Ein Mythos meldet sich zurück

Einst war Hellerau berühmt. Als Treffpunkt des intellektuellen Europas. Als Produktionsort für eine neue Generation von Möbeln. Und als Versuch sozialreformerischen Wohnens. Dann geriet der Vorort Dresdens in Vergessenheit. Und jetzt?




Es ist Anfang Juni. In einem der üppigen Gärten wächst eine rote Riesenblüte aus Kunstharz. In den alten Werkstätten wird getanzt. In der Apotheke am Marktplatz steht rezeptpflichtige Kunst im Schaufenster. "Ist das nicht irre", sagt ein Architekt, der extra aus Berlin angereist ist. 40 Hellerauer spielen Galeristen. Und Neugierige dürfen zum Gucken in ihre Gärten, Wohnzimmer oder eben in die Apotheke kommen. "Eine wunderbare Idee."

Eigentlich sollte es nur eine kleine Ges-te werden. Anlässlich des 100. Geburtstages der Gartenstadt. Ein paar Hellerauer, so die ursprüngliche Vorstellung, sollten je einen Künstler einladen, für ihr Zuhause ein Werk zu schaffen. Einzige Vorgabe: Die Kunst sollte sich mit dem Leben hier beschäftigen. Eine schöne Idee. Ganz einfach. Ganz klein.

Doch dann wollten plötzlich viele Gastgeber sein. Die Idee geriet zum Ereignis. Am nächsten Tag werden die Organisatoren von Tausenden Besuchern berichten. "Ein richtiges Volksfest", sagt Katharina Schmidt. Im Garten der Juristin steht eine rund drei Meter hohe Skulptur des Dresdner Künstlers Jean Kirsten: Mehrere aneinandergefügte Kuben greifen die Form des Festspielhauses auf. Darauf Zitate von Menschen aus Helleraus Gründungszeit. Daneben, gesammelt in einer Mappe, Zitate von derzeitigen Bewohnern. Damals wie heute ist die Rede von "Geordnetheit und Geborgenheit", von den "Deutschen Werkstät-ten" und von einem "architektonischen Gesamtkunstwerk". Momentaufnahmen. Gestern und heute. "Das ist immer noch miteinander verbunden", sagt Katharina Schmidt. Wie das? Die 33-Jährige zuckt mit den Schultern. "Weil wir gerne Kultur leben?"

Hellerau. Das war eine große Idee Anfang des 20. Jahrhunderts ­ mit einer Strahlkraft, die bis heute anhält. Ein Ort, den seine Gründer vor 100 Jahren nicht schöner hätten planen können. Weltberühmt damals. Hier sollten Menschen leben und arbeiten, nach Perfektion streben und Kultur schaffen. Hier sollte das eine in das andere übergehen. Hier sollte Neues entstehen und sich mit Gewachsenem verbinden. Mitten in der Natur, aber nur knapp zehn Kilometer von Dresden entfernt. So will es der Mythos. Und so ist Hellerau bis heute. In Teilen.

Gestern, das war die Idee des Fabrikanten Karl Schmidt. Um die Jahrhundertwende hatte der gelernte Tischler seine 1898 eröffneten Werkstätten bereits zur Marke für wegweisendes Raumdesign gemacht. Weil Schmidt formschöne und qualitativ hochwertige Möbel auch für die Massen erschwinglich machen wollte, hatte er die erste industrielle Möbelfertigung in Deutschland gewagt. Ein erfolgreiches Experiment.

Als Schmidt 1909 eine größere Fabrik brauchte, wollte er daneben einen Ort schaffen, der mehr sein sollte als ein Quartier. Der Unternehmer träumte von einer Siedlung in der Natur mit den Ingredienzien einer eigenständigen Stadt. Hier sollten seine Arbeiter gesünder und zufriedener leben ­ und produktiver arbeiten. Nördlich von Dresden fand Schmidt einen hügeligen Ausläufer der Heide, die Aue am Flüsschen Heller, das heutige Hellerau.

Kunst für alle

Alle Mieter bekamen Erbpachtverträge. Keiner musste fürchten, sein Heim zu verlieren, wenn er einmal nicht mehr im Dienste der Firma stand. Eine Revolution. Deutschland wurde noch von einem Kaiser regiert, die Massen lebten in bitterer Armut in dunklen, zugigen Hinterhöfen. Hellerau war ein sozialreformistisches Experiment im Grünen, die erste deutsche Gartenstadt.

1910 nahmen die Werkstätten die Produktion nördlich von Dresden auf. 1913 lebten bereits 1900 Menschen in der neuen Stadt. Auch das Festspielhaus hatte da schon eröffnet, ebenfalls vorangetrieben von den Werkstätten. Ihr Erziehungsprogramm für eine bessere Gesellschaft hieß "Kunst für alle". Musik und Bewegung, die Rhythmik, sollte die Menschen körperlich und emotional aus den gesellschaftlichen Zwängen der damaligen Zeit befreien. Das Festspielhaus machte Hellerau endgültig zum Ort der Avantgarde, zur Kultstätte. Bis zum Ersten Weltkrieg strömten Prominente wie der Architekt Le Corbusier und die Schriftsteller Franz Kafka und Rainer Maria Rilke in den Vorort Dresdens. Neben Arbeitern lebten jetzt auch Künstler, Schriftsteller, Architekten, Päd-agogen und wohlhabende Bürger hier. Die Einheit von Wohnen und Arbeit, Kultur und Bildung in einer inspirierenden Gemeinschaft war nicht länger Utopie. Hellerau wurde zum Mythos.

Und heute? Was ist aus den Idealen geworden? Sind sie noch spürbar in Zeiten von Landflucht und weltweit wachsender Mega-Citys?

Die Blumenverkäuferin in der Dresdner Innenstadt ist ratlos: "Hellerau?", sagt sie an jenem sonnigen Junitag. "Keine Ahnung, wie Sie dahin kommen."

Die Linie 8 fährt hin, stellt sich heraus. Durch die Dresdener Innenstadt geht es, die Vorstadt, das Gewerbegebiet, vorbei an Schrebergärten und dann scharf links durch einen Wald, hinter dem die Siedlung schließlich auftaucht. Links und rechts der Straßenbahn stehen liebevoll restaurierte Häuschen mit gelben Fassaden und grünen Fenster- und Türrahmen.

Ingrid Pritzkow ist 67 Jahre alt und wohnt schon seit DDR-Zeiten hier. Als die Lehrerin für Deutsch und Geschichte 1979 in die Gartenstadt zog, war das für sie "wie nach Hause zu kommen". Hier fand sie Gleichgesinnte, Hellerau wurde ihr geistiger Zufluchtsort. Ihr Mittel zum Protest. Als ein Bonze in der Nachbarschaft eine Garage an sein denk- malgeschütztes Haus setzen ließ, liefen sie Sturm. "Natürlich wurde sie trotzdem gebaut", sagt Pritzkow schmunzelnd, "aber wir nutzten den Denkmalschutz und eine intensive Beschäftigung mit Helleraus Geschichte, um uns gegen das Regime aufzulehnen."

Damals war der Ort für viele Dresdner eine Art Niemandsland. Die Russen okkupierten das Festspielhaus als Sporthalle und Kaserne. Hellerau war als militärische Sperrzone von der Landkarte verschwunden. Nur den Werkstätten haftete noch ein wenig Berühmtheit an. Als Möbelkombinat produzierten sie Einheitsschick in Masse. Auf eine Schrankwand aus Hellerau, zu DDR-Zeiten der Trabi unter den Möbeln, musste mancher jahrelang warten. "Bei uns dauerte es nur ein paar Monate", sagt Pritzkow und weist auf ihre 1966 gekaufte Möbelwand, mit der sie später ganz nah an die Produktionsstätte zog. "Wahnsinnig praktisch, mit viel Platz und Klapptüren, hinter denen auch Bücher verschwinden konnten, die niemand sehen sollte."

Vielfalt fürs Auge

Ihre Entscheidung für die Gartenstadt hat die Seniorin bis heute keine Sekunde bereut, auch wenn die Idee von fußläufigen Wegen zwischen Wohnen und Arbeit bei den meisten ihrer Nachbarn inzwischen längst in Vergessenheit geraten ist. Wer hier lebt, hat in der Regel ein Auto und fährt ins Büro in die Dresdner Innenstadt. Die Mitarbeiter der Deutschen Werkstätten wohnen heute in einem anderen Kiez.

Die Mieten sind relativ hoch. Neben Rentnern wohnen hier vor allem gut verdienende Angestellte, Beamte und Selbstständige. Singles sind kaum darun-ter, dabei könnten gerade sie von einem Standort wie Hellerau profitieren, findet die alte Dame. In Zeiten, in denen jeder schnell, mobil und flexibel sein soll, wachse schließlich der Wunsch nach Entschleunigung. Die Sehnsucht nach Identität, Gemeinschaft und Gespräch. Und wenn auch viel von dem, was Hellerau einst als Ganzes ausmachte, den Menschen heute nicht mehr bewusst sei, teile sich dem, der richtig hinschaue, doch viel mit von dem, was damals wie heute hier lebt.

Das Auge weiß gar nicht, wo es anfangen soll in diesem Idyll, das Besucher in der Vergangenheit je nach Temperament Utopie, Phänomen, Künstlerkolonie oder auch Experiment getauft haben. Am sonnigen Hang stehen gelbe Landhäuser, aus dem Tal schlängeln sich kleine Reihenhäuschen zum Marktplatz hinauf. Es ist eine von Könnern gemachte Schönheit. Mit Straßen, die nicht gerade angelegt wurden, sondern kurvig. Mit Fassaden, die keinen Wert legen auf Symmetrie. Und mit Villen, die trotz aller Unterschiede eine innere Verwandtschaft aufzeigen. Obwohl von den Gründervätern genauso geplant, wirkt alles wie über die Zeit geschaffen, als hätte man immer mal wieder angebaut "wie bei alten, gewachsenen Ortschaften", sagt Clemens Galonska. "Das ist geplante Dörflichkeit."

Der Architekt aus Düsseldorf lebt seit Jahren in einem der Reihenhäuser "Am Grünen Zipfel". In dieser Straße wohnten früher die Arbeiter der Werkstätten. Jedes Haus hat einen kleinen Nutzgarten. "Damals wie heute perfekte Orte für ein Gespräch über den Gartenzaun", sagt Galonska. Überall gibt es solche Orte der Kommunikation. Da verbreitern sich Straßen zu Plätzen, wie nachgebaute Dorfanger sieht das aus. Da werden an Kreuzungen die Gärten kurzerhand von hinten nach vorn geholt, was dem Ganzen Offenheit und Großzügigkeit verleiht. Da gibt es Reihenhäuser, deren Hauseingänge über eine gemeinsame Veranda zugänglich sind. "Wettergeschützte Orte der Begegnung, die der Architekt deshalb mit Sitzbänken ausgestattet hat", erklärt Galonska, dann biegt er links ab auf einen der autofreien Gartenwege, die hinter den Häuserzeilen wie ein zweites Wegenetz durch die Siedlung führen.

Drei Minuten später steht er auf dem großen Hof der Deutschen Werkstätten Hellerau. Eine Anlage, die eher an ein ländliches Gut oder ein Schloss erinnert als an eine Fabrik. Hier schuf Karl Schmidt vor knapp 100 Jahren revolutionäre Arbeitsbedingungen. Hier hatte jeder Arbeiter einen Platz an einem der riesigen Werkraum-Fenster. Hier wurden schon damals Späne und Abfälle gesammelt, unter dem Hof durch Kanäle zum "Spänebunker" abtransportiert und später verbrannt. "Aus diesem Holz- abfall hat man schon Jahrzehnte vor Joschka Fischer Energie gemacht", sagt Galonska. Sie erhitzte Wasser und lieferte teilweise den Strom. "Karl Schmidt war einfach in allem, was er tat, unglaublich progressiv."

Das Motto des Gründers ist heute am Eingang der Werkstätten zu lesen:

Nach altem guten Brauche wollen wir in allen Dingen sein, nicht scheinen; darum

erachten wir eine saubere, untadelige Ausführung als eine unserer vornehmsten

Aufgaben.

Wenn wir von heute sein wollen und nicht von vorgestern und nicht von übermorgen, so glauben wir dieses Ziel nicht zu erreichen, indem wir etwas "anderes" machen als andere, sondern etwas Besseres.

Die Philosophie treibe sie noch immer an, sagt Fritz Straub, der Mann der die Geschicke des Unternehmens in der Neuzeit leitet. Der 66-Jährige, weißes Haar, blaues Hemd und orangefarbene Hose, empfängt den Gast hinter einem gläsernen Schreibtisch. So unkonventionell wie die Aufmachung des Chefs ist auch der Ort des Geschehens: Straubs Arbeitsplatz ist nur durch ein brusthohes Regal vom Rest des Großraumbüros getrennt. "Die Motivation ist, der Beste zu sein", sagt er. Die Deutsche Werkstätten Hellerau GmbH gehört mit ihren 200 Mitarbeitern zu den ersten Adressen für Ausbauten von Yachten, Villen und Bürogebäuden.

An so einen Erfolg mochte nach der Wende kaum einer glauben. Inklusive Fritz Straub, der das Unternehmen, bevor er es sah, aufgrund des Namens für Behindertenwerkstätten gehalten hatte. Auch von den Anfängen des Betriebs und von der großen Idee des Gründers wusste der ehemalige Pharma-Manager nichts, als er die Werkstätten mit drei Geschäftspartnern seinerzeit von der Treuhand kaufte. Die Westdeutschen übernahmen 85 der damals 300 Mitarbeiter, stellten die serielle Möbelproduktion ein ("Kombinierbare Schrankelemente von eher mittelmäßiger Qualität wollte nach der Wende keiner haben") und machten den Innenausbau, zu DDR- Zeiten ein kleines Zubrot, zum neuen Kerngeschäft. "Wir wollten dennoch das- selbe wie der Gründer", sagt Straub. "Die Verbindung von fortschrittlicher Technik mit Kunsthandwerk."

Die Fertigung ist ein Mikrokosmos voller Konzentration. Geduld. Und Liebe zum Detail. Da bereiten fachkundige Tischler von Hand Massivholz und Furniere aus exotischen und einheimischen Hölzern vor, darauf bedacht, keine Maserung zu übersehen, weil am Ende der Gesamteindruck stimmen muss. Da wer- den Intarsien in eine Palisanderschicht gearbeitet, und unscheinbar anmutende Furnierblätter verwandeln sich in glänzende, hochspiegelnde Flächen: Bis zu 20-mal bearbeiten die Spezialisten jedes Werkstück. Immer wieder schleifen sie es zwischen. Von Hand. Und mit viel Geduld, weil sich der Lack nicht erhitzen darf, sonst verschmiert er. In Hellerau sind fast 75 Prozent aller Arbeitsgänge Handarbeit. Nur das Fräsen, Sägen und Bohren übernehmen moderne Maschinen.

Zurück im Büro erzählt Straub vom schwierigen Übergang von der Plan- in die Marktwirtschaft und vom Durchbruch, der Mitte der neunziger Jahre gelang, als der Betrieb den Plenarsaal des Sächsischen Landtags ausbaute und sich damit die Eintrittskarte in die Welt der anspruchsvollen Innenarchitektur schuf. Er erzählt, dass sie für den Architekten Hans Kollhoff im großen Konferenzsaal des Auswärtigen Amtes 6800 Quadratmeter Furnier aus einem einzigen Kirsch- baumstamm herstellten, dass sich Konstruktion, Fertigung und Montage eines Yachtausbaus leicht auf 25000 Arbeitsstunden summieren und wie mit jedem neuen Auftrag über die Jahre aus einer "etwas überqualifizierten Handwerkertruppe" ein innovatives, erfolgreiches Unternehmen wurde. Rund die Hälfte ihres 30-Millionen-Euro-Umsatzes erzielen die Werkstätten inzwischen mit dem Ausbau von Luxusyachten. Seit 1996 erzielt das Unternehmen kleine Gewinne. Einbrüche gibt es immer wieder. Doch der Trend stimmt.

Im August 2006 sind die Werkstätten in ein neues Gebäude gezogen. Die alten Räume wurden zu eng. Aber der Spirit der Gründer war mit im Umzugsgepäck. Genau wie Karl Schmidt setzt auch Fritz Straub auf eine exzellente Ausbildung sowie auf Kreativität und Leidenschaft, die aus seiner Sicht nur entstehen, wenn es gelingt, Prozesse zu entfesseln, an denen viele Menschen beteiligt sind. Für ständig neue Impulse sorgt wechselnde Kunst mitten im Großraumbüro. Dort finden nicht nur regelmäßig Ausstellungen statt, sondern alle paar Wochen auch klassische Konzerte, der Eintritt ist frei. Nachbarn aus dem Ort reservieren schon Stunden vorher die besten Plätze.

In Momenten wie diesen funktioniert der Austausch mit der Gartenstadt. Darauf ist Straub stolz, genau wie auf das gewaltige ideelle Erbe, das er mit dem Erwerb der Werkstätten übernommen hat. Und auch wenn er findet, dass der Mythos Hellerau ein Phänomen seiner Zeit war, "eine nicht zu kopierende Sozialutopie", treibt ihn heute doch um, was auch den Utopisten Schmidt ehedem antrieb: "Mit hohem Anspruch etwas Eigenes zu schaffen. Immer Neues zu lernen. Eine Aufgabe zu finden. Gemeinsam mit anderen."

Mit ihnen und für sie ­ diese Haltung strahlt auch der Neubau der Werkstätten aus. Selbst wenn die Nachbarn nur an der gläsernen Fassade des Gebäudes vorbeilaufen, hinter der Handwerker, Architekten und Statiker arbeiten. Für jedermann gut zu sehen, tagsüber, vor allem aber abends, wenn sie das Licht wie auf einer Bühne präsentiert. Die Botschaft ist: Wir sind ein Teil von euch. Und Hellerau ein Teil von uns. Auch das macht den Ort bis heute zu einem Magneten für Menschen, denen nicht egal ist, wo sie arbeiten und leben. Menschen wie Stephan Riedel.

Der Geschäftsführer des Solarunternehmens SunStrom arbeitet in einem der Atelierhäuser, die zu den alten Produktionshallen der Werkstätten gehören. "Ein Standort, in den man sich verlieben muss." Von seinem Büro schaut Riedel auf den mit Kastanien bewachsenen Hof des alten Gebäudekomplexes. "Das macht einfach gute Laune und inspiriert. Unsere Mitarbeiter und Kunden fühlen sich wohl hier."

Ein kleines Oxford

Dort, wo Karl Schmidt 1910 seine Fertigung aufnahm, haben sich in den vergangenen Jahren mittelständische Technologiefirmen einquartiert: Hier werden Testkits zur genetischen Identifizierung von Tieren und Menschen entwickelt, Solarstromanlagen geplant und Maschinen zur Chip-Produktion vertrieben. Hier treffen sich im Verein "Genius Hellerau ­ Werkstatt des Wandels" regelmäßig Manager, Wissenschaftler, Politiker und Kulturschaffende, um miteinander zu diskutieren. Mittendrin arbeiten Architekten und Designer. Und unterm Dach haben Künstler Ateliers. Es ist ein Kreativzentrum, in dem der Geist von Hellerau ganz bewusst konserviert wird. Mit Holz und restaurierten Details aus der Gründerzeit und mit viel zeitgenössischem Komfort. "Das finde ich in keinem Gewerbegebiet", sagt der gebürtige Hamburger Riedel.

Als er im Jahr 2000 auf der Suche nach Büroräumen mit seinem Geschäftspartner in die Peripherie von Dresden kam, wusste er nichts von der Historie des Ortes. Doch schon beim ersten Spaziergang, sagt er, war er fasziniert. Die beiden Existenzgründer mieteten sich in einem Souterrain-Büro ein. Inzwischen ist ihre Firma auf knapp 100 Mitarbeiter gewachsen, seit Anfang 2008 lebt auch Riedels Familie hier. "Es ist wie ein kleines Oxford", sagt der 41-Jährige, "mit intelligenten Leuten, Familien, Ruhezonen und Natur zum Entspannen."

Seit der Wende ist Hellerau bunter geworden. Als in den neunziger Jahren Infineon und Qimonda um die Ecke ihre Fabriken bauten, kamen viele Chip-Spezialisten mit ihren Familien und gaben der ursprünglichen Idee der kurzen Arbeitswege neuen Auftrieb. Schon die Aussprache verrät die Zugezogenen. Die Alteingesessenen sagen Heller-au, das au leicht abgesetzt. Darauf legen sie Wert. Es ist Teil ihrer Identität. Doch egal, ob der Bewohner Heller-au oder Hellerau sagt: Die Identifikation mit dem Wohnort ist generell höher als anderswo, fand 2008 ein Geografie-Student im Rahmen seiner Diplomarbeit heraus. Und auch das ergab die Befragung: Fast jeder hier hat eine kritische Haltung zum Festspielhaus.

Der Raum der Hochkultur thront etwas abseits, ganz oben auf dem Hügel. "Manchmal ist es mir hier fast zu abgeschieden", sagt Dieter Jaenicke; der gebürtige Rostocker leitet das Europä-ische Zentrum der Künste Hellerau seit Anfang des Jahres. Auf dem Vorplatz des strengen, sachlich monumentalen Gebäudes machen gerade Seminarteilnehmer aus Lateinamerika und Europa Kaffeepause. Ihr Thema: Wie kann die Kunst positive Veränderungen für eine tragfähige Gesellschaft generieren? "Wo könnte man so etwas besser diskutieren als hier?", fragt Jaenicke.

Der künstlerische Leiter hat lange im Ausland gearbeitet, zuletzt sechs Jahre in Rio de Janeiro. Daher weiß er: "In der internationalen Kunst- und Kulturszene ist Hellerau weltweit noch immer ein Begriff." Anders als beim Dresdner Publikum, die das Festspielhaus "mit distanzierter Sympathie" betrachteten. Zu experimentell, zu abgedreht, zu wild ist ihnen das Programm bisher gewesen. Und so etwas Ähnliches will das Festspielhaus ja auch sein: der Gegenentwurf zu den traditionellen Künsten in der Dresdner Innenstadt.

Nachdem die russische Armee das Gelände 1992 räumte, blieb es lange fast ungenutzt. Erst 2004 wurde es wieder lebendig. Das Europäische Zentrum der Künste Hellerau entstand. Damals wurde der amerikanische Choreograf William Forsythe, der in der Tradition der großen Dresdner Ausdruckstänzerin und Tanzpädagogin Gret Palucca arbeitet, mit seiner Company Stammgast. Und die Sanierung des Festspielhauses begann. Das Ergebnis des Umbaus ist kein piekfein geleckter Kulturort, sondern ein Zentrum, in dem es interdisziplinär zugeht: Hier treffen sich Tänzer, Musiker, bildende Künstler und Videokünstler zum Arbeiten und Experimentieren. In den nächsten zwei Jahren will Jaenicke das Haus zum wichtigsten Zentrum zeitgenössischer Künste in Ostdeutschland machen. Dazu hat die Stadt sein Budget deutlich erhöht ­ im Gegenzug hat Jaenicke sein Programm modifiziert und in den vergangenen Monaten auch schon mal leicht verdaulichen zeitgenössischen Tanz und populäre Veranstaltungen serviert.

Ein Gedicht mit Frühstück

Kürzlich lud er rund 60 Gäste für eine Nacht ins Festspielhaus ein. Unter dem Titel "Bed and Breakfast" wanderten Musiker zwei Stunden von Bett zu Bett, sangen die Gäste in den Schlaf und rezitierten Gedichte. Der Kunstausflug endete am Morgen mit einem opulenten Frühstück. Jaenicke nennt das Programm einen großen Erfolg. Aber nicht alle Beobachter fanden das Theater geglückt, einige Dresdner beschwerten sich bei ihrem Kulturbürgermeister über eine "Grenzüberschreitung".

Der neue künstlerische Leiter hat jede Menge solcher Ideen. Jüngst tanzten Hellerauer Kinder nach Vivaldis "Vier Jahreszeiten" durch den Hauptsaal, eingehüllt in bunte Plastikplanen oder Laken, ein Rhythmik-Projekt von Grundschule und Kindergarten. Die Wände waren geschmückt mit Projektionen von Bildern, die der Nachwuchs in den Monaten zuvor beim Hören von Vivaldi gemalt hatte. Wunderbar sei das gewesen, sagt Jaenicke: "Das Haus war proppevoll mit Menschen von hier."

Dass die Annäherung zwischen Bürgern und Festspielhaus nicht immer so gut klappt, liegt, wie gesagt, am Programm. Aber nicht nur. Jaenicke wollte es kaum glauben, als er die Bewohner nach seinem Amtsantritt nach dem Grund ihrer Skepsis befragte. Inzwischen hat er gelernt. Vor allem die Betonmauer aus Armee-Zeiten ist eine mentale Hürde. Für den Kunstschaffenden ein Aha-Erlebnis: "Die Mauer muss weg."

Friederike Hartmann freut sich über solche Signale. Die Norddeutsche war früher Tänzerin, inzwischen betreibt sie Kulturmanagement. Die 41-Jährige genießt es, direkt vor der Haustür weltberühmte Tanz-Companys zu sehen. Sie freut sich, dass die Grundschule vor einigen Jahren wieder Rhythmik-Unterricht eingeführt hat. Und sie glaubt fest an die Strahlkraft des Festspielhauses in den Alltag, auch wenn sie im Publikum fast nie jemanden aus dem Ort trifft: "Es ist doch schon inspirierend, sich vorzustellen, heute auf denselben Straßen unterwegs zu sein wie früher Hermann Hesse oder Franz Kafka." Dieses Wissen, die Schönheit des Ortes, die Könnerschaft der Werkstätten und das Zusammengehörigkeitsgefühl der Bewohner, all das, ist Hartmann sicher, bringe wieder Künstlerisches und Kreatives hervor. Weil sich die einzelnen Teile gegenseitig stärken und beflügeln und ein Endprodukt bilden, das größer als jedes Einzelteil ist. "So etwas kann man nicht planen oder erzwingen, das entsteht ganz von selbst", glaubt die Kulturmanagerin ­ und verweist auf das gerade erst zu Ende gegangene Kunstprojekt. Da meldeten sich bei Hartmann, die im Auftrag des Bürgervereins die Organisation übernahm, Hellerauer als Gastgeber, von denen sie nie ein Inte-resse erwartet hätte. "Das Ergebnis war ein facettenreiches und sehr persönliches Porträt der Gartenstadt."

Im Garten von Gero Neuroth stellte die Dresdner Künstlerin Andrea Hilger auf fünf Glasscheiben die Geschichte der Gartenstadt aus. Die abstrakten Malereien zeigten Anfänge, Blütezeit, Weltkrieg, die dunkle Phase unter den Nationalsozialisten und der Roten Armee und schließlich den Aufbruch von Hellerau. Auf der letzten Scheibe stehen grelle Farben über einem trennenden Gartenzaun für ein aufstrebendes Festspielhaus, die dunklen, auslaufenden Farbflächen darunter bilden die ausblutende Gartenstadt.

Gero Neuroth kann auch seine eigene Geschichte in der Darstellung sehen. Anfang des Jahres verlor der Silizium-Experte bei Qimonda seinen Job, von den Kollegen in der Nachbarschaft sind inzwischen fast alle arbeitslos. Viele wollen jetzt weg, auch Neuroth sucht nach einem Job, nicht nur in Dresden. "Wegzugehen würde uns schwerfallen", sagt er, "aber so ist das Leben." Und darum ging es ja immer schon in Hellerau: um Veränderung. Um das richtige Leben.