Der Zauberer von Ost

André Sarrasani ist der jüngste Zirkusdirektor Deutschlands. Mit Dinnershows und einem Rundumkonzept will er dem alten Gewerbe neuen Glanz verleihen.




Als die Zirkuswagen 1990 in die Stadt rollen, ist es für die Dresdner, als sei ein lange verschollenes Familienmitglied endlich in die Heimat zurückgekehrt. In Scharen strömen sie herbei, einige streichen ehrfürchtig mit der Hand über die grün-weißen Trucks und sagen: "Unser Sarrasani ist wieder da."

45 Jahre lang war ihr Zirkus nicht in der Stadt. Dabei hat der Name Sarrasani Klang und Tradition in und um Dresden: Gründervater Hans Stosch-Sarrasani war um 1900 schon ein berühmter Dressur-Clown, als er in Radebeul sein eigenes Zirkusunternehmen gründet. Bald brüstet er sich mit dem "modernsten Circus der Jetztzeit", mit elektrischer Beleuchtung, und schafft zwölf Dampfloks zum Ziehen der Wagen an. 1912 baut er in Dresden den ersten festen Zirkus Europas, ein Theater für 3600 Zuschauer, mit zwei Restaurants. Stosch-Sarrasani ist ein Pionier der Erlebnisgas-tronomie, seiner Zeit voraus. 1945 zerstören Bomben den Bau. In Mannheim wird Sarrasani 1956 neu gegründet, doch in Dresden darf der Zirkus bis zum Ende der DDR nie gastieren.

"Es war ein überwältigendes Gefühl, als ich 1990 das erste Mal hierherkam", sagt André Sarrasani, Urenkel des Zirkusgründers. Er ist in Heidelberg geboren, sein Leben lang durch die Welt getingelt, doch wenn er heute von den Dresdnern spricht, sagt er "wir".

Der Zirkusmanager residiert in einem ehemaligen Konsum-Einkaufsladen gegenüber der Gläsernen Manufaktur von VW. In dieser Nachbarschaft erscheint sein schmuckloser Firmensitz wie ein Relikt aus vergangener Zeit.

Doch André Sarrasani, 36, versucht alles, damit sein Unternehmen und er nicht so wirken. Er trägt das graue Haar elegant zurückgekämmt, ein schwarzes T-Shirt und Jeans, und wenn er spricht, dann auch mit den Händen. Er kramt eine Mappe mit Ansichtskarten aus den zwanziger Jahren hervor. Sie zeigen begeisterte Dresdner, die den Elefanten beim Baden in der Elbe zusehen, und immer wieder den pompösen Zirkusbau. Das sei sein Ziel, sagt Sarrasani: es seinem Vorbild und Urgroßvater nachzutun und wieder einen festen Zirkus in der Stadt zu errichten.

Dann steht er vor einer massigen Schrankwand, Marke Eiche rustikal, ein Erbstück vom Vater, das er "niemals hergeben würde". Tradition zählte schon immer bei Sarrasanis. Eine ganze Sammlung grün-weißer Märklin-Zirkuswaggons aus den zwanziger und dreißiger Jahren findet hier Platz. "Alles Geschenke von Dresdnern", sagt Sarrasani. "Diese Euphorie ist mein Motor, hier wieder etwas aufzubauen." Natürlich treibt ihn auch die exzellente Lage an, erzählt er später, das große Einzugsgebiet und die vielen Touristen.

Ob sein Traum wahr wird, müssen die kommenden Jahre zeigen. "Für uns wird es immer schwieriger, Zuschauer zu gewinnen", sagt Sarrasani. Viele traditionsreiche Zirkusunternehmen verschwanden in den vergangenen Jahren endgültig von den Festplätzen der Republik, die verbliebene Handvoll kämpft gegen Kino, Fernsehen, Computer und ein angestaubtes Image. "Unsere Aufgabe hat sich verändert", sagt Sarrasani, "früher reichte es, Kuriositäten zu zeigen wie den stärksten Mann oder die dickste Dame ­ heute sind wir Entertainer in einem übervollen Markt."

Um zu bestehen, muss sich das Fami-lienunternehmen immer wieder neu erfinden, glaubt er. Sein Rezept: klassische Zirkuselemente gemischt mit Varieté und einem Vier-Gänge-Menü. Bislang mit Erfolg, findet er, mehr als 165000 Gäste besuchten die Shows in den vergangenen fünf Jahren. Doch davon allein kann Sarrasani nicht leben. Längst bietet er einen Eventservice an, vermietet seine Zelte und die Veranstaltungstechnik. Auch als Motivationstrainer kann man ihn buchen, und im Fernsehen saß er schon in der Jury einer Talent-Show neben Dieter Bohlen.

Bei alldem steht ihm kein großer Stab zur Verfügung. Rund 20 Mitarbeiter beschäftigt er ganzjährig. Nur im Winter, wenn sein Varietétheater den Vorhang öffnet, sind es mehr als 80 ­ die Akrobaten, Dompteure und Clowns kommen aus den verschiedensten Ländern. Überall packt der Direktor mit an, beim Aufbau, in Marketing und Organisation. Während der Spielzeit steht er abends sogar selbst als Magier auf der Bühne und lässt Damen verschwinden und wieder auftauchen.

Während er vom harten Geschäft mit der Illusion erzählt, schweift sein Blick zu den glitzernden Kostümen, die an der Garderobe seines Büros hängen. Irgendwie sei er zweigeteilt, sagt Sarrasani. Auf der einen Seite Künstler, auf der anderen Unternehmer. "Der Künstler in mir will die größte Show bieten und alles, was man dafür braucht, sofort haben. Als Unternehmer weiß ich, dass wir langsam und konstant wachsen müssen." Schließlich gilt es, das Werk des allgegenwärtigen Zirkusgründers Hans Stosch-Sarrasani zu bewahren.

Das ist auch der Grund, weshalb der Urenkel einmal im Jahr auf Inspirationsreise nach Las Vegas geht. Die Kasino- und Show-Stadt hat schon für manche Anregung gesorgt, aber die mächtigen Wasserspiele vor den Hotels lassen Sarrasani kalt. Was andere Touristen in Erstaunen versetzt, kennt er längst. Er hat die Attraktionen auf den alten Ansichtskarten gesehen. Hans Stosch-Sarrasani, der findige Sachse, lockte damit die Zuschauer ­ vor gut hundert Jahren.