Es ist ja nicht nur die Frauenkirche, deren Wiederaufbau die Dresdner selbst in die Wege geleitet haben ­ auch weniger berühmte Kirchen sind dank Bürgerinitiative wieder errichtet worden.

Als wir uns auf offener Straße verabschieden, hält ein Wagen, die Fahrerin beglückwünscht zum Wahlergebnis. Man kennt sich, die kurze Begegnung der beiden Frauen wirkt wie ein "Hallo!" zwischen Freundinnen ­ und nicht wie das Zusammentreffen einer Politikerin mit einer Wählerin.

Der Ingenieur

Wissenschaft und Industrie sind in Dresden traditionell miteinander verzahnt. Auch der Flugzeugbau war in der Stadt ansässig. Nach dem Zweiten Weltkrieg begannen Forschungen an düsen-getriebenen Passagiermaschinen; zigtausende Menschen waren im Flugzeugbau tätig. Durch den Absturz eines Prototypen bei einem Testflug im Jahr 1959 fand das alles ein jähes Ende. Die Gerüchte, wonach die Russen, die im Ostblock keine Konkurrenz für ihre Flugzeuge wollten, bei diesem Absturz ihre Hände im Spiel gehabt haben sollen, sind bis heute nicht verstummt.

Der Großvater von Ulrich Goedecke war Ingenieur im DDR-Flugzeugbau, und der Enkel studierte eben dieses Fach, das nach der Wende an der TU Dresden wieder angeboten wurde. Dann ging er nach Donauwörth und Ulm. Heimatgefühle wollten sich in der Fremde nicht einstellen, und so kehrte er nach zwei Jahren, obwohl es karrieretechnisch unvernünftig war, nach Dresden zurück. Er lernte seine Frau Maja kennen, und mit dem Verantwortungsbewusstsein eines jungen Familienvaters gab er den Plan einer Promotion auf und heuerte bei einer Freiberger Fabrik für Fotovoltaik-Elemente an, die seit 1997 existiert und chinesische Zuwachsraten aufweisen kann. Goedecke ist mittlerweile einer von rund 800 festen Mitarbeitern.

Die Familie wohnt in der Johannstadt in einer Maisonettewohnung für fünf Euro pro Quadrat-meter. Das hohe Lied der Familienfreundlichkeit mag die Mecklenburgerin Maja, Betriebswirtin, nicht anstimmen: Sie würde gern arbeiten, findet aber keinen Betreuungsplatz für die Kinder. Zwar gäbe es einen Rechtsanspruch, aber nur, wenn sie Arbeit hat. Eingestellt wird sie wiederum erst, wenn die Betreuungsfrage geklärt ist. "Schilda ist nicht weit von hier", sagt Ulrich Goedecke.

Es kommt noch ein Cousin von Ulrich, Gerd Schönemann, Sparkassen-Filialleiter und Dresdner mit Leib und Seele. Die beiden erklären mir ihre Stadt. Den Kunstsinn der Dresdner gibt es wirklich. "Der Dresdner ist nicht cool", sagt Goedecke. "Künstler werden geachtet. Man freut sich, wenn jemand Musik macht, und fragt nicht gleich: Gefällt mir das jetzt?" Das mit den schönen Künsten hat hier Tradition, ergänzt der Cousin. Die Sachsenkönige hatten wenig militärisches Interesse. Seit 1648 haben sie sich mit den falschen Verbündeten eingelassen. Dafür haben sie Kunst gesammelt ­ und dabei Geschmack bewiesen. Einer hat sich an die Erstübersetzung von Dantes "Göttlicher Komödie" gemacht. Ich höre Geschichte um Geschichte und frage, wieso wisst ihr das alles so aus dem Effeff? Kein Berliner käme auf die Idee, sich auf die Preußenkönige zu beziehen! Die beiden schauen sich an und sind über die Frage verwundert.

Der Wiederaufbau der Frauenkirche hat Dresden verändert: Die Stadt ist aus der Mahner- und Büßer-Rolle herausgekommen, ist lebensbejahender geworden. Ulrich Goedecke räumt ein, mit dem Frauenkirchen-Wiederaufbau, gegen den er anfangs noch war, einen Lernprozess vollzogen zu haben. Dieses ständige "Nie wieder!" war nur noch rückwärts gewandt. Doch weil die Trümmer der Frauenkirche beim Wiederaufbau verwendet wurden, sagt Gerd Schönemann, blieb die Mahnung ja eingebaut, denn die verrußten Steine bilden einen sichtbaren Kontrast zu den neuen, hellen Sandsteinquadern.

Sie schwärmen von der Landschaft, dem Umland und davon, dass einem in der Stadt einfach mal so bekannte Gesichter über den Weg laufen. Der Schauspieler Rolf Hoppe. Oder Gunter Emmerlich, der MDR-Frohsinnsverbreiter vom Dienst. Oder der Steimle.

Der Volksschauspieler

Uwe Steimle ist Kabarettist, Schauspieler, Autor, Westentaschenphilosoph und Grimme-Preisträger. Vor allem ist er Sachse. Wir treffen uns an der Frauenkirche, und er führt mich ein bisschen herum, indem er aus dem "Gestiefelten Kater" zitiert: "Wem gehören die Wiesen? ­ Die Wiesen gehören dem Grafen." Die Häuser und Wohnungen um die Frauenkirche gehören nicht den Dresdnern, sondern einer US-amerikanischen Investmentgesellschaft, die geschmackloserweise so heißt wie die Bomber, die seinerzeit Dresden in Schutt und Asche legten: Fortress.

Mit jedem Schritt mutiert der Spaßmacher, der in seinem Programm mit Gags wie "Was ist der Unterschied zwischen der DDR und dem Kapitalismus? ­ In der DDR wurden die Betriebe erst verstaatlicht und dann runtergewirtschaftet" aufwartet, in ein wandelndes Sachsen-Kompendium. Der Dresdner ist kunstsinnig, behauptet Steimle ­ und begründet das mit der bekannten Sachsen- könige-Story, inklusive Dante-Übersetzung. Als wir uns dem Grünen Gewölbe nähern, erzählt er, dass er den Direktor der historischen Museumssammlung, Herrn Professor Syndram, der vorher in Bielefeld tätig war, gefragt habe, welche Sprachen der Audioguide anbiete. Deutsch, Englisch, Französisch, Russisch, Italienisch, Chinesisch ... ­ Und Sächsisch nicht? fragte Steimle. Und: Herr Direktor, wollen Sie den Audioguide nicht auch in sächsischer Sprache anbieten? ­ Steimle bekam die Texte, vergrub sich mit ihnen für drei Wochen in seiner Wohnung, in denen er sich die Sätze mundgerecht umschrieb und dann aufnahm. Das Ganze wurde nicht nur ein Audioguide, sondern auch ein Hörbuch, das sich mittlerweile schon 15000-mal verkauft hat ­ und in Dresden, wenn überhaupt, wohl nur noch von Harry Potter übertroffen wurde. Durch solche Geschichten erschließt sich mir langsam das Besondere dieser Stadt: Hier gibt es viele Eltern, denen nicht egal ist, ob sich ihr Nachwuchs mit dem Grünen Gewölbe beschäftigt oder nicht. Die vielen Kinder und Jugendlichen, die mit Instrumentenkoffern unterwegs sind, passen ins Bild.

Uwe Steimle pflegt das Sächsische. Seine Botschaft an die Sachsen ist, stolz auf ihren Dialekt zu sein. (Als berlinernder Berliner weiß ich, wie verpönt in Berlin das Berlinische ist. Wollte ein Berliner Volksschauspieler den Pergamonmuseums-Audioguide mit dem Berliner Dialekt besprechen, würde er mit gezuckerten Worten abgewiesen.)

Dass Steimle nicht zum Vorzeigesachsen wurde, liegt daran, dass er es vorzieht, hin und wieder auch Ärgernis zu sein. Wie erst in diesem April. Da stand auf dem Dresdner Postplatz ein Protestmonument gegen architektonische Zumutungen: eine bepflanzte Kloschüssel, die mit dem Spruch "Scheiße gebaut, Stadt versaut" garniert war. Durch das Ordnungsamt wurde der anonyme Protest weggeräumt und ins Rathaus geschafft. Steimle erfuhr davon, als ihn die Sächsische Zeitung anrief und ihn, eine Instanz für Vorkommnisse dieser Art, um ein Statement bat. Nach dem Telefonat verwandelte sich Steimle in Günther Zieschong (eine Kabarett- und Bühnenfigur, die ihn bekannt machte). Er streifte einen braunen Nylonkittel über, setzte sich in seinen 312er Wartburg (Baujahr 66) und fuhr ins Rathaus, um das Toilettenbecken, als dessen Besitzer Günther Zieschong auftrat, für 70 Euro auszulösen. Die Neuerwerbung packte er in den Wartburg und fuhr zum architektonisch ebenso bedenklichen Altmarkt, wo er das Ganze abstellte.

Die Polizei hatte den Wartburg verfolgt und expedierte das sanitär-floristische Ensemble binnen Minuten. Steimle bekam ein amtliches Schreiben, in dem ihm eine Ordnungsstrafe angekündigt wurde. Doch das beeindruckte ihn nicht, im Gegenteil: Im Verein mit architekturkritischen Gesinnungsgenossen verteilte er eines Nachts im gesamten Stadtgebiet bepflanzte Toilettenschüsseln in der Nähe städtebaulicher Zumutungen. Neue Sprüche kamen dazu, zum Beispiel: "Der Ulbricht auf den Altmarkt schaut: Nu so was hätt'sch mor nie gedraud."

Auf dem Neumarkt hingegen, auf dem zum Leidwesen der Dresdner keine Bänke standen (sondern nur Straßencafés, die mit gepfefferten Preisen Sitzmöglichkeiten bieten), hat sich Uwe Steimle als Sponsor einer "Dresdner Bank" hervorgetan. An der einzigen Bank des Platzes prangt ein kleines Schild, das Uwe Steimle und seinen Kabarett-Partner Tom Pauls als Stifter ausweist.

Mir dämmert, was Christiane Filius-Jehne meinte, als sie vom unvergleichlichen Bürgerengagement der Dresdner sprach. Hier ist jeder Protest eigentlich eine verkappte Liebeserklärung an die Stadt. "Die Dresdner haben nichts gegen moderne Architektur, überhaupt nicht ­ nur eben an der richtigen Stelle!", ruft Uwe Steimle aus, und das ist ein verdammt kluger Satz über Architektur. Er zeugt von Haltung, Urteilsvermögen, Selbstbewusstsein, auch von Aufgeschlossenheit ­ und verzichtet zugleich auf hochtrabendes Vokabular. Wo er das gelernt hat? Na, wo schon. Wenn in Dresden irgendwo ein Bauzaun aufgestellt wird, stellen sich die Leute hin, glotzen in die Baugruben und diskutieren an Ort und Stelle.

Als ich ihm bei der Verabschiedung sage, dass ich jetzt Matz Griebel treffe, leuchten Uwe Steimles Augen auf. "Matz Griebel ist Dresden!"

Der Stadthistoriker

Der mittlerweile 72-jährige ehemalige Direktor des Stadtmuseums wohnt in Oberloschwitz, einem Villenviertel in Hanglage. Als ich die Grüße von Steimle ausrichte, will der alte Herr, der zwischen Büchern wohnt, wissen, wo der sich denn mit mir getroffen habe. Ah, auf dem Neumarkt. Ja, das mit der Frauenkirche sei eine feine Sache gewesen, vor allem, weil Dresden den Wiederaufbau zu einem weltweiten Projekt der Versöhnung gemacht habe. Nur sei leider der Neumarkt ein völlig lebloses Gebiet, besonders nachts. Es gibt keine erleuchteten Fenster, keine Blumen vor der Scheibe oder 'ne alte Frau, die mal rausschaut und ihre Katze ruft. Das sind Büros oder Zweit- und Drittwohnungen für Begüterte. Nur die Hotels hätten vereinzelt helle Fenster. So kriegt man das alte Dresden nicht hin.

Es ist eine Freude, dem Mann zu lauschen. Die Dresdner, sagt er, sind zuallererst Sachsen, und das Land Sachsen grenzt an den heißblütigen katholischen Süden, den strengen protestantischen Norden, an den romanischen Westen und den slawischen Osten. Sachsen sitzt an der Nahtstelle gegensätzlicher Mentalitäten ­ das mache den Menschenschlag "fichelant", also wendig, anpassungsfähig. Die Besiedlung Sachsens spielte sich innerhalb von zweihundert Jahren ab. Vorher gab es hier nichts als Wälder. Wie wird das gewesen sein, als die ersten Siedler dem Ruf des Kurfürsten folgten, der ihnen Steuerfreiheit versprach? Die standen "mit nüscht" im Wald. Sie müssen die Wälder gerodet, Hütten gebaut und gleichzeitig für Nahrung gesorgt haben, sonst wären sie verhungert oder erfroren. Alle mussten sich beteiligen, Probleme mussten gemeinsam gelöst werden ­ das prägte den Arbeitsstil. Feierabend gab es nie, wer noch zu wem gegangen ist, sollte doch gleich was mitnehmen, und überhaupt hatten die Menschen ständig etwas in der Hand, ständig wurde gefummelt und gemacht ... ­ Sie wollten auf einem Fleckchen Erde heimisch werden, sage ich, wollten eine Heimat finden, und ihre Heimat wurde die Arbeit. ­ Nu, sagt Matz Griebel.

Der Sachse kam nie zur Ruhe, über Generationen hinweg. Das Ruhelose, Unermüdliche hatte er irgendwann im Blut. Als das mit dem Bergbau zu Ende ging, haben sie mit dem Holzspielzeug angefangen, und als 1990 die Elektroindustrie krachen ging, haben sie wenig später den FCKW-freien Kühlschrank erfunden. Die Nach-Wende-Arbeitslosigkeit liegt wie ein graues Tuch auf dem Land: Mit Nichtstun hat man hier keine Erfahrung.

Dresden war ein Schmelztiegel, hat immer von außen aufgenommen und hat immer nach außen abgegeben. Doch die von hier weggehen, sind von einer krankhaften Heimatliebe. Ein Dresdner in der weiten Welt hat immer sein kleenes Heimatmuseum daheeme. Da hängen die Canalettos an der Wand, die Devotionalien stehen rum, und alte Postkarten werden aufgehoben.

Dresden war übrigens eine beschauliche Residenz. Nicht so wie München, wo sich der Mensch wie ein Mäuschen fühlt, wenn er vor den königlichen Bauwerken steht. Die Sachsenkönige hatten auch an militärischen Dingen kein rechtes Interesse, und so hat der eine Kunst gesammelt, der nächste hat ­ Stopp! rufe ich. Dante übersetzt. ­ Nu, sagt Matz Griebel. Und der letzte hat abgedankt mit den Worten: Dann macht doch euern Mist alleene!

Als ich auf den Bus warte ­ Griebel hat mich in Pantoffeln zur Haltestelle gebracht ­ fällt mir die Geschichte von Melitta Bentz ein, die Dresdnerin, die den Kaffeefilter erfand. Melitta Bentz hielt Kaffeekränzchen, und weil ihre Freundinnen sich an den winzigen Kaffeekörnchen störten, goss sie das Gebräu durch Löschpapier. Die Damen waren begeistert und empfahlen, ein Patent anzumelden. Das war 1908. Es hatte was mit Tüfteln und mit Zusammensitzen zu tun. Eigentlich eine dolle Geschichte. "Die Erfindung der Currywurst" war bekanntlich ein Bestseller. Soll ich mich an "Die Erfindung des Kaffeefilters" machen ­ oder kommt mir womöglich einer zuvor?

Der Schriftsteller

Marcel Beyer kam 1996 aus Köln nach Dresden. Er folgte seiner Freundin, einer Künstlerin, die in Dresden-Pieschen günstig ein Atelier mieten konnte. Die Stadt war damals ganz anders als heute, viel heruntergekommener. Und weil der Kontrast zu Köln gewaltig war, hat er die Lebensumstände erst gar nicht miteinander verglichen, denn "hier ist das eben so".

Neu-Dresdner haben es nicht leicht. Die Alteingesessenen lassen sie nicht so richtig dazugehören. Christiane Filius-Jehne erzählte, dass ihre Vorstöße nicht selten mit "Die Dresdner wissen schon selbst, was für sie gut ist" gekontert werden. Ein Schriftsteller, der etwas grüblerischer veranlagt ist als eine optimistische, zupackende Kommunalpolitikerin dürfte an derartigen Erlebnissen heftiger zu kauen haben.

Marcel Beyer ist dennoch imstande, sich für die Dresdner zu begeistern. Die vielen "Friggler", also Fummler, Tüftler, Experten. Jeder ist auf seinem Gebiet ein Fachmann, sagt Beyer. Ihm sei das klar geworden, als er in einem Geschäft für Modellfahrzeuge war und nach einer russischen SIS-Limousine fragte. Der Verkäufer fragte zurück, ob er das 51er oder das 53er Modell meint. Als Beyer sich unschlüssig zeigte, zog der Verkäufer einen Katalog zurate, der selbst gefertigt war. Das gesuchte Modell ließ sich tatsächlich beschaffen, allerdings mit Wartezeit, denn der Bote kommt zwar direkt aus Russland, aber nur zweimal im Jahr. Oder wenn man mit Dresdnern draußen sitzt. Der Kölner kann ja gerade mal eine Taube von einem Spatz unterscheiden, aber die Dresdner sagen: Ei hör mal, ein Gartenrotschwanz! Und wenn man sie fragt: He, wieso wisst ihr so was, dann gucken die sich bloß an und sagen: So was weiß man doch.

Marcel Beyer hat mittlerweile seinen Roman geschrieben. In "Kaltenburg" geht es um die Ornithologen-Koryphäe Ludwig Kaltenburg, der in Österreich geboren wurde und ab den fünfziger Jahren in Dresden ein Forschungsinstitut leitet ­ ohne je seinen österreichischen Pass abzugeben. Es gab im sozialistischen Einheitsgrau tatsächlich solche Paradiesvögel, und es gab sie auch in Dresden. Beyer schrieb Kaltenburg, um all die virulenten Geschichten über die DDR schnell noch aufzuheben, bevor sie vergessen werden. Solche Geschichten, weiß er, gibt es auch anderswo, aber ihm sind sie nun mal hier begegnet, und deshalb spielt der Roman in der Landeshauptstadt.

Vor Ort wurde Kaltenburg jedoch gar nicht so wild gelesen, wie man bei den Dresdnern, die gleichermaßen interessiert wie kultiviert und lokalpatriotisch sind, erwarten müsste. Marcel Beyer vermutet, dass er immer noch als "der von außerhalb" (sprich: der Wessi) gilt. Dass die Dresdner so denken, ist ihnen leider zuzutrauen. Vielleicht sollten sich die Neu-Dresdner das Sächsische aufdrücken, so wie sich die Sachsen in der Fremde das Sächsische verbieten.

Marcel Beyer spricht Hochdeutsch. Da er ein freundlicher, gut erzogener und feinsinniger Mensch ist, ähnelt er den Dresdnern schon mal mehr als den lärmigen Kölnern mit eingebautem Dauer-Frohsinns-Generator. Er wird trotzdem bald umziehen ­ nach Berlin. "Die Stadt ist jetzt fertig mit sich, hat sich gefunden", sagt er, und: "Dresden ist jetzt nicht mehr so spannend." Es überrascht mich, dass er dieses Wort benutzt. Ich bin mittlerweile so sehr Dresdner geworden, dass ich denke: "Wenn des spannend willst, mei Gutster, geh ins Kino, dir een Scheems Bont anguggn."

Der Rückkehrer

Der Architekt Ralf Weber war lange fort. 1974 ging er in den Westen, dann in die USA. Die Wende erlebte er als Professor in Berkeley. Er sah im Fernsehen die Bilder vom Mauerfall und fühlte, dass er am falschen Ort ist. Sharon Larner, seine Frau, kannte Dresden schon von einem gemeinsamen Besuch 1989, der ein Kulturschock war, weil sich die beiden nachts in Gorbitz, einer riesigen Plattenbausiedlung verirrten. Direkt nach der Wende wollten sie nicht hierher, wegen Sharon, die als Amerikanerin inmitten der Dresdner, die mit Fremden damals noch nicht umzugehen wussten, wohl einiges auszustehen gehabt hätte. Die beiden werden nicht genauer, aber ich kann mir gut vorstellen, wie die Dresdner da mit den besten Absichten einfach nur ungeschickt waren. Wenn jede Lektion als Auftakt den Halbsatz hat, "Sie als Amerikanerin können freilich nicht wissen", dann frustriert das. Sie wohnten jedenfalls zunächst in Berlin, Ralf Weber pendelte nach Dresden. 2002 zogen sie dann endlich in ihr Haus am Fuß eines Elbhanges ein; sie hatten es völlig heruntergekommen gekauft und hübsch renoviert. An dem Tag, als die letzte Umzugskiste ausgepackt war, kam das Hochwasser ­ es stand vier Meter hoch im Haus.

Wir sitzen in einer kleinen Wirtschaft. Die Elbe ist vielleicht hundert Meter entfernt. Am Tresen erinnern Metallmarkierungen an die Wasserstände, die das "Café Clara" erlebt hat. Und so reden wir über das Hochwasser. Dresden hat sich durch die Jahrhundertflut verändert, glaubt Ralf Weber. Ost und West haben seitdem besser zusammengefunden ­ denn es waren die Wessis, die am Altmarkt die Sandsäcke gestapelt haben, Neu-Dresdner oder Dresden-Fans aus dem Bundesgebiet. Aber nicht die Loschwitzer. Die haben von ihren Hängen aus sicherer Höhe zugeschaut, was sich da unten tut.

Ein junger Mann betritt das Café, Sharon Larner stellt ihn als Buchhändler vor. Michael Bormann, der 1995 aus Köln an die Elbe kam, schwärmt von der Stadt. "Mit dem Fahrrad komme ich ohne eine einzige Ampel bis mitten in die Innenstadt", sagt er, "am Elbufer entlang, nur durch grüne Landschaft, also bitte, wo gibt's das sonst?" Und das Dresdner Lesepublikum sei großartig, die kommen und stellen Fragen. Dass Bormann die beantworten kann, darf vermutet werden; auch er ist ein Friggler. 2008 wurde sein winziger Laden vom Branchenmagazin BuchMarkt zur "Buchhandlung des Jahres" gekürt. "Dresden ist dörflich, aber nicht provinziell", sagt Bormann. "Wenn der Briefträger nach Hausnummer 16 fragt, sag' ich, haben Sie nicht den Namen? Hubald? Das ist der Dachdecker, der ist da unten rechts." So ist das in Dresden: Er sei hier nur reingegangen, um eine Zigarette zu kaufen, jetzt steht er hier und redet schon 20 Minuten.

Es gibt noch eine Geschichte, welche die Dresdner Mentalität zu erhellen vermag. Sie handelt von einem Baumeister des "Blauen Wunders", einer in ihrer statischen Grundidee bis heute beispiellosen Brücke. Vor der Einweihung am 15. Juli 1893 war ein Belastungstest vorgesehen, bei dem die Brücke vierspurig mit Pferdegespannen vollgestellt werden sollte. Im Zweifel, ob seine Brücke dieses aushalten werde, nahm sich der Baumeister in der Nacht vor dem Test das Leben. Die Geschichte ist nicht wahr, aber sie hält sich, weil sie von Bescheidenheit bei gleichzeitiger Könnerschaft erzählt. Denn das "Blaue Wunder" steht bis heute, es hat jahrzehntelangen Straßenbahnverkehr und Fernlaster ausgehalten.

Wie lange werden sich die Sachsen, die anderswo was werden wollen, noch ihren Dialekt austreiben? Es wird der Tag kommen, an dem Nicht-Sachsen Sächsisch lernen, um von Sachsens Image zu profitieren. Und das "Nu, mir gönn!"-T-Shirt zum Bewerbungsgespräch überstreifen.