2 + 2=1

Dwe reci, dwe kulturje, jedna domizna. Wopyt pola Serbow w Budysinje. Zwei Sprachen, zwei Kulturen, eine Heimat. Ein Besuch bei den Sorben in Bautzen.




Das Interview ist fast zu Ende, der Reporter bedankt sich schon bei seinen drei Gesprächspartnern aus der 8a ­ da will Bozena unbedingt noch eine Sache loswerden. "Sorbin zu sein", sagt die 15-Jährige mit ihrer kindlichen Stimme, "das ist für mich etwas ganz Besonderes. Weil wir eine kleine Minderheit sind in einem großen Land. Eine Minderheit, die es nicht immer leicht hat, aber trotzdem stark ist."

Hier jedenfalls könnte das sorbische Selbstbewusstsein kaum größer sein: am Sorbischen Gymnasium in Bautzen, wo die Minderheit in der Mehrheit ist. Zwei Drittel der 353 Schüler gehören der slawischen Volksgruppe an. Ganze Stockwerke sind in Blau oder Rot gehalten, den Farben der sorbischen Flagge. Die Schüler tragen Jeans und T-Shirt; wer Sorbe ist und wer nicht, lässt sich weder an der Kleidung noch an den Gesichtern ablesen. Aber wenn sie sich auf den Fluren unterhalten, versteht der deutsche Besucher meist kein Wort ­ außer vielleicht "Laptop" oder "iPod", Bezeichnungen, die auch sorbische Jugendliche nicht übersetzen.

Rektorin Theresia Schön verabschiedet die Achtklässler auf Sorbisch und spricht mit dem Besucher wieder deutsch. Ihre Schüler aus nichtsorbischen Familien, erzählt sie, hätten das Sorbische meist schon durch zweisprachige Angebote in Kindergärten oder Grundschulen gelernt. "Witaj", zu Deutsch "Willkommen", nenne sich ein von Sorben initiiertes Projekt in sächsischen Kindertagesstätten, bei denen deutsche Kinder das Sorbische wie eine zweite Muttersprache aufnehmen sollen. Angenommen werde das Angebot von Eltern, die ihren Kindern die besten Voraussetzungen für die Grenzregion und das moderne Europa mitgeben möchten. "Ich selbst habe beispielsweise nie Tschechisch, Polnisch oder Slowenisch gelernt, kann es als Sorbin aber gut verstehen. Hier Sorbisch und eventuell noch zwei weitere slawische Sprachen zu beherrschen bietet bei der Jobsuche enorme Vorteile."

Die Schüler am Sorbischen Gymnasium switchen permanent zwischen zwei Sprachen hin und her. In Geschichte, Geografie und Gemeinschaftskunde findet der Unterricht bis zur zehnten Klasse ausschließlich auf Sorbisch statt, bei anderen Fächern wie Mathematik entscheiden die Mehrheitsverhältnisse in der Klasse über die Unterrichtssprache, Physik haben die Schüler immer auf Deutsch. "Sorbisch ist eine umschreibende Sprache und deshalb für die Naturwissenschaften nicht so geeignet wie das Deutsche", erläutert Theresia Schön, die immer wieder erstaunt ist, wie flexibel und belastbar ihre Schüler sind. "Sie werden doppelt gefordert, aber gerade das fördert offensichtlich das Lernverhalten. Jedenfalls liegen wir bei Vergleichen der Abi-Durchschnittsnoten sächsischer Gymnasien immer im ersten Drittel." Der 58-Jährigen geht es in ihrer Arbeit aber um mehr als um Leistung, die sich in Zahlen messen lässt: "Was die Schüler bei uns natürlich auch lernen, ist das Einfühlen in die Nachbarkultur."

Geografie auf Sorbisch

In Bautzen gehört das Nebeneinander von Deutschen und Sorben seit Jahrhunderten zum Alltag ­ für viele Auswärtige ist das Thema Sorben ein Fall für Wikipedia. Dabei ist mit Stanislaw Tillich sogar ein Sorbe sächsischer Ministerpräsident. Und die Erzählung "Krabat" von Otfried Preußler beruht auf einer sorbischen Volkssage.

Die Sorben, auch Wenden genannt, zählen zusammen mit den Dänen, den Friesen und den Sinti und Roma zu den vier angestammten ethnischen Minderheiten in Deutschland. Heimat der etwa 60000 in Deutschland lebenden Sorben ist die Lausitz: 40000 leben in der sächsischen Oberlausitz, sie sprechen Obersorbisch, das dem Tschechischen ähnelt; 20000 leben in der zu Brandenburg gehörenden Niederlausitz, sie sprechen Niedersorbisch, das mit dem Polnischen verwandt ist.

Ihre Geschichte geht zurück ins sechste Jahrhundert, die Zeit der Völkerwanderung. Damals hatten etwa 20 sorbische Stämme ihre Urheimat nördlich der Karpaten verlassen und waren nach Westen gezogen. Das Gebiet, auf dem sie sich niederließen, um Landwirtschaft zu betreiben, reichte im Westen bis zur Saale und im Norden bis an das heutige Berlin; im Süden wurde es von Erz- und Fichtelgebirge begrenzt, im Osten von den Flüssen Oder, Bober und Queis. Durch gezielte Germanisierung, Assimilation und den Zustrom von Nichtslawen verkleinerte sich das 40000 Quadratkilometer große Verbreitungsgebiet auf ein Zehntel.

Immer wieder hatten die Sorben Diskriminierung und Unterdrückung zu erleiden, ob durch die Preußen oder die Nazis. In der Lausitz gelang es ihnen, ihre Sprache, Bräuche und Trachtenvielfalt bis heute am Leben zu erhalten. Der bekannteste Ritus ist das Osterreiten, bei dem die Männer in Gehrock und Zylinder zu Pferde in die Nachbargemeinde ziehen, um die frohe Botschaft der Auferstehung zu verkünden ­ ein Spektakel, das Tausende von Zuschauern anzieht. Für sorbische Kinder dagegen ist die Vogelhochzeit der Höhepunkt des Jahres. Am Vorabend des 25. Januars stellen sie einen Teller auf das Fensterbrett, auf dem am nächsten Morgen Gebäck liegt ­ der Dank der Vögel für das Füttern im Winter. Als Braut und Bräutigam verkleidet oder im Vogelkostüm begehen die Kleinen anschließend in Kita oder Grundschule die Vermählung von Elster und Rabe.

Anders als in umliegenden Dörfern wie Crostwitz oder Ralbitz, in denen fast ausschließlich Sorben wohnen, beträgt in Bautzen der Anteil der Sorben an der Gesamtbevölkerung nur noch etwa zehn Prozent ­ 4000 bis 5000 von 40000 Einwohnern. Und doch ist Budysin nach wie vor das politische und kulturelle Zentrum des Sorbischen. Überall zweisprachige Straßenschilder und Wegweiser, ob für öffentliche Toiletten oder den Fahrstuhl. Souvenir-Läden, in denen kunstvoll bemalte, "original sorbische Ostereier" ganzjährig Touristen anlocken. Weiterhin: ein sorbisches Museum, ein deutsch-sorbisches Theater, sorbisches Radio, sorbische Chöre, Zeitungen, Restaurants. Vor allem aber: das Haus der Sorben. Im Serbski dom, einem mächtigen Fünfziger-Jahre-Bau am Postplatz, hat der Bund Lausitzer Sorben seinen Sitz, die Domowina. Unter ihrem Dach haben sich fünf Regionalverbände und zwölf Vereine mit insgesamt mehr als 7000 Mitgliedern zusammengeschlos-sen, vom Bund sorbischer Gesangsvereine über den Sorbischen Künstlerbund bis zur Sorbischen wissenschaftlichen Gesellschaft Ma'cica Serbska.

Osterreiten und Vogelhochzeit

Der Domowina-Vorsitzende Jan Nuck empfängt den Besucher in einem Raum mit schweren Vorhängen und wuchtigen Möbeln. Für eine Stunde hat sich der Getränkehändler von seinem Betrieb losgeeist. Mit am Tisch sitzt Domowina-Geschäftsführer Bernhard Ziesch, ein Endfünfziger mit Rauschebart und der tiefen Stimme eines Märchenerzählers. Fragt man Nuck, was gut läuft bei seiner Arbeit als Interessenvertreter und was nicht, muss er nicht lange überlegen. "Sehr gut läuft es im kulturellen Bereich. Wir haben bei den Tanz- und Musikgruppen so viele Aktive und eine solche Vielfalt, dass wir manchmal kaum wissen, wo wir die ganzen Zuschauer hernehmen sollen. Es gibt bei uns weit mehr Kulturgruppen als bei den Deutschen."

Nicht zufrieden sei er dagegen mit der Politik. Ständig müsse er darauf pochen, dass die gesetzlich festgeschriebene Zweisprachigkeit im öffentlichen Leben eingehalten werde. Im 14 Kilometer entfernten Neschwitz zum Beispiel, wo am Rathaus noch immer nur "Rathaus" stehe und nicht auch "Radnica". Und wo der Bürgermeister bei den jüngsten Kommunalwahlen rein deutsche Wahlbenachrichtigungskarten rausgeschickt habe, nur weil die zweisprachige Variante als Aussendung mehr Porto gekos-tet hätte. So etwas ärgere ihn, sagt der 62-Jährige, und man spürt, dass dies keine aufgesetzte Lobbyisten-Empörung ist, sondern sich hier einer jeden Tag aufs Neue aufregen kann.

Sorbisches Selbstbewusstsein

Der Einwand, die Sorben seien doch auch deutsche Staatsbürger und des Deutschen mächtig, also nicht auf sorbische Beschriftungen angewiesen ­ trifft nicht einen, sondern den wunden Punkt. "Das hören wir immer", sagt Bernhard Ziesch. "Beherrscht eine Minderheit die Mehrheitssprache, wird sie angehalten, diese auch zu benutzen ­ und die Muttersprache verliert an Bedeutung." Das Sorbische Institut, eine außeruniversitäre Forschungseinrichtung, habe kürzlich eine Umfrage unter Deutschen gemacht, erzählt er: "Da wurden zwei Fragen gestellt. Erstens: Haben Sie etwas gegen die sorbische Sprache? 80 Prozent sagten Nein. Zweitens: Haben Sie etwas dagegen, wenn ein Sorbe die sorbische Sprache in Ihrer Anwesenheit benutzt? 80 Prozent sagten Ja. Das heißt: Keiner hat etwas dagegen, dass die Sorben ihre Sprache in der Familie, im Verein oder in der Kirche verwenden, aber bitte nicht vor mir. Die reden da was, das ich nicht verstehe, und das erzeugt Antipathie." Wie es anders gehe, zeige das Beispiel Südtirol. "Da werden Sie im öffentlichen Dienst gar nicht erst eingestellt, wenn Sie nicht zweisprachig sind." Ziesch würde den Spieß gern umdrehen: "Wenn jeder Mitbürger in der Lausitz das Sorbische beherrschen würde, gäbe es dieses Problem nicht."

Auf Bautzens wichtigster Bühne ist das Ideal längst Realität. "Nur knapp die Hälfte meines Ensembles ist sorbisch, aber alle müssen auf Sorbisch spielen können", sagt Lutz Hillmann, Intendant des Deutsch-Sorbischen Volkstheaters. Jede sorbische Aufführung wird per Simultandolmetscher übersetzt, Deutsche können sie über Kopfhörer verfolgen. "Gerade für Mischehen ist das wichtig, sonst würden die Partner ja nur selten gemeinsam ins Theater gehen", sagt Hillmann.

"Natürlich ist das Zusammenleben zweier Kulturen nicht immer unproblematisch", weiß der 49-Jährige, "aber wir versuchen, aus den Unterschieden heraus produktiv zu werden und im Kleinen zu probieren, was auch im Großen funktionieren könnte."

Hillmann erzählt von einem Stück, das im Frühjahr Premiere hatte und für viel Diskussion sorgte: "Im Schatten der Kerze". Darin geht es um einen Sorben, der sich gegen seine Jugendliebe Julia entscheidet, weil sie eine Deutsche ist. Stattdessen heiratet er die Sorbin Lucija, mit der er den Hof der Eltern bewirtschaftet und die seinen Glauben und seine Bräuche teilt. Dann hat er einen schlimmen Verkehrsunfall, die am Unfallort eintreffende Ärztin ist ausgerechnet Julia ­ und sein Lebensfilm läuft noch einmal vor ihm ab. "Das ist ein permanentes Thema bei den Sorben: Die Eltern halten an der Tradition fest, wünschen sich eine sorbische Hochzeit, ein Leben in der Heimat. Aber die Medienwelt, die Flexibilität ­ das macht natürlich auch vor den Sorben nicht halt." Hillmann hält das Theaterstück für exemplarisch: "Wie stehe ich zu Traditionen? Was wollen meine Eltern von mir? Füge ich mich ein, oder nabele ich mich ab? Diese Probleme hat doch jeder junge Mensch."

Wir sitzen oben in den Gemäuern der Ortenburg, neben dem großen Haus in der Seminarstraße die zweite Spielstätte des Theaters. Schon erstaunlich, was diese Regionalbühne alles bietet: Freilufttheater, Puppenspiel, sorbische Lese-nächte für Kinder. Yasmina Rezas "Gott des Gemetzels" und Juli Zehs "Corpus Delicti" genauso wie sorbische Schwänke und die schrillen Floppy Dolls, die auf Niedersorbisch Schlager und Country parodieren.

Man gebe pro Jahr etwa tausend Vorstellungen, im vergangenen Jahr kamen mehr als 145000 Besucher. "Normalerweise liegen die Zuschauerzahlen nicht höher als die Einwohnerzahl der Stadt, in der sich das Theater befindet." Grundlage für diesen Erfolg ist die laut Hillmann "glücklichste Fusion, die ich kenne". Bis 1963 gab es in Bautzen ein rein deutsches Stadttheater. Und die Sorben hatten ein Tourneetheater ohne feste Bühne. "Beide Seiten haben von der Zusammenlegung enorm profitiert. Das Stadttheater wäre sonst wohl einer der Schließungswellen in der DDR zum Opfer gefallen. Und die Sorben bekamen eine feste Spielstätte." Das Tingeln durch die Provinz wurde trotzdem beibehalten. "Im Herbst fahren wir auf die obersorbischen, im Frühjahr auf die niedersorbischen Dörfer."

6,7 Millionen Euro betrug der Gesamtetat des Theaters im vergangenen Jahr, davon 1,3 Millionen für den sorbischen Teil. Das Geld kommt von der Stiftung für das sorbische Volk. Sie speist sich aus Zuwendungen vom Bund und der Länder Sachsen und Brandenburg. Für Lutz Hillmann steht fest: "Das Sorbische würde sich alleine nicht tragen, das Deutsche ebenfalls nicht ­ es ist für beide Seiten ein Gewinn." Er verhehlt aber nicht, dass man in seiner Position immer von zwei Seiten skeptisch beäugt werde: "So viel Geld für die Sorben?", argwöhnen die einen. "Gibt er das sorbische Geld auch für unsere Sache aus?", fragen die anderen. Tatsächlich investiert Hillmann es auch in den Nachwuchs. In dem zum Haus gehörenden Schauspielstudio bekommen junge sorbische Talente Gelegenheit, eine Spielzeit lang Theaterluft zu schnuppern. "Wir müssen schließlich dafür sorgen, dass das sorbische Theater eine Zukunft hat."

Hillmann selbst hat keine sorbischen Wurzeln. Aber er spricht mit viel Res-pekt, ja Zuneigung von der anderen Kultur. "Sehen Sie, die Sorben haben diese Gegend mal urbevölkert, sie haben kein eigenes Mutterland, sind ganz auf sich gestellt. Dass hier große kulturelle Vielfalt herrscht, Toleranz und Liberalismus, hat auch mit ihnen zu tun." Und das Konservative? Brauchtum, Trachten ­ kann ein moderner Theatermacher damit etwas anfangen? Man dürfe nicht vergessen, sagt Hillmann, dass beim protestantischen Teil der Sorben die Sprache fast verloren gegangen sei. Der katholische Konservatismus war es, der das Sorbische am Leben gehalten habe. Und das mit den Trachten werde mit solch einer Ernsthaftigkeit betrieben, dass es schon wieder sympathisch sei: "Eine Haltung wie bei den Bayern, die ihre Trachten modefähig machen, werden Sie hier nirgendwo finden. Wenn auch nur ein Schleifchen nicht an der vorgeschriebenen Stelle sitzt, ist die ganze Tracht wertlos."

In den Dörfern der Oberlausitz, so ergab eine Studie, tragen noch mehr als 200 ältere Frauen täglich ihre Tracht. In Bautzen ist das anders. Wer nicht gerade während des großen Folklorefestivals Ende Juni zu Gast ist, wird selbst in der malerischen Altstadt wohl keine Trachtenträgerin zu Gesicht bekommen. Es sei denn, man kehrt im Restaurant "Wjelbik" ein, wo die Gäste in einem 600 Jahre alten Gewölbe mit Brot und Salz begrüßt werden und sie die typische Hochzeitssuppe oder gefüllte Rinderroulade probieren können ­ serviert von Frauen mit strengem Mittelscheitel, Röcken, die bis zu den Knöcheln reichen und einem schwarzen Kopfband, das als langer Schwanz den Rücken herabhängt und auf Halshöhe so in die Breite geht, dass es absteht wie die übergroßen Ohren einer Fledermaus. Wirt Stefan Mahling weiß, dass die Leute nicht nur wegen des guten Essens kommen, sondern weil seine Kultur für manchen Düsseldorfer Touristen etwa so exotisch ist wie Papua-Neuguinea. Allein von den Einheimischen, klingt an, könne der Laden nicht existieren.

Wer die ganze Trachtenwelt der Sorben kennenlernen will, muss entweder ins Museum gehen ­ oder zu Monika Ziesch. Die Frau des Domowina-Geschäftsführers vereint Tradition und Moderne: Als Vorsitzende des Bundes sorbischer Handwerker und Unternehmer coacht sie ihre Mitglieder in Steuer- und Erbrechtsfragen, hilft bei Messeauftritten oder ermuntert die vielen sorbischen Kleinbetriebe, sich bei Großaufträgen zusammenzuschließen; gleichzeitig betreibt sie im 250-Seelen-Ort Rosenthal einen Trachtenverleih.

Wer standesgemäß zur Hochzeit oder zur Fronleichnamsprozession will, wird hier fündig. Der neugierige Laie erfährt ein fachkundige Beratung. Da ist zum Beispiel die Tracht aus der Niederlausitz. "An der Form der Haube und wie sie gesteckt ist, erkennt man sofort, aus welchem Ort sie stammt", erklärt Monika Ziesch. "Das war für die Männer, wenn sie eine Frau suchten, natürlich wichtig: Wohnt die um die Ecke, oder muss ich mit dem Kahn erst durch den Spreewald?" Oder die Brautjungferntracht, hier aus der Oberlausitz, die "druzka". "Bei Ledigen wird das Mieder geschnürt, bei Verheirateten geknöpft. Außerdem tragen Ehefrauen weiße Schläfenspitzen und eine Kinnschleife." Das schwarze Samtband mit den Goldverzierungen ist die "borta", der Kopfputz für die Braut. "Den darf sie nur tragen, wenn sie noch ehrbar ist. Er wird später eingerahmt und ist oft der einzige Schmuck in der Stube."

Ob das wirklich alles noch so praktiziert wird, möchte man wissen, und ob junge Sorbinnen von heute tatsächlich anstreben, jungfräulich in die Ehe zu gehen. "Nun ja", antwortet Frau Ziesch zögerlich, "wenn eine Frau bereits Kinder hat oder schwanger ist, kann sie die borta jedenfalls nicht tragen." Sie lächelt ­ aber da sie das fast immer tut, kann man es nicht deuten ­ und will das Thema abschließen. Nur so viel ist ihr noch zu entlocken: "Die Regeln hat die Kirche gemacht, nicht wir, aber wir akzeptieren sie."

Und jetzt? Hat man sie nach all den Gesprächen, Beobachtungen und Begegnungen auch nur ansatzweise erfasst, die sorbische Seele? Sicher ist: So wenig die Sorben ihre Kultur kommerzialisieren, so wenig machen sie den Versuch, ein anderes Bild von sich zu geben als das von Brauchtum, Tradition und Folklore. Vielleicht sucht und findet der Sorbe darin Identität, weil ihn sonst kaum noch etwas von der Mehrheit unterscheidet. Selbst ein absoluter Sorbenkenner wie der Bautzener Historiker Manfred Thiemann muss passen bei der Frage, was die Sorben darüber hinaus eigentlich ausmacht. "Sie gehören schlicht und einfach hierher, sind bodenständig und wollen ihre Kultur und Sprache pflegen ­ nicht mehr und nicht weniger."